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ОглавлениеDosierung: 1 mg. Reaktion auf erhöhte Dosis bisher schwach. Adam ist sich seiner Umgebung bewusst. Im Moment scheinen die Halluzinationen nicht überwältigend zu sein. Werde seine Verbundenheit mit ihnen weiter beobachten.
5. September 2012
Es ist wahrscheinlich egal, dass ich nicht an Gott glaube. Katholiken geht es sowieso mehr um Anwesenheit. Jeden Tag um elf Uhr läuten die Kirchturmglocken und alle müssen aufstehen, um das Gebet des heiligen Augustinus zu rezitieren. Im dröhnenden, gefühllosen Chor. Gemeinsam.
Daran werde ich mich wohl nie gewöhnen.
In der Broschüre an unserem Kühlschrank steht, dass St. Agatha die älteste Privatschule des Bundesstaates ist und nach einer Frau benannt wurde, die angeblich »das amouröse Drängen eines Mannes abwies, worauf ihr zur Strafe beide Brüste abgeschnitten wurden«. Oder so ähnlich. Katholiken feiern ziemlich krassen Scheiß.
Die Kirche selbst taucht wegen ihrer eindrucksvollen Backsteinfassade und dem ursprünglichen vierstöckigen Glockenturm häufig im Architectural Digest auf. Außerdem wurden – warum mich das davon überzeugen sollte, diese Schule zu wählen, ist mir schleierhaft – die Bleiglasfenster Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts aus Italien eingeflogen und von Papst Leo XIII. höchstpersönlich kurz vor dessen Tod gesegnet.
Mom und Paul hatten die Wahl zwischen mehreren Privatschulen in der Gegend. Die andere Option war eine reine Jungenschule etwa zwanzig Autominuten entfernt, aber die fand meine Mom zu »testosteronlastig«. Ihre Worte. Als wir von der Besichtigungstour zurückkamen, sagte sie nur, wie schrecklich sie die militaristisch gestalteten Uniformen fand. Paul schwieg achselzuckend. Er hatte von Anfang an gesagt, dass die Entscheidung bei ihr liegen würde.
Wirklich komisch finde ich, dass St. Agatha Pauls Alma Mater ist. Und obwohl ich keinerlei Interesse an Religion habe und meine Mom lieber Heilkristalle kauft, als den Fuß in eine Kirche zu setzen, fühlte sie sich wohler bei dem Gedanken, mich in eine Schule mit schönen, alten Backsteingebäuden zu schicken. Ich wehrte mich nicht dagegen, weil es mir völlig egal ist, wo ich zur Schule gehe. Es ist einfach nur ein Ort.
Aber die Kirche hier sieht im Grunde so aus wie alle anderen alten Kirchen, die man je gesehen hat. Halb nackte Engel. Unbequeme Holzbänke. Und brennender Weihrauch, der riecht wie kochende Schmutzwäsche. Oh, und Scham. Es stinkt nach Scham.
Wo wir gerade von Scham sprechen: Mir ist klar, dass das Bild vom reizvollen katholischen Schulmädchen ein schlimmes Klischee ist, aber Faltenröcke und Pullunder können doch sehr ablenkend wirken. Als ich am Freitag den Flur entlangging, sah ich schon nach wenigen Minuten, wie zwei Nonnen mit Linealen Mädchen zur Seite zogen und maßen, wie viel Bein zwischen Knie und Rocksaum entblößt wurde. Bevor ich hier angefangen hatte, war mir nicht klar gewesen, dass Nonnen so etwas immer noch machen. Es dauerte einen Moment, bis ich merkte, dass ich die Mädchen anstarrte, und noch einen Moment länger, bis ich merkte, dass wir gerade alle zur Messe in die Kirche getrieben wurden. Rebecca folgte mir. Ihr lavendelblaues Kleid leuchtete vor dem Meer aus Marineblau und Rot, das sie umgab.
