Читать книгу Wörter an den Wänden - Julia Walton - Страница 10
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ОглавлениеDosierung: 1,5 mg. Unverändert. Adam wirkt offener, was seine Krankheit angeht. Feindselige Haltung gegenüber der Therapie. Weigert sich weiterhin, verbal zu kommunizieren.
26. September 2012
Ihre Bemerkung, mein Tagebuch sei »zu ichbewusst«, um authentisch zu sein, ist kompletter Bullshit. Genau so bin ich. Sie sind nur sauer, weil ich nicht mit Ihnen rede.
Es ist ehrlich gesagt ziemlich ätzend, vom eigenen Therapeuten ausgefragt zu werden. Wenn Sie mich fragen, was ich über Schizophrenie weiß, dann ist das genauso, als würde ich Sie fragen, was Sie darüber wissen, sich wie ein arroganter Snob anzuziehen. Ich weiß etwas darüber, weil ich es lebe.
Hier sind die Fakten, die Sie natürlich längst kennen. Ich sage sie Ihnen aber trotzdem, weil ich clever wirken will und mich verzweifelt nach Ihrer Anerkennung sehne. Ganz offensichtlich.
»Schizophrenie« ist ein griechisches Wort, das sich wörtlich übersetzt aus schizein (spalten) und phren (Seele) zusammensetzt. Aber es bedeutet nicht gespaltene Persönlichkeit. Und auch nicht multiple Persönlichkeit. »Gespalten« bezieht sich auf eine Kluft zwischen bestimmten kognitiven Funktionen.
Kurz gesagt, ein Füllhorn voller Scheiße. Aber das wissen Sie ja schon.
Unheilbar. Wird nie wieder normal. Erfordert ständige Wachsamkeit.
Anmerkung: Ihre Jacke ist saublöd. Sie sollten keine Karos tragen. Außerdem finde ich Ihre Frisur beschissen. Benutzen Sie Schaumfestiger für Ihre Fönwelle? Lassen Sie es lieber. Und in unserer letzten Sitzung war der Reißverschluss Ihrer Hose die ganze Zeit offen. Ich habe nichts gesagt, weil ich 1. nicht wollte, dass Sie denken, ich starre auf Ihren Schritt, und 2. nicht mit Ihnen rede und es sehr schwierig gewesen wäre, diese Situation pantomimisch darzustellen.
Hier ist etwas, das Sie noch nicht wussten. Mein Großonkel Greg hatte dasselbe wie ich. Er war der Bruder meiner Großmutter und ich erinnere mich noch sehr gut daran, dass meine Oma immer so tat, als wäre er ganz normal. Wenn sie über ihn sprach, dann klang es, als sei er ein ganz normaler Mann mit ein paar Problemen. Ich habe kein einziges Mal gehört, dass jemand das Wort »Schizophrenie« im Zusammenhang mit ihm erwähnt hat. Ich glaube nicht unbedingt, dass das hilfreich war, aber es herrschten andere Zeiten und damals hatten die Leute weniger Verständnis für Krankheiten, die einen nicht umbrachten. Außerdem hat meine Mom gesagt, dass bei Onkel Greg nie etwas diagnostiziert wurde. Hätte er keine Familie gehabt, wäre er vermutlich unter irgendeiner Brücke gestorben.
Ich mochte ihn. Er sprach sehr leise und sanft, beschwerte sich nie und war ein durch und durch gutartiger Mensch. Einer, der Geldscheine in Bücher aus der Bibliothek steckt, wenn er sie zurückgibt, und im Supermarkt alle anderen vorlässt. Außerdem war er der beste Pianist, den ich je getroffen habe. Er hatte sich das Instrument selbst beigebracht und konnte fast alles nach Gehör spielen.
Da er die meiste Zeit seines Lebens bei meiner Großmutter wohnte und kaum regelmäßige Ausgaben hatte, brachte er Kindern, die sich keinen Musikunterricht leisten konnten, Klavierspielen bei. Manchmal bezahlten sie ihn mit Gemüse aus ihrem Garten. Manchmal backten ihre Mütter ihm Kekse. Einmal kam er mit einem Schal nach Hause, den ihm eine Schülerin gestrickt hatte. Er trug ihn einen Monat lang jeden Tag. Im Juli.
