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Dienstag, 11. Dezember 2007

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Ich liebe die Vorweihnachtszeit, liebe die vielen verführerischen Düfte nach Plätzchen, Stollen, Zimt, Nelken in der Luft, die Lichter am Straßenrand und in den Geschäften, die Weihnachtsbäume. Ich genieße sogar den Trubel in den Geschäften. Am Samstag, als ich Geschenke einkaufen war, habe ich mich einfach eine Zeitlang in eine Ecke des Kaufhauses gestellt und habe die Menschen beobachtet. Sie sind so verschieden. Auf der einen Seite sieht man die Gestressten, die nicht wissen, was sie ihren Liebsten schenken sollen und von Abteilung zu Abteilung hetzen, vielleicht ein Parfum für die Frau oder doch eher Schmuck, vielleicht den Ledergürtel für den Mann oder würde ihm ein neues, schickes Hemd mit Krawatte doch besser gefallen? Und die Kinder nicht zu vergessen. Eine Autorennbahn, eine neue Puppe, Bauklötze oder doch besser das neue Computerspiel oder eine Spielekonsole?

Andererseits gibt es die Entspannten, die genau zu wissen scheinen, was sie ihren Freunden und der Familie schenken werden: Genau das Buch brauche ich bitte, es war doch das Armbändchen, was ihr beim letzten Einkaufsbummel so gut gefallen hat…

Ich bin ein Typ irgendwo in der Mitte. Ich weiß meistens nicht so genau, was ich verschenken soll, aber stressen lasse ich mich deswegen nicht. So bin ich am Samstagmorgen durch das Kaufhaus geschlendert, habe mal hier mal dort geschaut, bis ich schließlich für Magdalena in der Schmuckabteilung fündig wurde: Ein traumhaftes Schmuckset von Swarovski – eine Halskette mit dunkelrot schimmernden Steinen besetzt und die dazu passenden Ohrringe. Die Kette hätte es auch mit blaugrauen Steinen gegeben – aber diese Farbe erinnerte mich plötzlich an die Augen von Frau Sommer. Vor meinem geistigen Auge sah ich auf einmal Frau Sommer, sie hatte mir den Rücken zugewandt und legte sich genau diese Kette an, sie drehte sich um und ich kann nicht sagen, ob ihre Augen oder die Steine der Kette mehr funkelten. Sie sah so atemberaubend aus, dass ich einen Moment lang vergaß zu atmen.

„Kann ich Ihnen behilflich sein?“, fragte die freundliche Stimme einer älteren Verkäuferin.

Ich stand vor dem Schaukasten und zwang mich, mir vorzustellen, wie die dunkelrote Kette und die Ohrringe an Magdalena aussahen, wie sie ihr stehen würden – bestimmt sah sie mindestens ebenso schön aus!

„Ja, das wäre sehr nett!“, wandte ich mich an die Verkäuferin. „Ich hätte gerne die dunkelrote Kette mit den Ohrringen. Das gibt ein Weihnachtsgeschenk für meine Freundin!“

Die Verkäuferin lächelte. „Da wird sie sich bestimmt sehr freuen, Ihre Freundin. Und sie wird traumhaft aussehen, wenn sie den Schmuck trägt! Soll ich es gleich als Geschenk einpacken?“

„Ja, bitte, das wäre super!“ bedankte ich mich bei der höflichen Verkäuferin, die mich irgendwie an meine Oma erinnerte. Aber meine Oma hätte bestimmt gemerkt, dass noch etwas hinter meinen Worten steckte, meine Oma hätte gehört, was ich nicht gesagt hatte. Und ich wünschte mir, sie wäre jetzt hier und wir könnten reden. Was war nur los mit mir, dass mir andauernd diese Frau Sommer in den Sinn kam?