Sie ist nicht mehr wütend auf mich, weil ich aufgehört habe, mit ihr zu reden. Ich bin mir ziemlich sicher, dass sie echt sauer war, als ich mit dem Medikament anfing, aber inzwischen scheint sie sich damit abgefunden zu haben. Wenn sie echt wäre, würde ich sie darauf hinweisen, dass sie ja schließlich auch nie mit mir spricht, aber das ist ein Streit, den ich nicht wirklich gewinnen kann, wissen Sie? Gelegentlich nicke ich ihr immer noch zu oder verdrehe die Augen, wenn sie etwas macht. Ich will ja schließlich nicht fies zu ihr sein.
Auf meinem Weg in die Kirche spürte ich, wie mir etwas Nasses in den Nacken klatschte. Ein Papierkügelchen mit Spucke. Als ich zusammenzuckte und mich umdrehte, warf mir eine strenge Nonne einen Blick zu, der mir ganz eindeutig einen schmerzhaften Tod an den Hals wünschte. Hinter mir lachte Ian mit ein paar anderen Jungs. Ich drehte mich wieder um und ging weiter, obwohl ich stinksauer war. Spuckekugeln? Ernsthaft? In diesem Augenblick fiel mir ein, dass ich noch nie in meinem Leben jemanden geschlagen habe. Ich glaube, ich würde gern mal jemanden schlagen, der es verdient.
Natürlich nicht willkürlich. Aber einem Arschloch würde ich zu gern mal eine reinhauen. Ausgleichende Gerechtigkeit, wissen Sie?
Zwar war das hier nicht meine erste Kirche und ich habe auch all die Sakramente erhalten, die in meinem Alter Pflicht sind. Auf meiner Katholikenliste sind alle wichtigen Punkte angekreuzt, die ich brauche, um in den Himmel zu kommen. Und zwar deshalb, weil meine Mutter meine Großmutter glücklich machen wollte.
Aber hier war ich noch nie gewesen und in meinem Kopf klingelten leise ein paar Alarmglöckchen. Wir hatten gerade erst meine Dosis erhöht. Erinnern Sie sich? Das steht sicherlich irgendwo in Ihren Notizen. Obwohl Sie so etwas eigentlich auch aus dem Kopf wissen müssten.
Ich sagte niemandem, dass mir schwindelig war. Wem hätte ich es auch erzählen sollen? Der einzige Mensch, mit dem ich in der Schule wirklich redete, war im Moment als Messdiener eingespannt. Ich glaube, die Kirche ist der eine Ort, an dem Dwight mal den Mund hält. Es war komisch, ihn still dasitzen und nicht mit den Leuten neben ihm reden zu sehen. Aber seine Messdienerrobe sah ziemlich dämlich aus, daher konnte ich es ihm nicht wirklich verübeln, wenn er nur stumm darauf wartete, dass der ganze Zirkus vorbei war.
Jedenfalls war gerade mal die erste Schriftlesung vorüber, was laut meiner Kindheitserinnerung an die übliche Dauer katholischer Messen bedeutete, dass der Priester noch dreißig Minuten lang über unsere ungeteilte Aufmerksamkeit verfügte. Oder länger, falls die Predigt so wortreich war, wie das bei einer Messe üblich ist. Also faltete ich die Hände und wartete darauf, dass der Raum aufhörte, sich zu drehen.
Ich versuchte, den Blick auf etwas Unbewegliches zu richten, aber die Kirche war voller unruhiger Kids, die an ihren Uniformen herumzupften. Ich schaute zu den Bleiglasfenstern hinter dem Altar hoch. Sie zeigten die Stationen des Kreuzwegs Jesu.
Als wir die Schule besichtigt hatten, war uns erzählt worden, dass vor Ostern alle oberen Klassen ihre eigene Version des Kreuzwegs darbieten müssten. Ein Schüler würde als Darsteller Jesu Christi ausgewählt und er müsste mit Theaterblut beschmiert ein schweres Sperrholzkreuz durch die Kirche ziehen und alle Stationen seiner Kreuzigung nachspielen.
Das fand offenbar nur ich verstörend.
