Читать книгу Ego-State-Therapie bei Traumafolgestörungen - Kai Fritzsche - Страница 12

2.1Orientierung mittels der Symptomatik von Traumafolgestörungen

Оглавление

In unseren Praxen, in Kliniken, Beratungsstellen und weiteren Institutionen treffen wir auf Menschen, die sich Hilfe suchend an uns wenden. Sie leiden unter Symptomen. Wir fragen in etwa: Was führt Sie zu mir? Worunter leiden Sie? Was möchten Sie verändern? Unabhängig von der schulenspezifischen Strategie der Fragen an Patienten im Erstkontakt verschaffen wir uns einen Überblick über ihre Beschwerden und Symptome. Die Symptome führen uns bestenfalls zu einem Störungsbild, für das wir fundierte Behandlungsangebote auswählen und anbieten. Das klingt wie ein praktikabler roter Faden: Symptome – Störung – Behandlung. Für einen großen Teil der Patientinnen und Patienten, die unter Traumafolgestörungen leiden, ließe sich dieser rote Faden anwenden. Sie schildern eindeutige Symptome einer Traumafolgestörung. Die Einordnung der Störung und die Erstellung eines Behandlungsplanes können zügig erfolgen und die Therapie erfolgt in der gewünschten Art und Weise.

Die Hauptsymptome der Posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) sind: (1) Intrusionen, (2) Vermeidung/Numbing und (3) Übererregung (Hyperarousal). Zusätzlich (vor allem bei komplexen Traumatisierungen) finden sich: gestörte Affektregulation und Impulskontrolle, depressive Symptome, chronische Suizidalität, schwere Selbstverletzungen, Selbstwahrnehmungsstörungen, Gefühle der Hilflosigkeit, massive Antriebsarmut, Scham, Schuld, Selbstbeschuldigungen, ausgeprägter Ekel und Selbsthass (Hecker u. Maercker 2015, S. 552).

Das Feld ist trotzdem durch eine erheblich höhere Komplexität charakterisiert. Nicht alle Fälle lassen sich so leicht zuordnen, wie es hier erscheinen könnte.

Zum einen ist vielen Patientinnen und Patienten der traumatische Hintergrund ihrer Beschwerden gar nicht klar. Sie zeigen eine große Bandbreite psychischer und somatischer Beschwerden, die nicht unbedingt auf eine Traumafolgestörung hinweisen. Viele dieser Symptome lassen sich letztlich als komorbide Symptome beschreiben. Laut Leitlinienempfehlung 2 der S3-Leitlinie Posttraumatische Belastungsstörung ICD-10: F43.1 soll beachtet werden, dass komorbide Störungen bei der Posttraumatischen Belastungsstörung eher die Regel als die Ausnahme sind (Flatten et al. 2011, S. 203). In diesen Fällen ist die Orientierung anhand der Symptome ziemlich schwierig, die Landschaft scheint vor allem vernebelt, nirgends finden sich Wegweiser und niemand sagt einem, womit man es zu tun hat.

Zum anderen kann eine spezifische Symptomatik derart hervorstechen, dass der Blick für den Hintergrund missglückt. Beispielsweise können Symptome der Depression, Angststörungen, Zwangsstörungen oder Suchterkrankungen den Blick auf einen möglichen traumaassoziierten Hintergrund verbauen. Selbst wenn ein traumatischer Hintergrund auftaucht, bleiben die Fragen offen, ob er als primär anzusehen ist und die weiteren Symptome als sekundäre Störungen oder umgekehrt (Dammann u. Overkamp 2004, S. 13).