Da entdeckte ich im nächsten Schaukasten eine wunderbare Brosche, die meiner Oma bestimmt gefallen würde – eine Blume, die in verschiedenen Farben leuchtete, und je nachdem von welcher Seite man die Brosche betrachtete, schienen sich die Farben zu verändern. Ich bat die Verkäuferin, mir die Brosche auch noch als Geschenk zu verpacken. Die Brosche passte zu meiner Oma – denn genau wie die Brosche hatte meine Oma auch viele Facetten, die man entdeckte, je nachdem von welcher Seite man sie betrachtete.

Nachdem ich bezahlt hatte, schlenderte ich noch ein wenig durch das Kaufhaus und hing meinen Gedanken nach. Wahrscheinlich war ich einfach etwas überarbeitet im Moment, sodass mir zu viele Gedanken durch den Kopf gingen, ich diese nicht mehr alle verarbeiten konnte. Gut, dass Marle und ich bald Urlaub hatten und wir wegfahren würden, raus aus Berlin. Im Urlaub würde sich alles wieder einrenken, wir würden viel Zeit miteinander verbringen, ich würde Zeit haben, das Geschehene der vergangenen Wochen zu verarbeiten. Und so kam mir das Stichwort Urlaub in den Sinn. Meine Eltern könnten auch mal wieder Urlaub gebrauchen! Ich würde ihnen Urlaub auf Weihnachten schenken!

So führte mich mein nächster Weg direkt ins nächste Reisebüro.

„An welche Reise hätten Sie denn gedacht?“, fragte mich die Verkäuferin im Reisebüro.

„Ein verlängertes Wochenende, zum Ausspannen, Wellness“, kam mir in den Sinn.

„Soll die Reise denn ins Ausland gehen?“ fragte die Verkäuferin weiter.

„Nein, meine Eltern bleiben lieber im deutschsprachigen Raum.“

„Dann habe ich hier drei passende Angebote zu einem sehr guten Preis für Sie: Einmal vier Übernachtungen mit Halbpension in Sankt Martin in der Pfalz, inklusive einer Erlebniswanderung im Pfälzerwald und einem Wellnesstag mit drei verschiedenen Wellnessanwendungen, die Sie vor Ort buchen können. Wenn Ihre Eltern im Frühjahr verreisen möchten, kann ich Ihnen dieses Angebot nur empfehlen, denn in der Mandelblütenzeit ist es wunderschön in der Pfalz!...“

Mehr bekam ich von der ausführlichen Beratung der Verkäuferin nicht mehr mit – die Pfalz, die Heimat von Frau Sommer…

Konnte ich denn nirgends mehr hingehen, ohne irgendwie an Frau Sommer denken zu müssen? Warum erinnerte mich auf einmal alles an sie? Die letzten zwei Termine waren ganz normal verlaufen - gut, das letzte Mal schien sie es irgendwie eilig zu haben, aber ansonsten – sie ist schließlich eine Patientin wie jede andere auch.

Das Angebot des Hotels in Sankt Martin war bestimmt das Beste, aus Protest entschied ich mich jedoch für ein anderes Angebot, für das Angebot eines Hotels auf Usedom, damit würden meine Eltern immerhin auch einiges an Fahrtzeit sparen.

Fehlte nur noch das Geschenk für Raphaela, meine Schwester. Das war wie immer das schwierigste Geschenk. Ich kannte keinen Menschen dieser Erde, dem Geschenke so unwichtig sind, wie meiner Schwester. Sie ist immer diejenige, die sich wohl die meisten Gedanken darum macht, was sie schenkt, aber sie freut sich einfach über alles, was andere ihr schenken, gleich was es ist oder wie teuer es war. Raphaela mag Tiere und ist ebenso musikbegeistert wie ich auch. Und sie ist eine absolute Romantikerin. Ich kann mich erinnern, als sie fünfzehn Jahre alt war – ich war damals gerade 18 – und meine Eltern waren das erste Mal allein einige Tage in Urlaub gefahren. Kaum waren sie einen Tag weg, bekam Raphaela eine Grippe mit Fieber und Übelkeit und allem was dazugehört. So fuhr ich sie zum Arzt und kümmerte mich um sie, machte ihr Suppe und Wadenwickel. Tagsüber schlief sie meist oder las, aber abends wollte sie immer, dass ich zu ihr kam und bei ihr blieb. So kuschelte ich mich zu ihr ins Bett und sie zwang mich, sämtliche Liebesfilme mit ihr zu schauen. Seitdem kenne ich Filme wie Love Story, Pretty Woman oder Dirty Dancing auswendig. Aber meiner kleinen Schwester kann ich eben kaum einen Wunsch abschlagen, erst recht nicht, wenn sie krank ist.