Das Bleiglas ist allerdings wirklich cool. Feierlich und gleichzeitig gruselig. Es wirkt irgendwie beruhigend, wenn die satten Gold- und Rottöne im Licht funkeln. Sogar das Blut auf Jesu Gesicht kommt mir weniger bedrohlich vor, wenn es aus Glas besteht. Aber nach ein paar Minuten merkte ich, dass etwas nicht stimmte.
Jesu Brust hob und senkte sich. Ich wendete den Blick von ihm ab und zwang mich, die sechste Station zu betrachten. Das ist diejenige, an der eine Frau namens Veronika aus der Menge tritt und Jesus auf seinem Weg in den Tod das Blut und den Schweiß aus dem Gesicht wischt. Es ist meine liebste Station, die einzige, in der es um Güte geht. Aber nach ein paar Sekunden begann auch Veronika zu atmen und ihre bunten Kleider wurden schwarz, als sie mir ihr Gesicht zuwandte. Langsam drehten nun alle Figuren in den Bleiglasfenstern ihre Köpfe und schauten mich an.
Sogar die Engel, in deren glasigen Gesichtern sich das Morgenlicht spiegelte, blickten auf mich herab. Ein seltsamer Wind bewegte ihre Flügel und ich schloss die Augen und senkte den Kopf. Hoffentlich dachten die Kids neben mir, ich würde beten. Alle Engel beobachteten mich aus dem Glas heraus und ich wusste, wenn ich ihren Blick erwiderte, würde ich nie mehr wegsehen können.
In diesem Moment spürte ich Rebeccas Augen auf mir. Ich drehte mich zu ihr um und sie lächelte mir zu. Es war das besorgte Lächeln, das sie immer aufsetzt, wenn sie weiß, dass etwas nicht stimmt, und sie dennoch keine große Sache daraus machen will. Ich wusste, dass all das nicht real war. Verdammt, ich wusste auch, dass sie nicht real war, aber im Moment hatte ich Schwierigkeiten, mich davon zu überzeugen. Ich versuchte einfach, mich von der Kommunionsprozession ablenken zu lassen.
Ich blieb sitzen, als die Kommunion begann. Sie wissen schon, die Show, wo Stücke von Jesu Leib verteilt werden, die aus faden Waffeln bestehen.
Komisch, dass auch heutzutage immer noch Leute überrascht sind, wenn man nicht an der Kommunion teilnimmt. Als ich klein war, erklärte mir meine Mom, das würde normalerweise bedeuten, dass jemand sich für zu sündhaft halte, um Jesus zu empfangen. Aber ehrlich gesagt, selbst wenn mir nicht so komisch gewesen wäre – ich mag die Vorstellung einfach nicht, dass mir ein fremder alter Mann irgendwelches Essen in den Mund stopft. Und mir ein Weinglas mit hundert anderen zu teilen finde ich auch nicht so toll. Gelinde gesagt. Das ist das Ekelhafteste, was ich je gesehen habe. Sie nehmen nach jedem Schluck das Glas in Empfang, wischen es ab, drehen es ein Stück und geben es dann der nächsten Person. Als würde es wie von Zauberhand sauber, wenn man nur wieder und wieder mit demselben weißen Tuch drüberwischt. Das Blut Christi … und der Speichel des Mädchens mit Lippenherpes.
Bald saß Rebecca am Ende des Ganges zwei Reihen vor mir und fuhr sich besorgt mit den Fingern durchs Haar. Ich hätte sie gerne beruhigt, aber dann hätten alle gesehen, dass ich mit der leeren Luft redete.
Trotzdem. Es ist schließlich nicht ihre Schuld, dass sie nicht echt ist.
Stattdessen zog ich die Schultern hoch, holte ein paarmal tief Luft und versuchte, mein Schwindelgefühl zu bezwingen.
»Geht’s dir nicht gut?«, flüsterte das Mädchen neben mir. Es dauerte einen Moment, bis ich registrierte, dass es Maya war, und noch etwas länger, bis ich ihr gesagt hatte, ich hätte nur Kopfschmerzen, was nicht komplett gelogen war. Ich sage das oft zu Leuten.
