Читать книгу Wege des Himmels - Juna Aveline B. - Страница 10
Dienstag, 30. Oktober 2007
ОглавлениеManchmal habe ich das Gefühl, dass sich die Welt schneller dreht als sonst. Die letzten Tage vergingen so schnell, und mir sind dabei so viele Gedanken durch den Kopf gegangen.
Der Termin am Montag, vor dem ich ein wenig Bedenken hatte, ist größtenteils besser verlaufen, als ich dachte. Als ich ins Behandlungszimmer kam, saß die Patientin bereits auf dem Stuhl. Zur Begrüßung rang sie sich ein gequältes, aber tapferes Lächeln ab, die Angst stand ihr in die Augen geschrieben. Dazu waren ihre Hände wieder eiskalt und sie ließ sie nicht einen Moment entspannt, sondern verknotete sie ineinander wie bereits beim letzten Termin.
„Ich habe heute jemanden, der mich notfalls abholen könnte“, meinte sie auf meine Frage, ob alles gut bei ihr sei. Aber irgendetwas in mir sagte, dass das nicht stimmte.
Unabhängig davon begann ich mit der Behandlung. Während die Betäubung einwirken musste, fragte ich sie, was sie denn beruflich mache.
„Ich schreibe gerade an meiner Abschlussarbeit“ antwortete sie knapp.
„Über welches Thema schreiben Sie denn?“ probierte ich es weiter, mit ihr ins Gespräch zu kommen.
„Ich brauche noch einen genauen Titel, aber über Zielvereinbarungen im Vertrieb.“
„Aha. Und was haben Sie studiert?“
„BWL“ Frau Sommers Antworten schienen immer kürzer zu werden.
„Hier an der FU?“
„Nein. In Ludwigshafen. Ich bin erst im August nach Berlin gezogen wegen der Abschlussarbeit.“
Ich war wirklich überrascht. Zum einen über die knappen Antworten Frau Sommers. Ich wusste nicht, warum sie so kurz angebunden war, vermutete aber, dass ihre Gedanken wohl bei dem waren, was noch folgen sollte. Der Small-Talk lenkt Patienten normalerweise von der Behandlung ab und steuert deren Gedanken in eine andere Richtung. Dadurch wird die Angst – zumindest zeitweise – vergessen oder gemindert. Insbesondere bei Patientinnen funktioniert diese Methode sehr gut. Eine Frage reicht oft aus, und die Patientinnen plappern, wann immer es möglich ist, über dieses Thema weiter, erzählen dieses und jenes und kommen von einem auf das nächste Thema. Mir ist das ganz recht. Ich empfinde es meist als unangenehm, wenn ein längeres Schweigen in den Behandlungspausen entsteht. Inzwischen beherrsche ich deshalb die gängigen Small-Talk-Themen recht gut. Aber bei Frau Sommer gelang es mir nicht, sie in einen Redefluss zu bringen.
Ebenso verwundert war ich darüber, dass sie gerade erst nach Berlin gezogen war, dazu noch aus der Pfalz, einer eher ländlichen Gegend, wie sie meinte. Sie machte nicht den Eindruck, als gehöre sie zu den Menschen, die schnell überall Anschluss finden und sich in einer pulsierenden Stadt wie Berlin wohlfühlen.
Die typischen Berlinerinnen haben ihren eigenen unkonventionellen Kleidungsstil, der aber trotzdem dem hippsten Trend entspricht. Sie sind selbstbewusst, eigenständig und haben ein vorlautes Mundwerk – die typische Berliner Schnauze eben. „Mach ma Platz – ick bin hier!“ Nach außen hin wirken sie oft ein wenig ruppig, selbst Geschäftsfrauen in ihren schicken Designeranzügen haben diese Redeweise oft beibehalten. Sie lieben es, in schicken Clubs und Bars sich selbst zu präsentieren, mit Champagner und Cocktails anzustoßen – „Stößchen“ – und Bekannte zu treffen – Networking, die eigenen Netzwerke pflegen.