Dirty Dancing! Das ist es! Da gibt es doch inzwischen auch ein Musical!

Ich stoppte, drehte mich um und lief direkt noch einmal zurück ins Reisebüro.

„Ich habe etwas vergessen!“, meinte ich zu der mich neugierig musternden Verkäuferin, die über mein erneutes Auftauchen sichtlich überrascht war.

„Es gibt doch von Dirty Dancing ein Musical?“ stellte ich mit einem fragenden Unterton fest.

„Ja, das läuft zurzeit in Hamburg.“

„Dann hätte ich gerne noch zwei Tickets für Dirty Dancing mit zwei Übernachtungen in einem schönen Hamburger Hotel!“

Dann kann Raphaela Tom, ihren Freund, mitnehmen in Dirty Dancing – er wird wohl gerne mitgehen. Wenn ein Mann seine Frau glücklich machen kann, macht das wohl jeder Mann gerne, der seine Frau liebt. Und außerdem können sie sich Hamburg noch anschauen und müssen nicht gleich am nächsten Tag wieder heimfahren.

Ich ging zurück zu meinem Auto, verstaute die Tüten mit den Geschenken im Kofferraum und machte mich auf den Heimweg. Ich würde mich beeilen müssen, um nach Hause zu kommen bevor Magdalena heim kam. Sie sollte schließlich nicht gleich die Tüten mit den Geschenken entdecken. Immerhin hatte ich nur etwas mehr als zwei Stunden gebraucht, um die vier Geschenke auszusuchen. So schnell wie dieses Jahr war ich selten im Geschenkekaufen.

Ich drehte das Radio lauter und sang gut gelaunt „Last christmas“ von Wham! mit. „Last christmas I gave you my heart but the very next day you gave it away. This year to save me from tears I’ll give it to someone special…” Der Song gehört einfach dazu an Weihnachten!

Der Song war zu Ende und es ging weiter mit Jessie… Jessie… Lara… ich erinnerte mich wieder an diese sanften blaugrauen Augen – was war an ihnen so besonders, dass sie sich mir derart eingeprägt hatten? Erst da merkte ich, dass ich bereits bei Last Christmas an Lara gedacht hatte – es war nicht das Video von Wham, das sich in meinem Kopf abspielte, es war Lara, die im Schnee tobte, Lara, die laut lachend mit dem Schlitten den Abhang hinunter fuhr und es war Lara, die dem Schneemann eine Karotte als Nase ins Gesicht setzte.

Beinahe hätte ich die Ampel übersehen, die gerade auf Rot sprang! Ich trat kräftig auf die Bremse, sodass das Auto gerade so noch stehenblieb. Ich stellte wütend das Radio aus. Den Rest des Heimweges konzentrierte ich mich nur noch auf die Straße und den übrigen Verkehr.

Magdalena war zum Glück noch nicht zuhause als ich heimkam. Sie war mit Freundinnen beim Frisör und anschließend stand ein Besuch bei einer Kosmetikerin an. Vielleicht würden sie danach noch irgendwo einen Kaffee trinken gehen, das konnte sich manchmal länger hinziehen als gedacht.

Kaum hatte ich die Weihnachtsgeschenke in der hintersten Ecke meines Schrankes verstaut, klingelte das Telefon – Marle.

„Hi! Bist du schon zurück vom Weihnachtsshopping?“

„Ja, gerade eben bin ich heimgekommen.“

„Und? Hast du mir auch was Schönes ausgesucht?“ fragte sie schelmisch.