Und es störte mich, dass ich mich nicht daran erinnern konnte, ob sie die ganze Zeit neben mir gesessen hatte oder gerade erst zu mir gekommen war.
Ohne ein weiteres Wort stand sie auf, ging zum Ende der Reihe und verschwand in Richtung Ausgang. Eine Minute später war sie zurück, eine Flasche Wasser in der Hand. Sie reichte sie mir.
Ich war froh, dass sie mir kein Aspirin gebracht hatte. Wie hätte ich ihr erklären sollen, dass Aspirin sich nicht mit den Pillen verträgt, die ich schon genommen hatte?
Weil ich Halluzinationen habe und Stimmen höre.
»Trink«, sagte sie. »Manchmal hilft das.«
»Danke«, flüsterte ich zurück. »Ich bin Adam.«
»Maya«, erwiderte sie und richtete ihre Aufmerksamkeit wieder auf den Altar. Dwight hatte mir das natürlich schon gesagt, aber ich akzeptierte ihren Namen als neue Information und versuchte, sie aus dem Augenwinkel anzustarren. Dwight hatte mir auch gesagt, dass ihr Nachname Salvador lautete, und ich bin ziemlich sicher, dass sie eine Filipina ist. Ihr kurzes braunes Haar berührte leicht die Schultern und war mit perfekten Strichen aus ihrem Gesicht gebürstet. Ich war schwer beeindruckt davon, dass sie es geschafft hatte, unsere Reihe zu verlassen und wieder zurückzukommen, ohne den Zorn der Nonne zu erregen, die am Gang saß. Nonnen bestrafen normalerweise jede Störung während der Messe, aber Maya hatte sich so schnell und entschlossen bewegt, dass sie offenbar keine Einwände erheben konnten. Schwester Catherine nickte ihr sogar zu.
Damit wäre ich niemals durchgekommen.
Maya lauschte aufmerksam den Worten des Priesters. Ich sah die Konzentration in ihrem Blick, aber gelegentlich spürte ich auch, dass ihre Augen zu mir wanderten.
Es dauerte eine Weile, bis ich begriff, dass sie sich vergewissern wollte, ob mit mir alles in Ordnung war.
Ich tat so, als wäre mir das nicht wichtig.
In meiner alten Schule hatte ich Freunde gehabt. Wir waren gemeinsam aufgewachsen. Mit dem Fahrrad gefahren. Heimlich abends aus dem Haus geschlichen. Aber als sie die Wahrheit über mich herausfanden, bekamen sie Angst vor mir, genau wie Paul. Nach dem Zwischenfall in der Schule und meinem seltsamen Verhalten riefen sie nie wieder bei mir an.
Kevin, Michael und ich kannten uns, seit wir fünf waren. Wir waren in derselben T-Ball-Mannschaft gewesen. Als ich die Schule verlassen musste, hatten sie mir Gute-Besserung-Postkarten geschickt. Wenigstens etwas, auch wenn ihre Mütter sie wahrscheinlich dazu gezwungen hatten. Aber besucht haben sie mich danach nie. Mein bester Freund Todd verschwand einfach aus meinem Leben.
Gute Besserung.
Als könnte man den Wahnsinn einfach wegschlafen.
Aber ich wusste, dass sie Angst hatten, und das verstehe ich auch. Ich bin also nicht wütend auf sie oder so.
Ich spürte einen Stupser an meinem Arm und schaute nach unten. Maya starrte mich an.
»Mir geht’s gut«, sagte ich leise. Sie betrachtete mich prüfend und drehte sich dann wieder weg. Offensichtlich glaubte sie mir nicht.
Die Engel in den Bleiglasfenstern beobachteten mich immer noch, aber ich achtete nicht mehr auf sie.
Rebecca hüpfte auf dem Weg aus der Kirche vor mir her und warf Maya ein Lächeln zu.
