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Dosierung: 1,5 mg. Unverändert. Keine Veränderung im Verhalten.

3. Oktober 2012

Der nackte Mann besucht mich gelegentlich. Er ist wahrscheinlich meine schrägste Wahnvorstellung. Größer als ich. Und splitterfasernackt. Freilufttheater. Ich habe ihn Jason getauft. Ohne besonderen Anlass, er sieht einfach aus wie ein Jason.

Eigentlich ist er ziemlich nett. Er erinnert mich daran, anderen die Tür aufzuhalten. Mich zu bedanken. So was eben. Aber eine tiefere Beziehung haben wir nicht. Jason ist einfach eine riesige, nackte Gestalt, die durch die Flure meiner Schule spaziert. Sogar für eine Halluzination ist das ziemlich verrückt.

Ich darf mich eigentlich nicht mehr verrückt nennen. Das stand in einem der Bücher, die meine Mom nach meiner Diagnose gekauft hat. Bücher, in denen steht, dass man sein Freak-Kind lieben soll, egal, wie viele unsichtbare Freunde es hat.

Der nackte Jason und ich saßen also vor meinem Kursraum, als Ian und ein anderer Typ an uns vorbeiliefen. Sie trugen einen Eimer mit der Aufschrift ABFALL aus dem Biolabor. Offensichtlich waren sie gerade dabei, die klumpigen Überreste zu entsorgen, die sie nicht in den Ausguss gießen konnten, und ich schaute erst auf, als sie schon fast an mir vorbei waren. Bevor ich registrierte, was sie vorhatten, kippten sie mir schon ein Drittel des Schlonzes auf den Schoß und rannten wie Vollidioten davon. Was in dem Eimer geblieben war, schwappte größtenteils auf den Boden. Ihr Lachen dröhnte noch immer in meinen Ohren. Sie hatten mir diesen Scheiß absichtlich auf die Hose gekippt. Sogar Jason, der netteste Typ, den ich kenne, der für jeden ein gutes Wort übrighat, sagte nur: »Das war echt mies, Alter«, bevor er verschwand.

Ich schaffte es nicht, mich im Waschraum zu säubern, also ging ich zur Krankenstation. Die Schulschwester schaute mich an, als hätte ich mit Absicht in Formaldehyd und Froschgedärm gebadet. Dann gab sie mir ein paar Reserveshorts, die mir zwar an der Taille passten, aber fast zehn Zentimeter zu kurz waren. Eine Frau mit langen schwarzen Locken verbiss sich das Lachen, als ich aus dem Waschraum kam.

»Sorry«, sagte sie, immer noch feixend. »Längere haben wir nicht.«

»Super.«

»Sind ja nur noch zwei Stunden. Mach dir keine Sorgen.«

Wie schön, dass Leute einem immer nur sagen, man soll sich keine Sorgen machen, wenn es um etwas geht, das ihnen egal ist. Die Ersatzshorts hatten es nicht ganz geschafft, den immer noch aus meinen Boxershorts aufsteigenden Laborduft zu überdecken, und da meine Unterhose ohnehin klatschnass geworden war, nutzte ich beim Umziehen die Gelegenheit, sie in den Müll zu werfen.

Ich musste vor dem Sportunterricht noch eine Stunde Englisch absitzen. Dwight hatte mich zur Krankenstation gehen sehen, also erzählte ich ihm, was passiert war. Er referierte während der ganzen Stunde fortlaufend darüber, was für ein Arsch Ian sei, und das wusste ich sehr zu schätzen. Trotz der Tatsache, dass ich jedes Mal, wenn ich eine falsche Bewegung machte, ein feuchtes Schmatzen zwischen meinen Pobacken hörte.

Unten ohne im Unterricht zu sitzen ist schräg.

Unten ohne am Sportunterricht teilzunehmen ist extrem unangenehm.

Der Netzeinsatz meiner Laufshorts half nicht viel und ich spürte, wie der Gummizug meine Eier wund scheuerte. Ian und der andere Typ von vorher (ich glaube, er heißt Zane? Oder Blane? Irgendein ätzender Name) drehten sich ein paarmal während der Stunde zu mir um und machten Gesichter, die geradezu darum bettelten, in den Boden gestampft zu werden. Von der Tribüne aus schüttelte Rebecca warnend den Kopf.

Nach dem Sport ging ich mit Maya zurück zu den Umkleideräumen. Dwight war zur Kirche gerannt, weil er ein Messdienertreffen hatte, also waren wir tatsächlich allein, was, seit ich ihr das Leben gerettet hatte, nur sehr selten vorgekommen war. Sie schnüffelte ein paar Sekunden lang neugierig, sagte aber nichts. Der ursprünglich schwache Chemiegeruch war inzwischen zu einem schwachen Chemiegeruch mit einem Hauch Hodenschweiß geworden.

»Ich glaube, Ian ist neidisch, weil du größer bist als er.«

»Was?«, fragte ich. Ihre Bemerkung war völlig aus dem Nichts gekommen.

»Du bist groß. Er ist Durchschnitt und seine Brüder sind alle richtig groß. Ich glaube, er hat es auf dich abgesehen, weil er neidisch ist.«

»Was ist das denn für ein Grund? Nur, weil ich groß bin?«

»Na ja, außerdem siehst du besser aus als er.«

»Oh«, machte ich.