„Wird nicht verraten. Aber ich habe alle Geschenke!“ sagte ich stolz.

„Dann werd ich mich wohl bis Weihnachten gedulden müssen“ stellte sie mit gespielt enttäuschtem Unterton in der Stimme fest.

„Ja Liebling, du wirst dich wohl gedulden müssen!“, stimmte ich ihr zu.

„Okay, damit mir die Zeit bis dahin nicht so lange wird, gehe ich jetzt noch mit meinen Freundinnen etwas essen und Kaffee trinken. Wollte ich dir nur sagen, damit du nicht vergebens auf mich wartest!“

„Ist okay! Dann viel Spaß bei Lästern!“ kommentierte ich amüsiert ihren monatlichen Schönheitstag mit ihren Freundinnen.

Kaum hatte Marle aufgelegt und ich mich auf die Couch geschmissen, klingelte schon wieder das Telefon.

„Hey Luki!“ meinte eine schluchzende Stimme am anderen Ende. Es gab nur einen Menschen auf der Welt, der mich Luki nannte – Raphaela, meine kleine Schwester.

„Hey! Was ist denn los, Kleines? Warum weinst du denn?“ fragte ich entsetzt.

„Rollmops ist krank.“, schluchzte sie. Rollmops war ihr roter Kater, und wie der Name vermuten lässt, ist er gut gebaut – ich darf nicht dick sagen, sonst wird Raphaela wütend.

„Was hat Rollmops denn?“ fragte ich nach. „Ist es arg schlimm?“

„Ich glaub er hat sich ein Bein gebrochen! Er ist vom Schrank gesprungen und dabei hat er den Wäscheständer übersehen, ist halb auf dem Wäscheständer gelandet, der dann zusammen mit ihm hingefallen ist. Und jetzt humpelt er ganz schrecklich! Er kann gar nicht mehr auftreten mit dem rechten Hinterbein!“

„Ohje! Das hört sich ja wirklich schlimm an!“ Aber der Tierarzt würde das Bein bestimmt wieder hinbekommen! „Du musst gleich zum Tierarzt mit ihm! Der kann das bestimmt wieder richten!“

„Deswegen rufe ich an“ Pause – wenn Raphaela auf einmal so ruhig wurde, wollte sie bestimmt etwas von mir.

„Kannst du mich fahren?“ Da war es raus. Ich kenne meine Schwester zu gut. Es amüsierte mich inzwischen richtig, sodass ich ein leises Lachen unterdrücken musste.

„Kannst du nicht selber fahren?“, ich half meiner Schwester ja immer gerne – aber gerade hatte ich mich auf einen gemütlichen Fernseh-Samstagnachmittag gefreut.

„Tom hat mein Auto, weil seines in der Werkstatt ist. Und er ist vor heute Abend nicht zurück!“ Ihre Stimme klang bettelnd.

Okay, darum hatte sie mich gefragt. Sie konnte selbst gar nicht fahren, weil sie ihrem Freund das Auto geliehen hatte. Etwas anderes hätte meiner Schwester auch gar nicht ähnlich gesehen.

„Kein Problem. Ich bin in fünfzehn Minuten bei dir. Bis dahin fang deinen Kater ein, dass wir gleich loskönnen und nicht erst auf Rollmopsjagd gehen müssen!“, sagte ich mit einem Lachen in der Stimme.

„Danke, du bist echt der beste Bruder der ganzen Welt!“, rief sie erleichtert ins Telefon und schon hatte sie den Hörer aufgelegt.

Und so verbrachte ich den Samstagnachmittag im Wartezimmer der Tierklinik, während Rollmops operiert, das Bein geschient wurde und meine Schwester sich langsam wieder beruhigte. Wir unterhielten uns über dies und das, bis Raphaela meinte „Du siehst zurzeit echt nicht gut aus Bruderherz! Bist du überarbeitet?“

„Fängst du auch noch damit an?“, fragte ich sie etwas gereizt. Musste meine Schwester nun auch mit dem gleichen Thema anfangen, wobei sich doch nichts geändert hatte in den letzten Wochen – weder an meiner Arbeitsbelastung noch an meiner Einstellung dazu.