In dieses Schema passt Frau Sommer aber gar nicht. Nicht nur wegen der Klamotten. Heute trug sie einen dunkelbraunen, weiten Jeansrock und dazu einen cremefarbenen Rollkragenpullover und schlichte Winterstiefel. Schon trendy – aber zu konventionell; schon selbständig – aber zu leise.
Die Spritzen wirkten schließlich, sodass ich an die eigentliche Arbeit gehen konnte. Zuerst nahm ich mir den Zahn auf der linken Kieferseite vor, dann den auf der rechten. Soweit lief auch alles sehr gut. Ich konnte schnell und konzentriert arbeiten. Schließlich mussten nur noch die Provisorien eingesetzt werden. Dummerweise musste ich an diesem Tag die Vertretung für einen Kollegen übernehmen, der kurzfristig ausgefallen war. So hatte ich nur wenig Zeit für meine Termine, weil im anderen Behandlungszimmer die Patienten des Kollegen warteten, die nicht mehr erreicht werden konnten, um die Termine abzusagen und umzulegen. So stand ich leider etwas unter Zeitdruck und überließ meiner Assistentin zunächst das Einpassen der Provisorien, während ich bereits zu meinem nächsten Patienten ging. Ein Glück, dass der ebenfalls eine örtliche Betäubung bekam, die kurz einwirken musste, so konnte ich nochmals kurz nach Frau Sommer schauen und merkte, dass meine Assistentin mit den Provisorien nicht zurechtkam. Frau Sommer schien inzwischen völlig erschöpft und mit den Nerven am Ende, aber trotzdem war sie in keiner Weise ärgerlich über das Problem meiner Assistentin, obwohl diese bestimmt schon länger als fünf Minuten versuchte, das eine Provisorium einzusetzen. Sie schaute mich nur mit ihren großen, ängstlichen Augen an. Sie sahen so flehend aus als wollten sie mir sagen „Mach, dass ich endlich nach Hause darf. Mach, dass die Provisorien halten.“
Aber irgendwie war es heute tatsächlich wie verhext mit denen – nachdem meine Assistentin doch gerade das erste Provisorium in den Zahn auf der linken Kieferseite fest bekam, brauchte auch ich vier Anläufe bis das nächste Provisorium rechts im Zahn saß. Als wir endlich fertig waren und sie gehen wollte, überkam mich plötzlich ein ganz komisches Gefühl. Irgendetwas in mir sagte „Lass sie nicht so gehen. Unterhalte dich noch wenigstens kurz mit ihr, damit sie sich etwas beruhigt nach diesem nervenaufreibenden Termin.“ Und so fragte ich sie zum Abschied, was sie denn heute noch vorhätte, weil mir in der Eile nichts besseres einfiel. Irgendetwas an ihr berührte mich so tief, dass ich wieder das Gefühl bekam, sie in den Arm nehmen zu wollen, ihr sanft über den Kopf zu streichen und ihr zu sagen, dass alles gut würde. Eigentlich war die Frage als Entschuldigung gemeint, dass gerade ich ihr solche Schmerzen zufügen musste und es dann auch noch Probleme mit den Provisorien gab. Aber die Frage bewirkte wohl genau das Gegenteil. Frau Sommer schaute mich unsicher an und wurde rot.
„Nichts Besonderes mehr. Ich bin froh, wenn ich nachher auf der Couch liege“ sagte sie langsam und konzentriert, damit sie deutlich sprach. Natürlich fiel ihr das Sprechen schwer – ihr gesamter Unterkiefer war betäubt, daran hatte ich in dem Moment, als ich die Frage stellte, nicht mehr gedacht. Wie dumm von mir! Sofort tat es mir leid, die Frage gestellt und sie damit in Verlegenheit gebracht zu haben. Auf einmal war ich froh, dass im Nebenzimmer bereits der nächste Patient wartete, und verabschiedete mich schnell von Frau Sommer, die mit meiner Assistentin noch den Folgetermin festlegte.