Nach der Messe gingen alle dreihundert Schüler über den Rasen zurück in den Unterricht. Ich hatte Religionstheorie bei Schwester Catherine, das einzige Fach, das ich nicht mit Dwight habe. Aber mit Maya. Schwester Catherine ist die jüngste Lehrerin der Schule und definitiv die strengste Braut Christi, die mir je begegnet ist. Sie würde wahrscheinlich gern mit dem Lineal auf uns eindreschen, wenn sie nur dürfte. Wenn sie wütend ist, runzelt sie so heftig die Stirn, dass ihre weißblonden Augenbrauen beinahe verschwinden.
»Heute will ich herausfinden, wie aufmerksam ihr eure Hausaufgaben gemacht habt«, sagte sie. Sie hielt ein rotes Gebetsbuch hoch, das wir einen Monat vor Schulbeginn mit der Post bekommen hatten. Alle Gebete darin zu lesen war ein Teil unserer Ferienhausaufgaben gewesen, und Schwester Catherine hatte ein beinahe diabolisches Grinsen aufgesetzt. »Ich möchte, dass ihr den Rosenkranz, das Eucharistiegebet des heiligen Augustinus und das Salve Regina aus dem Gedächtnis aufschreibt.«
Alle stöhnten laut. Es war nicht Teil der Aufgabe gewesen, die Gebete auswendig zu lernen, weshalb Maya wahrscheinlich so verärgert wirkte. Sie presste die Lippen zusammen und rümpfte angewidert ihre Nase. Selbst ein extrem frommer Katholik hatte vermutlich nicht den gesamten Rosenkranz im Kopf, aber hätte sie vorher gewusst, dass diese Aufgabe auf sie wartete, hätte sie das ganze Buch auswendig gelernt. Ich wusste einfach, dass sie so ein Mensch war.
»Ich gebe keine Note dafür«, fügte Schwester Catherine hinzu. »Aber wenn ihr alle Gebete korrekt aufschreibt, müsst ihr das ganze restliche Schuljahr lang keine Religionshausaufgaben mehr machen. Ihr habt eine Stunde.« Ihr Lächeln war gleichzeitig triumphierend und widerwärtig.
Ich bin ehrlich gesagt ziemlich gut darin, mir Sachen zu merken. Dies ist eine der Fähigkeiten, die mir mein kleines Problem nicht genommen hat.
Manchmal haben Menschen mit meiner Krankheit Schwierigkeiten, ihre Gedanken zu ordnen, aber Informationen abzuspeichern war noch nie besonders hart für mich. In den Ferien hatte ich ungefähr eine Stunde gebraucht, um den Inhalt des ganzen Buchs in meine Gehirnwindungen einzugravieren, also dauerte es nicht einmal eine Viertelstunde, den ganzen Kladderadatsch hochzuwürgen und zu Papier zu bringen. Maya schaute mich mit hochgezogener Augenbraue an, als ich die Aufgabe vor allen anderen beendete, doch dann wendete sie sich schnell wieder ihrem eigenen Blatt zu. Wie es aussah, versuchte sie gerade, ein Gebet zu erfinden, das in dem Buch gestanden haben könnte.
Ich stehe eigentlich nicht auf Gebete, aber eine Zeile im Salve Regina hat mir gut gefallen.
Zu dir rufen wir, verbannte Kinder Evas.
Es soll verzweifelt klingen. Verbannte Kinder Evas.
Doch eigentlich klingt es nur jämmerlich. Hast du Ärger mit Dad, rennst du zu deiner Mom.
Zu dir rufen wir.
Am Ende der Stunde gab ich meine Arbeit ab und ging auf den Flur hinaus. Wenigstens musste ich mir den Rest des Jahres keine Sorgen mehr über die Religionshausaufgaben machen. Eine echte Erleichterung. Ich beobachtete, wie Maya sich ihren Weg durch die Menge bahnte. Wie sie es schaffte, dabei niemanden zu berühren, entlockte mir ein Lächeln. Ihr glänzendes braunes Haar erinnerte mich an heiße Schokolade, es schien ihr über die Schultern zu fließen. Ich schaute ihr viel länger nach, als ich eigentlich wollte.