„Wie? Wer denn noch?“, fragte sie verwundert.

„Gerade vor zwei Wochen hatte ich die Diskussion mit Marle!“

„Da hatte sie aber vollkommen recht! Und was hast du ihr gesagt?“

„Dass es momentan eben alles ein bisschen viel ist, Arbeit, Studium, Tischtennis, Vorweihnachtsstress.“

„Und was sagst du mir?“

„Was soll ich dir sagen? Dasselbe?“ fragte ich verunsichert darüber, was sie mit der Frage meinte.

„Bruderherz, der Stress hat dir nie etwas ausgemacht. Im Gegenteil, du wurdest unausstehlich, wenn du zu viel freie Zeit hattest. Erinnerst du dich noch an die Zeit mit deinem Bänderriss? Da warst du unausstehlich.“

„Ja, das war schrecklich, aber vielleicht ändern sich die Zeiten!“, sagte ich zweifelnd, was Raphaela natürlich bemerkte.

„Vielleicht ändern sich die Zeiten? Luki – was ist los?“

„Im Prinzip nichts.“

„Im Prinzip nichts? Muss ich dir jedes Wort aus der Nase ziehen? Komm schon, Luki, du hilfst mir immer, wenn du kannst, gerade hast du mich hierher gefahren und mich getröstet. Jetzt bin ich an der Reihe, dir zu helfen. Also - was ist Nichts?“

„Ich weiß auch nicht… Eine Patientin geht mir nicht mehr aus dem Kopf. Ich will das nicht, aber ich habe das Gefühl, ständig an sie denken zu müssen! Kaum läuft irgendein doofer Song im Radio, muss ich an sie denken. Genauso heute Morgen beim Geschenkekaufen! Ich kenne mich selbst kaum mehr!“ Jetzt war es raus.

„Hast du dich verliebt?“ fragte sie vorsichtig.

„Verliebt? Nein, um Gottes Willen! Ich bin mit Marle zusammen!“, entgegnete ich ihr empört.

„Das hört sich aber ganz danach an, dass du dich verliebt hast.“, meinte sie stirnrunzelnd.

„Aber ich bin mit Marle zusammen, ich verliebe mich nicht, schon gar nicht in eine Patientin!“

„Das ehrt dich, dass du so denkst, aber letztendlich hat das eine mit dem anderen recht wenig zu tun! Als ich Tom kennengelernt habe, war ich ja fast in der gleichen Situation wie du. Gut, ich war damals mit Chris noch nicht so lange zusammen wie du und Marle, aber jeder hat gesagt, dass Chris und ich so ein wunderbares Paar wären und dass er mir so viel bieten könne. Das haben wirklich alle Leute, die mir wichtig waren, immer und immer wieder gesagt, sodass ich es bald selbst geglaubt habe, obwohl ich eigentlich am Anfang gedacht habe, dass bei uns das Kribbeln fehlt, das gewisse Etwas. Und dann hab ich Tom kennengelernt. Und jeder hat gesagt „Was willst du denn mit dem? Chris kann dir doch viel mehr bieten!“ Mir ging es damals wir dir. Tom ging mir nicht mehr aus dem Kopf. Ich hörte einen Song und dachte an Tom, ich sah einen Film und dachte an Tom, ich war shoppen und sah ein schickes Hemd und dachte an Tom. Ich wollte es nicht wahrhaben, weil ich auch dachte, es gehöre sich nicht – schließlich war ich mit Chris zusammen – aber ich entfernte mich innerlich immer mehr von Chris. Und dann machte mir Tom diese süße Liebeserklärung. Ich war zuerst total sauer auf ihn, aber als ich abends im Bett lag, merkte ich, wie dumm ich gewesen war. Ich hatte mich so lange nach jemandem gesehnt, der genau auf meiner Wellenlänge war, hatte mir so lange jemanden gewünscht, bei dem es kribbelte und ich aber gleichzeitig wusste, dass das Kribbeln nicht nur kurzfristig aus Neugier und Aufregung war. Ich merkte, dass es Tom war, nachdem ich mich so lange gesehnt hatte. Und Chris – Chris war nett und attraktiv und toll, aber ich liebte ihn eben nicht.“

„Aber ich liebe Marle“ warf ich ein.