Der restliche Arbeitstag verlief ansonsten ganz ruhig.
Gestern Abend war ich mit Alex und Robin noch spontan eine Runde Billard spielen. So ein Männerabend tut manchmal richtig gut. Und er hat mich nachdenklich gestimmt. Nachdem wir über alles Mögliche gesprochen hatten, blieben wir schließlich beim Thema Frauen hängen. Wir diskutierten zuerst über zwei Freundinnen, die am Nebentisch spielten. Die eine war die absolute Durchschnittsfrau. Nicht besonders groß, eine etwas kräftigere Figur, längere, hellbraune Haare, die sie zu einem einfachen Pferdeschwanz zusammengebunden hatte. Sie trug einfache Jeans, ein Sweatshirt und Turnschuhe. Die andere war etwas größer, schlank und durchtrainiert und fiel vor allem wegen ihrer roten Lockenmähne auf. Alex startete natürlich sofort einen Flirtversuch, aber die Rothaarige ließ ihn direkt abblitzen.
„Warum wollen gutaussehende Frauen nie mit mir flirten“ beklagte er sich.
„Weil gutaussehende Frauen nur mit Männern flirten, die noch besser aussehen, als sie selbst“ meinte Robin trocken. „Früher haben die Frauen darauf geachtet, sich gut zu verheiraten, um mit der Ehe ihren gesellschaftlichen Stand zu verbessern und damit sie versorgt waren. Und irgendwie ist das doch nach wie vor so. Heute wollen die Frauen dazu aber nur noch die typischen Unterwäschemodels zum Mann. Auf der anderen Seite, wenn eine Frau mit einem Kerl zusammen wäre, der nur reich ist aber nicht gut ausschaut, hieße es gleich, sie sei doch nur wegen seines Vermögens bei ihm.“
„Warum ist Magdalena dann mit Lukas zusammen?“ fragte Alex mit einem Augenzwinkern.
„Ach Quatsch“ warf ich ein. „Jeder mag doch etwas anderes an einer Frau. Und genauso geht es den Frauen. Nicht jede steht auf den Typ Calvin Klein Model.“
„Du bist zu gutgläubig“ entgegnete mir Robin. „Es gibt genügend Frauen, für die Geld, sozialer Status und das Aussehen des Partners in einer Beziehung wirklich eine entscheidende Rolle spielen. Inzwischen gibt es ja sogar Bücher darüber, wie man sich einen Millionär angelt. Mit Liebe hat das doch nichts mehr zu tun! Und das weißt du selbst.“
„Dann wäre ich ja der absolute Traummann“ grinste Alex. „Ich verdiene gut, fahre einen BMW, habe einen interessanten Job und stamme dazu noch aus einem guten Elternhaus. Und so schlecht sehe ich nun auch wieder nicht aus!“
Da hatte er wohl recht. Neben seiner Pokerspielerei arbeitet Alex inzwischen im Immobilienmaklerbüro seiner Eltern mit, ist ein wenig größer wie ich, hat eine sportliche Figur, und mit seinen dunklen Augen und den dunklen Haaren zieht er viele Blicke auf sich, wenn wir unterwegs sind. Aber genau jene Frauen, für die er sich interessiert, schienen ihn nicht zu beachten. Seit über einem Jahr war er nun allein.
„Du bist irgendwie ein hoffnungsloser Fall“ sprach ich meine Gedanken aus. „Ich weiß auch nicht, was bei dir falsch läuft.“
„Gar nichts läuft schief!“ widersprach mir Robin wieder. „Die Richtige war eben noch nicht dabei. Und sei froh, dass du dich nicht mit all denen abgeben musst, die nicht zu dir passen.“
„Das sagt genau der Richtige“ warf Alex ein. „Du hattest doch früher alle paar Tage eine andere Frau!“
„Leider ja“ gestand er zerknirscht. „Aber das war ganz schön anstrengend.“
„Das glaub ich dir gern!“ zog Alex ihn auf.