Weiterhin besteht die Charakteristik von dissoziativen Störungen als wichtigen Traumafolgestörungen (Flatten et al. 2011, S. 202) gerade darin, eine direkte Verbindung, also den Kontakt zu traumatischem Geschehen zu unterbrechen (Fritzsche 2017, S. 79 ff.; Fritzsche 2018b, 119 ff.). Für die klinische Praxis bedeutet dies, dass wir auf Patientinnen und Patienten treffen, die unter einer Traumafolgestörung leiden, jedoch kein typisches PTBS-Störungsbild aufweisen. Beispielsweise können sie kein traumatisches Ereignis nennen. Sie erinnern nichts dergleichen. Wir können insofern zwei Patientengruppen unterscheiden: die Gruppe mit deutlichen und typischen Symptomen von Traumafolgestörungen (beispielsweise der PTBS) und die Gruppe mit einem eher diffusen, unklaren Symptombild, in dem ein traumatischer Hintergrund vorerst fehlt bzw. nicht vonseiten der Patienten benennbar ist.

Für die zweite Gruppe möchte ich zwei kurze Beispiele schildern. Eine Patientin wandte sich mit dem Anliegen an mich, einen besseren Zugang zu ihren Gefühlen zu erhalten. Sie schilderte eine absolut unproblematische Kindheit und konnte sich ihre Schwierigkeiten nicht erklären. Im Behandlungsverlauf stellte sich eine komplexe dissoziative Störung heraus, die u. a. beinhaltete, dass der bewusste Zugang zu langjährigen sexuellen Traumatisierungen unterbunden blieb. In einem weiteren Fall stand die massive Alkoholsucht eines Patienten im Vordergrund. Mehrere zurückliegende stationäre und ambulante Behandlungsversuche waren gescheitert. Im Behandlungsverlauf wurde die Funktionalität des Alkoholkonsums als bisher einzig wirksame Bewältigungsstrategie im Umgang mit jahrelang anhaltenden Traumafolgen deutlich. Die Beispiele sollen nicht dafür sprechen, dass hinter jeder psychischen und somatischen Störung eine Traumatisierung verborgen liegt. Sie sollen vielmehr dafür sensibilisieren, dass uns viele Patienten mit einem unklaren Symptombild begegnen.

Von welchen typischen Symptomen sprechen wir? Lotzin, Mauer und Köllner erstellten eine Übersicht über die Symptomkriterien der »spezifisch belastungsbezogenen psychischen Störungen« nach ICD-11 mit den Kategorien: Störung nach ICD-11, Stressor, Symptomkriterien nach ICD-11 und Zeitkriterium nach ICD-11 (Lotzin, Mauer u. Köllner 2019, S. 33). Im Folgenden werden die Störungen und Symptomkriterien aufgeführt.

Neben den hier aufgeführten Störungen sind in der S3-Leitlinie Posttraumatische Belastungsstörung ICD-10: F43.1 weitere Traumafolgestörungen sowie weitere Störungen, bei denen traumatische Belastungen maßgeblich mitbedingend sind, aufgeführt (Flatten et al. 2011, S. 202):

•akute Belastungsreaktion (wird im ICD-11 nicht mehr als Diagnosekategorie, d. h. als psychische Erkrankung aufgeführt; Lotzin, Mauer u. Köllner 2019, S. 35)

•andauernde Persönlichkeitsänderung nach Extrembelastung

•dissoziative Störungsbilder

•somatoforme Schmerzstörung

•emotional instabile Persönlichkeitsstörung (Borderline)