„Warum verliebst du dich dann in eine andere?“

„Ich habe keine Ahnung. Ich weiß noch nicht einmal, ob ich wirklich verliebt bin!“ Meine Schwester brachte mich wirklich ins Grübeln und machte mich sprachlos.

„Ist sie hübsch?“

„Ich weiß nicht,… ja, ich denke schon.“

Meine Schwester grinste. „Und weiter? Erzähl mal von ihr!“

„Was willst du denn wissen?“

„Alles. Alles was dir gerade einfällt.“ Sie schaute mich neugierig an.

„Sie ist noch nicht lange hier in Berlin. Erst im August ist sie hergezogen aus der Pfalz. Sie schreibt gerade an ihrer Abschlussarbeit. Und sie hat auch Katzen.“

„Dann ist sie mir schon sympathisch!“, warf Raphaela ein.

„Sie kennt sich gut mit Musik aus. Neulich lief „Jessie“ von Joshua Kadison, als sie bei mir in Behandlung war. Und sie meinte, dass ihr aber von Joshua Kadison „Beautiful in my eyes“ besser gefiele.“

„Eine Romantikerin – wie ich!“

„Kennst du den Song?“

„Aber klar doch! “We won't say goodbye 'cause true love never dies. You'll always be beautiful in my eyes. And the passing years will show that you will always grow ever more beautiful in my eyes.” Du kennst das nicht? Männer!” Sie schüttelte in gespielter Fassungslosigkeit den Kopf.

Da ging die Tür vom Behandlungszimmer auf und ein Tierarzt kam heraus mit einem schlafenden Rollmops in seinem Transportkörbchen.

„So, das Bein konnten wir gut operieren. Er schläft wieder, war eben aber schon mal wach. Am besten halten sie ihn in den nächsten Tagen in einem einzigen Zimmer, damit er nicht viel laufen kann und springen soll er schon mal gar nicht! Füttern brauchen Sie ihn heute nicht mehr, er wird wahrscheinlich den größten Teil des Abends noch verschlafen…“ gab der Tierarzt meiner Schwester die Anweisungen, wie sie sich um ihren Rollmops kümmern sollte.

Ich kramte den Autoschlüssel aus meiner Hosentasche hervor und warf die zwei Kaffeebecher weg, aus denen wir von dem wässrigen Automatenkaffee getrunken hatten.

Dann machten wir uns auf den Heimweg. Raphaela strahle übers ganze Gesicht, dass sie ihren Rollmops wieder hatte. Als ich schließlich anhielt, um sie aussteigen zu lassen, meinte sie „Danke für alles, Luki. Und werde dir klar über deine Gefühle! Du verletzt Marle, auch wenn du ihr nichts sagst!“ Ohne eine Antwort abzuwarten, schloss sie die Autotür und machte sich mit ihrem Rollmops auf den Weg zu ihrer Haustür, schloss auf und verschwand im Haus ohne sich noch einmal umzudrehen.

Es war später als gedacht, als ich nach Hause kam. Zum Glück hatte Raphaela daran gedacht, Marle gleich nachdem wir losgefahren waren eine SMS zu schicken, dass ich sie mit Rollmops zum Tierarzt fahre und dass es länger dauern könnte, sonst hätte sie sich inzwischen bestimmt Sorgen gemacht, wo ich denn stecken könnte.