Rebecca saß auf einer Reihe Schließfächer, hatte die Arme um die Knie geschlungen und lächelte vor sich hin. Auf ihrem Gesicht lag eine selbstvergessene Sehnsucht, die mich aus irgendwelchen Gründen ärgerte.
Dwight und ich essen jeden Tag gemeinsam zu Mittag. Keine Ahnung, ob ich das bewusst so entschieden habe, aber ich scheue mich nicht, zuzugeben, dass mir das an ihm am besten gefällt – jemanden zum Mittagessen zu haben. Es ist wirklich unangenehm, allein zu essen oder zu versuchen, im Speisesaal einen Platz zu finden, wenn alle Tische voll sind. Das ist einer der Momente, wo man es nicht persönlich nehmen darf, wenn niemand zur Seite rutscht, um Platz zu machen. Aber das klappt natürlich nicht.
Maya isst immer mit ein paar Mädchen, sie sitzen am hinteren Rand des Saals. Weit weg von den superreichen Kids, die sich in der Mitte breitgemacht haben. Heute schaute sie zu mir rüber und ich wich ihrem Blick schnell aus und tat so, als hätte ich sie nicht ebenfalls angestarrt. Es war wohl nicht sehr überzeugend.
Auf jeden Fall sitzen Dwight und ich nebeneinander. Manchmal rede ich, aber meistens übernimmt er das. Ich weiß jetzt schon mehr über ihn, als ich jemals erwartet hätte. Zum Beispiel, dass er seit der sechsten Klasse Messdiener ist. Und sich seit seinem neunten Lebensjahr vegan ernährt, weil er auf dem Bauernhof seiner Großtante mit ansehen musste, wie ein Huhn geköpft wurde. Er ist ein Kolumbusknappe, seit seine Mutter das Anmeldeformular ausgefüllt und ihn gezwungen hat, mit seinem Opa zu den Treffen zu gehen. Falls Sie es nicht wissen, die Kolumbusritter sind eine katholische Organisation, die aus zerknitterten alten Männern und ihren Söhnen besteht. Sie sammeln Spenden für Wohltätigkeitsorganisationen und manchmal auch politische Kampagnen, die katholische Werte vertreten, zum Beispiel, so viele Kinder zu bekommen wie nur möglich und freitags in der Fastenzeit kein Fleisch zu essen. Ian und viele der anderen Jungs in meinem Jahrgang sind Knappen. Dwight wurde schon sehr jung in die Sache hineingezogen, aber es scheint ihm nichts auszumachen.
Es stört ihn nicht, dass ich schweigsam bin, und das ist schön. Vor allem, wenn ich etwas Schräges sehe und versuche, mich nicht darauf zu konzentrieren.
Wie zum Beispiel heute, als die Mafiosi in Nadelstreifenanzügen auf einmal in der Cafeteria auftauchten. Ich zuckte zusammen, als die Schießerei begann, aber das Medikament hat sich gut bewährt.
»Alles okay?«, fragte Dwight.
»Ja, kein Ding«, sagte ich. »Kopfschmerzen.«
Ich schaute zu, wie der letzte Mafioso tot zu Boden fiel und sich auf dem sauberen Linoleumboden eine dunkelrote Blutlache ausbreitete. Die Gangster hatten sogar Todeszuckungen, um den dramatischen Effekt zu steigern. Ich betrachtete einen Moment lang ihre erstarrten, bleichen Gesichter. Sie sahen aus wie Statisten aus Der Pate. Der Gangsterboss stierte mich durchdringend an, glitt dann aus der Tür und verschwand in einem Meer aus Uniformen.
Ich kenne das gesamte Ensemble meiner Halluzinationsdarsteller gut.
Die Gangster habe ich schon oft gesehen, aber heute bin ich zum ersten Mal ruhig sitzen geblieben, als der Schusswechsel begann.
Fortschritt.