»Bis später.«

Sie bog um eine Ecke, bevor mir eine clevere Erwiderung einfiel, und deshalb kam ich mir den Rest des Tages vor wie ein Trottel. Oh.

Ich hatte »Oh« gesagt?!

Beinahe alles andere wäre besser gewesen. Zum Beispiel Danke.

Oh.

Meine Dummheit hat geradezu epische Ausmaße angenommen.

Ich weiß immer noch nicht, was ich hätte sagen sollen.

Ich soll meine Krankheit nicht als eine Last begreifen. Man hat mir gesagt, es sei besser, wenn ich sie als einen Teil von mir betrachte, der Kommunikationsschwierigkeiten mit dem Rest von mir hat. Aber das ist Bullshit.

Das Wichtigste am Verrücktsein ist, zu wissen, dass man verrückt ist. Dieses Wissen macht einen nämlich weniger verrückt.

Ich frage mich, ob Sie schon mal einen Patienten hatten, der sich geweigert hat, mit Ihnen zu reden. So leicht haben Sie Ihr Geld bestimmt noch nie verdient. Sie müssen nur meine Aufzeichnungen lesen, eine Zeit lang süffisant nicken und versuchen, mich in ein Gespräch zu verwickeln.

Haben Sie Schuldgefühle, weil Sie psychisch Kranken Geld abknöpfen? Oder genauer gesagt, ihren Familien. Den Leuten, die darauf vertrauen, dass Sie ihren Lieben helfen können. Kein großer Unterschied zu Leuten, die ihr ganzes Geld an Wahrsager verschwenden, die ihnen nur das sagen, was sie hören wollen.

Trotzdem kann ich Ihnen nicht vorwerfen, dass Sie sich für diesen Beruf entschieden haben. Geistig kranke Menschen sind faszinierend. Als ich zehn war, nahmen Paul und meine Mom mich mit nach San Francisco, eine Stadt voller Obdachloser, wie ich bald herausfand. Also eine ganze Menge Irre.

Es ist schwierig, wegzusehen, wenn einer seine fünf Minuten hat. Ein Typ im Park hatte es geschafft, Seifenblasen aus seinem Speichel und ein bisschen Seife zu fabrizieren. Er saß auf dem Deckel einer Mülltonne, blies allen Passanten Spuckeblasen ins Gesicht und unterhielt sich angeregt mit jemandem, den außer ihm niemand sehen konnte.

Ich weiß noch, dass ich damals gelacht habe und meine Mom mich so böse anschaute wie noch nie zuvor. Ich glaube nicht, dass ich heute auch noch lachen würde. Obwohl, vielleicht doch. Dieser Scheiß ist immer noch ziemlich lustig.

Ich verschwende keine Zeit darauf, Mitleid mit geisteskranken Menschen zu haben, weil ich auch nicht will, dass jemand seine Zeit darauf verschwendet, mich zu bemitleiden. Ich brauche kein Mitleid – es nützt nämlich niemandem etwas. Wir sehen die Welt anders als die anderen und leben nach unseren eigenen Regeln. Und das ist es, wovor alle Angst haben. Vielleicht sind sie ja neidisch. Aber wahrscheinlich nicht.

Deshalb lese ich gerne Geschichten über Heilige. In St. Agatha sind eine Menge Bücher verboten (zum Beispiel die Harry-Potter-Bände, weil die angeblich Kinder dazu verführen, an das Okkulte zu glauben), aber Heiligenbiografien gibt es reihenweise. Und die sind ehrlich gesagt viel schockierender. Es ist schön, über Leute zu lesen, die vollkommen durchgeknallt waren und damit durchgekommen sind.

Wissen Sie, wer wirklich verrückt war? Aber dabei extrem cool?

Jeanne d’Arc, die Jungfrau von Orléans.

Sie hatte Visionen, in denen der Erzengel Michael, die heilige Katharina und die heilige Margareta ihr befahlen, Karl VII. zu unterstützen und während des Hundertjährigen Krieges Frankreich von der Herrschaft der Briten zu befreien. Sie hörte Stimmen und führte in der Belagerung von Orléans tatsächlich eine Armee an. Damals waren die Leute so empfänglich für religiöse Wunder, dass sie ein Mädchen im Teenageralter an die Spitze einer politischen Bewegung setzten, weil sie von Gottes Geist durchdrungen war. Sie war eine strahlende Vision, kraftvoll und trotzig.

Und deshalb landete sie natürlich auf dem Scheiterhaufen.

Gestern bekam ich eine Nachricht von Maya mit Informationen über das erste Treffen des akademischen Teams. Ich antwortete ihr natürlich.

Ich: Danke. Muss ich vor dem ersten Training irgendetwas wissen?

Maya: Alles. Allgemeinbildung. Alte Filme. Hauptstädte. Literaturklassiker.

Ich: Was für Filme?

Maya: Zum Beispiel Vom Winde verweht. Der Zauberer von Oz. Casablanca. Sie stehen auf Schwarz-Weiß-Schinken.

Ich: Cool. Casablanca habe ich gesehen.

Maya: Gratuliere.

Ich: ☺*

*Anmerkung: Ein Smiley ist immer dann die richtige Antwort, wenn einem sonst nichts einfällt. Fast immer.

Wörter an den Wänden

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