So empfing mich Marle zu Hause gut gelaunt, mit etwas kürzeren Haaren, top geschminkt und einer neuen Jeans an. Sie hatte gedacht, dass wir noch tanzen gehen könnten, aber ich war einfach total müde nach diesem anstrengenden Tag. So machten wir uns eben einen gemütlichen Abend auf der Couch. Ich war so erschöpft, dass ich sogar während des Films eingeschlafen bin und gar nicht mehr weiß, welchen Film wir uns überhaupt angeschaut haben.

Den Sonntag haben Marle und ich zum Glück auch langsam angehen lassen. Wir waren morgens als wir wach wurden bestimmt noch eine Stunde im Bett gelegen und haben geredet. Über unsere Beziehung, unsere Wünsche und Träume für die Zukunft – vor allem über Marles Wünsche und Träume für die Zukunft. Natürlich hat Marle andere Wünsche wie ich – sie ist schon länger fertig mit dem Studium wie ich, länger im Job. Ich dagegen habe gerade mit dem Humanmedizinstudium angefangen, was für mich momentan und in nächster Zeit immer an erster Stelle steht. Marle sehnt sich dagegen nach einer eigenen Familie. Sie wollte mich nicht unter Druck setzen, deshalb meinte sie, dass sie sich schon Kinder wünsche, aber wir noch genug Zeit hätten. An ihrer Stimme merkte ich genau, dass sie das nur meinetwegen sagte, dass sie sich eigentlich schon jetzt Kinder wünschte.

Natürlich weiß ich, dass unsere Beziehung nicht einfach ist, vor allem weiß ich, dass Marle es mit mir nicht einfach hat. Ich merke, dass ich ihr momentan nicht alles geben kann, was sie sich wünscht. Ich bin noch nicht so weit, ich will die Verantwortung für eine Familie einfach noch nicht übernehmen so lange ich noch studiere. Und ich könnte auch mehr Zeit mit ihr verbringen, wenn ich das Tischtennisspielen ganz aufgeben würde, aber ich glaube, dann würde ein Teil von mir sterben. Seit ich mich erinnern kann, habe ich immer Tischtennis gespielt, es gehört zu mir, ist ein Teil von mir. Nicht nur das: Wenn ich Tischtennis spiele bin ich einfach ganz bei mir selbst. Alle Gedanken fallen von mir ab. Es hilft mir, Kraft zu tanken. Nach dem Tischtennistraining kann ich mich zum Beispiel wunderbar auf die zu schreibenden Hausarbeiten für mein Studium konzentrieren. Ohne Tischtennis zu spielen wäre ich wahrscheinlich irgendwie nur ein halber Mensch. Irgendetwas würde mir fehlen. Ich weiß nicht, ob Marle das tatsächlich versteht – jedenfalls hat sie mich bisher nie darum gebeten mit dem Tischtennis aufzuhören, um mehr Zeit für sie zu haben. Andererseits will sie die Zeit, die ich mit Tischtennis verbringe auch nicht mit mir teilen. So oft habe ich ihr angeboten zum Training mitzukommen, zu Spielen oder Veranstaltungen vom Verein aus. Jedes Mal hat sie abgelehnt. Inzwischen frage ich nicht mehr.

Aber zum Glück hat Marle es aufgegeben zu schmollen. Am Sonntagmorgen habe ich ihr noch zigmal erklärt, dass wirklich alles in Ordnung mit mir sei, dass alles gut sei und dass ich sie liebe.

Und nachdem wir dann die heiklen Themen über unsere Familienplanung und meine momentane Verfassung beiseite geschoben hatten, widmeten wir uns der Aussicht auf unseren Urlaub, stellten uns vor, wie es sein würde, wie wir tagsüber die sonnigen Skipisten hinunterfahren, abends bei meiner Oma im Wohnzimmer am Kamin sitzen und erzählen würden.

Wir hielten uns noch lange im Arm. Es tat gut zu spüren, dass uns trotz dieser scheinbar kleinen, letztlich aber doch entscheidenden Differenz wegen der Familienplanung so viel verband, dass wir uns wichtig waren, einander liebten.

Wege des Himmels

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