„Ich mein das anders“ sagte Robin mit einem Stirnrunzeln. „Es ging nicht um Sex oder so. Ich hatte immer das Gefühl auf der Suche zu sein. Irgendetwas hat mir immer gefehlt. Und jedes Mal, wenn ich eine nette Frau sah, die mir sympathisch war, habe ich gehofft, es bei ihr zu finden. Es lief immer gleich ab. Beim ersten Treffen war ich immer sehr aufgeregt, beim zweiten Treffen begann ich mich meist schon zu langweilen, beim dritten Treffen war ich genervt und beim vierten machte ich Schluss. Erst als ich Miriam kennengelernt habe, ist mir bewusst geworden, dass ich nie verliebt war. Bei all den anderen Frauen war es immer eine Art Taktieren nach dem Muster „findest-du-mich-gut-find-ich-dich-gut“. Das Kribbeln und Herzklopfen, das ich hatte, kam lediglich von der Aufregung, die man immer hat, wenn man etwas Neues entdeckt. Das ist bei weitem keine Verliebtheit. Nach dem ersten und zweiten Treffen habe ich mich noch ganz toll gefühlt, selbstbewusst und stark, weil ich eine so klasse Frau kennengelernt und erobert hatte. Aber wenn ich dann wieder merkte, dass es nicht funktionierte mit uns, war ich umso niedergeschlagener und ernüchterter. Glaubt mir, das war wirklich anstrengend und ich bin nicht gerade stolz darauf.“
„Und was ist bei Miriam nun anders?“ fragte ich neugierig.
„Mit Miriam ist alles so einfach. In ihren Armen habe das Gefühl, angekommen zu sein. Sie taktiert nicht. Sie nimmt mir nichts übel. Sie versteht mich. Manchmal fange ich einen Satz an und weiß nicht, wie ich ihn beenden soll, weil mir keine passenden Worte einfallen. Und dann spricht Miriam genau das aus, was ich gefühlt habe. Und Verliebtsein ist mehr als sich nur toll und großartig fühlen. Jedes Mal, wenn sie mich berührt, durchfährt mich etwas wie ein Stromschlag. Und jedes Mal wenn sie mich anschaut, bleibt die Welt einen Moment stehen.“
„Wow. Das hört sich ja echt filmreif an!“ kommentierte Alex spöttisch.
Was Robin daraufhin erwiderte, weiß ich nicht genau, weil meine Gedanken abschweiften. Fühlte ich bei Marle genauso wie Robin es beschrieb? Natürlich waren wir nicht mehr frisch verliebt, aber an ein Gefühl als ob die Welt stehen blieb, konnte ich mich nicht erinnern. Mit der Zeit, als wir uns besser kennenlernten, merkten wir einfach, wie gut wir miteinander harmonierten. Oft waren wir der gleichen Meinung. Ich glaube, wir haben uns sogar noch nicht mal über einen Film gestritten, welchen wir uns im Kino ansehen wollten.
Vermutlich fühlt sich das Verliebtsein bei jedem anders an. Ich fing doch nicht etwa an, an meiner Beziehung zu Marle zu zweifeln, nur weil mein Kumpel vor lauter Verliebtheit wohl anfing, die Realität aus den Augen zu verlieren?
„Hey! Da träumt wohl schon der nächste von seiner Frau!“ riss mich Alex unsanft aus meinen Gedanken, wofür ich ihm aber auch dankbar war.
Den Rest des Abends verbrachten wir mit weniger tiefgreifenden Themen, wobei mir Robins Worte immer noch im Kopf blieben. Und auch jetzt fange ich wieder an darüber nachzudenken. Aber irgendwie mischt sich in meine Gedanken über Marle und mich gerade die Erinnerung an Frau Sommer. Wahrscheinlich denke ich gerade zu viel nach. Ich muss sowieso gleich los zum Training, das wird mich bestimmt ablenken.