Was ich damit sagen will: Wenn sie lernen wollten, wie man Klavier spielt, dann brachte er es ihnen bei.
Ich wünschte, ich hätte damals auch gewollt.
Er starb ungefähr zu der Zeit, als mein Dad uns verließ, aber ich werde nie vergessen, was er zu mir sagte, als er versuchte, mir das Spielen beizubringen. Er hatte zufällig gehört, wie meine Mom meiner Oma erzählte, dass ich in der Schule wegen irgendeiner Kleinigkeit gehänselt worden war. Das war lange bevor irgendjemand wusste, dass mit mir etwas nicht stimmte.
»Die meisten Leute haben Angst vor sich selbst, Adam. Diese Angst nehmen sie überall mit hin und hoffen, dass es niemandem auffällt.«
Bevor ich ihn fragen konnte, was das bitte schön mit meiner Situation zu tun haben sollte, lachte er los. Er hatte ein dröhnendes Lachen, das zu unpassenden Momenten wie eine explodierende Fanfare ertönte. Meine Mom sagte, als Baby sei ich davon begeistert gewesen.
Obwohl man seine Krankheit nie diagnostiziert hat, weiß ich, dass er genauso war wie ich. Der einzige Unterschied ist, dass er ein wirklich gütiger Mensch war. Es ist egal, wie verrückt jemand ist, einem aufrichtig netten Menschen verzeihen die Leute alles.
Sie haben mich mal gefragt, wovor ich Angst habe. Damals antwortete ich nicht, weil ich keine Lust dazu hatte. Wenn ich es ausspreche, höre ich mich an wie ein Weichei. Aber es ist spät und ich kann nicht schlafen. Und das Gefühl, das sich in meine Gedanken schleicht, wenn ich nicht schlafen kann, ist wieder hier.
Ihnen ist inzwischen wahrscheinlich aufgefallen, dass ich mich so ziemlich gegen alles verteidigen kann, was nachts in mein Zimmer torkeln könnte. Trotzdem habe ich die Hände zu Fäusten geballt und scanne hektisch den Boden, weil ich unbedingt wissen will, woher das Kratzgeräusch unter den Dielenbrettern kommt. Ein Teil von mir glaubt nämlich immer noch, dass die Dinge, die ich sehe und höre, real sind. Dass etwas hinter mir her ist.
Ich erinnere mich an eine Geschichte, die ich mal gelesen habe. Es ging um einen Mann in einem Zug, der davon überzeugt war, dass seine Mitreisenden ihn umbringen wollten. Er hatte sich eingeredet, sie könnten seine Gedanken lesen, wollten ihn am nächsten Bahnhof aus dem Zug zerren und zu Tode prügeln.
Er schloss sich mehr als eine Stunde lang im Klo ein.
Als der Zug endlich am nächsten Bahnhof ankam, rannte er schreiend aus seinem Abteil, hechtete in Richtung Bahnsteig, rutschte ab und schlug sich an der vereisten Kante den Schädel ein.
Er war siebenunddreißig. Ziemlich jung, um zu sterben.
Die meisten Geschichten, zumindest diejenigen, die ich in der Schule gelesen habe, ähneln sich darin, dass Züge beinahe immer etwas bedeuten. Entweder Abenteuer oder Tod.
In einer Ecke meines Zimmers sehe ich einen schattenhaften Mann stehen. Er trägt eine schwarze Melone und hat einen Gehstock mit gekrümmtem Griff bei sich. Alle paar Minuten blickt er auf seine Uhr und schaut mich dann an.
»Es ist beinahe an der Zeit«, sagt er immer wieder halblaut. »Du musst rennen. Der Zug kommt.«
»Was ist an der Zeit?«, will ich ihn fragen.
Doch er lächelt und sagt nichts. Das muss er auch nicht.
Aber obwohl er gruselig ist und ich will, dass er verschwindet, ist nicht er es, vor dem ich Angst habe.
Ich fürchte mich vor dem Zustand von damals, als ich ihn noch für real gehalten habe.
Ich habe Angst, dass ich eines Tages die Halluzinationsparade nicht mehr anschauen kann, ohne zu tun, was sie mir befiehlt. Weil das Medikament nicht mehr wirkt. Davor habe ich Angst. Und davor, dass meine Mitmenschen dann auch aus gutem Grund Angst vor mir haben könnten.