Читать книгу Blutige Nordlichter - Julia Susanne Yovanna Brühl - Страница 8
ОглавлениеGlück und Unglück
Erik erwacht mit einem widerlichen, bitteren Geschmack im Mund. Als er die Augen aufschlägt, sieht er zunächst nur verschwommen. Ein abartiger Geruch steigt ihm in die Nase. Es ist der säuerliche Geruch nach Erbrochenem. Mühsam dreht er sich auf die Seite und wischt sich das Gesicht mit dem Ärmel seines Flanellhemdes ab. Angewidert blickt er auf den Zipfel seines Ärmels, der voller Kotze ist. Rasch wischt er ihn im Moos ab und muss sich dabei sehr bemühen, angesichts der ekelhaften Lache, in der er gelegen hatte, nicht auch noch den Rest seine Mageninhaltes zu entleeren. Allzu viel dürfte zwar nicht mehr darin sein, wenn er ... nein, so genau will er nicht hinsehen.
Stöhnend richtet er sich auf und blickt sich um. Irgendwo müsste es hier doch einen Bach oder zumindest eine Pfütze geben, in der er sein Gesicht und seine Hände waschen kann. Den Mund auszuspülen wäre auch angebracht.
Er zieht sein Hemd aus, wickelt es mit spitzen Fingern zusammen und befestigt es, sodass der beschmutzte Teil innen ist, an einem Außenriemen seines Rucksacks. Dann schultert er diesen und begibt sich noch leicht benommenen Schrittes in Richtung der Hütte, die von Anfang an sein Ziel gewesen ist. Die Schönheit der Natur lässt ihn mit einem Mal völlig kalt. Er verflucht den trockenen Riegel, der ihm beinahe den Erstickungstod gebracht hat und wünscht sich nichts sehnlicher, als schnellstmöglich diesen abscheulichen Geschmack auf der Zunge und den dazugehörigen Geruch los zu werden.
Mit leicht tapsigen Schritten marschiert der sonst so trittsichere Norweger mit dem markant geschnittenen, momentan recht blassem Gesicht, weiter.
Seine kurz geschnittenen, weißblonden Haare, sind an den Schläfen so hell, dass der Betrachter nicht sicher sein kann, ob sie noch blond oder bereits als erste Anzeichen seines fortgeschrittenen Alters weiß geworden sind. Würde man ihn fragen, so gäbe er die ehrliche Antwort, dass er schon immer so ausgesehen hat. Ein Spiegelbild seines Bruders Roal, der nur zwei Minuten jünger ist als er selbst.
Erleichtert atmet er auf, als er in einem kleinen Birkenhain die urige Blockhütte entdeckt.
Ein paar Meter davor fließt ein fröhlich plätschernder Bach vorbei. Dankbar taucht er seine Hände hinein. Wieder und wieder spült er den Mund aus, kann sich gar nicht oft genug mit den nassen Händen über das Gesicht und die Unterarme wischen. Als er endlich das Gefühl hat, wieder sauber zu sein, zieht er vorsichtig sein Hemd aus der Verschnürung und wäscht auch dieses gründlich im eiskalten Wasser. Mit knackenden Knien erhebt er sich von dem Bächlein und setzt seinen Weg fort. Er fühlt sich jetzt schon viel besser.
Zufrieden damit, alles gereinigt zu haben, verfliegt auch sein Ärger darüber, dass er sich so übel verschluckt hat und er freut sich einfach darüber, noch einmal glimpflich davon gekommen zu sein. Das wäre ja etwas gewesen, durch einen Müsliriegel den Tod zu finden! Bei diesem Gedanken schleicht sich ein schiefes Grinsen auf sein schmales, bärtiges Gesicht. Da hat er wieder etwas zu erzählen, wenn er in zwei Tagen zurück bei seinem Bruder ist, mit dem er zusammen in einer bescheidenen Wohnung in Trondheim lebt.
Sein Bruder wäre nur allzu gerne mitgekommen, doch leider ließ seine Arbeit die paar Tage in einer der schönsten Gegenden Norwegens nicht zu. Doch Erik ist mitunter gerne allein. So hat er Zeit, über sich und sein Leben nachzudenken und kann die Natur in ihrer ganzen Schönheit in sich aufnehmen.
Er umrundet einen großen Felsen und hängt sein triefend nasses Karohemd im Vorbeigehen über den Wipfel einer krummen Birke.
Die letzten Schritte zur Hütte sind getan und er freut sich bereits darauf, sich innen seines Rucksacks zu entledigen und sich mit einer Tasse heißen Kaffees hinter das Holzhäuschen in die Sonne zu setzen.
In Gedanken hat er bereits die nassgeschwitzten Schuhe und Socken auf die Stufen vor der Hütte (in respektablem Abstand zu seiner Nase) geworfen und die nackten Füße auf das Geländer der Terrasse gelegt.
Fahrig nestelt er den Schlüssel aus der Deckeltasche seines zwölf Kilogramm schweren Rucksacks und steckt ihn in das Schloss.
Als er ihn herumdrehen will, schwingt die Tür wie von Zauberhand ohne sein Zutun auf. Verwundert darüber, dass nicht wie gewohnt abgesperrt ist, tritt er ein. „Hallo, ist da wer?“, ruft er in den dunklen Vorraum, wo er, wohlerzogen wie er ist, seine Stiefel ausziehen will, um keinen Dreck hinein zu tragen. Er lässt seinen Rucksack in den Vorraum vor die kleine Garderobe plumpsen und streckt seinen Rücken, der es ihm mit einem knirschenden Geräusch dankt.
Es ist nicht allzu ungewöhnlich, dass bereits jemand in der DNT - Hütte* ist. Zwar verirren sich andere Wanderer eher selten in diese entlegene Gegend– zumal unter der Woche außerhalb der Ferienzeiten – aber es kommt vor.
Erik ist zwar ein wenig enttäuscht, dass er die kleine Hütte wohl oder übel mit jemandem teilen muss, doch damit muss man eben rechnen.
Außerdem können wohl nur Gleichgesinnte auf dieselben Ideen wie er kommen und vielleicht ergibt sich bei dieser Gelegenheit ja auch eine nette neue Bekanntschaft? Mit etwas Glück sogar eine weibliche? Über diesen Gedanken lächelnd, bückt er sich hinunter, um seine Bergstiefel aufzuschnüren.
Da spürt er plötzlich einen höllischen Schmerz am Hinterkopf und ehe er weiß, wie ihm geschieht, wird ihm schon zum zweiten Mal an diesem unglücklichen Tag schwarz vor Augen.
Bewusstlos sackt er über seinem Rucksack zusammen.
*Der DNT ist eine ähnliche Einrichtung wie der Deutsche Alpenverein und unterhält für Mitglieder diverse Hütten, die in den mehr oder weniger entlegenen Gegenden der Fjells verteilt stehen. Mit einem Standartschlüssel, den jedes DNT - Mitglied erhält, ist es ihm möglich, eine oder mehrere Nächte in einer solchen Unterkunft zu verbringen. Die Verpflegung muss dabei selbst mitgebracht werden und es ist eine Ehrensache, die Räumlichkeiten genauso sauber wieder zu verlassen, wie sie vorgefunden wurden.
Auch die eine oder andere Kleinigkeit, wie ein wenig Essen oder einem Päckchen Zucker, die der Wanderer erübrigen kann, wird deponiert, damit der nächste davon Gebrauch machen kann. Dafür darf man sich auch an den Dingen bedienen, die der Vorgänger zurückgelassen hat.
Ein einzigartiges System, das auf gegenseitigem Respekt und Vertrauen beruht.