•dissoziative Persönlichkeitsstörung

•Essstörungen

•affektive Störungen

•Substanzabhängigkeit

•somatoforme Störungen

•körperliche Erkrankungen

Übersicht über die Symptomkriterien der »spezifisch belastungsbezogenen psychischen Störungen« nach ICD-11
Störung nach ICD-11 Symptomkriterien nach ICD-11
PTBS •Wiedererleben •Vermeidung von Gedanken und Aktivitäten, die an das Ereignis erinnern •anhaltendes Gefühl einer erhöhten aktuellen Bedrohung
Komplexe PTBS •Wiedererleben •Vermeidung von Gedanken und Aktivitäten, die an das Ereignis erinnern •anhaltendes Gefühl einer erhöhten aktuellen Bedrohung •Schwierigkeiten in der Emotionsregulation •negative persönliche Grundüberzeugungen •Schwierigkeiten, Beziehungen aufrechtzuerhalten oder sich anderen nahe zu fühlen
Anhaltende Trauerstörung •intensive Sehnsucht nach dem Verstorbenen •gedankliches Verhaftet-Sein mit dem Verstorbenen oder den Todesumständen, begleitet von tiefem emotionalem Leid
Anpassungsstörung •Beschäftigung mit dem belastenden Ereignis oder seinen Folgen, einschließlich übertriebenes sich Sorgen, wiederkehrende belastende Gedanken an das Ereignis oder Grübeln über seine Auswirkungen •mangelnde Anpassung an die veränderte Lebenssituation
Reaktive Bindungsstörung •keine Zuwendung zur Fürsorgeperson, um Trost, Unterstützung und Fürsorge zu erhalten, selbst wenn eine angemessene Bindungsperson verfügbar ist •kaum Annäherungsverhalten gegenüber Erwachsenen •keine Reaktion, wenn Trost angeboten wird
Beziehungsstörung mit Enthemmung •wahllose Annäherung an Erwachsene •Fehlen von Zurückhaltung •Weggehen mit unbekannten Erwachsenen •übermäßig vertrautes Verhalten gegenüber Fremden

Tab. 1: Übersicht über die Symptomkriterien der »spezifisch belastungsbezogenen psychischen Störungen nach ICD-11« (Auszug aus: Lotzin, Mauer u. Köllner 2019, S. 33)

Insbesondere der Bereich der dissoziativen Störungen kann den Überblick und das Zurechtfinden sehr erschweren, da er beispielsweise das erste PTBS-Kriterium außer Kraft zu setzen vermag. Menschen mit dissoziativen Symptomen können teilweise gerade aufgrund ihrer Symptomatik keine traumatischen Ereignisse nennen. Das sogenannte »Typ-A-Kriterium« bleibt offen. Es wird separiert.

Dissoziation wird definiert als teilweiser oder völliger Verlust der normalen Integration von Erinnerungen an die Vergangenheit, des Identitätsbewusstseins, der unmittelbaren Empfindungen sowie der Kontrolle von Körperbewegungen (ICD-10) bzw. als Störung und/oder Unterbrechung der normalerweise integrativen Funktionen des Bewusstseins, des Gedächtnisses, der Identität, der Gefühle, der Wahrnehmung, der Körperrepräsentation und des Verhaltens (DSM-5) (zit. n. Priebe, Stiglmayr u. Schmahl 2018, S. 488).

Priebe, Stiglmayr u. Schmahl (2018) geben eine Kurzbeschreibung der dissoziativen Störungen (ebd., S. 489), die in Tab. 2 dargestellt wird.

Kurzbeschreibung der dissoziativen Störungen
Störungsform Beschreibung
Dissoziative Amnesie •teilweise oder vollständige Unfähigkeit, sich an vergangene belastende oder traumatische Ereignisse zu erinnern •ausgeprägter und anhaltender als normale Vergesslichkeit
Dissoziative Fugue •Amnesie •zusätzlich: Verlassen des Wohn- oder Arbeitsplatzes
Dissoziativer Stupor •Verringerung oder Fehlen willkürlicher Bewegungen, von Sprache und Reaktionen auf Licht, Geräusche und Berührung •normaler Muskeltonus, aufrechte Haltung und Atmung sind erhalten
Dissoziative Bewegungsstörung •entweder teilweiser oder vollständiger Verlust der Bewegungsfähigkeit oder Koordinationsstörungen
Dissoziative Krampfanfälle •plötzliche krampfartige Bewegungen, die an einen epileptischen Anfall erinnern •selten Zungenbiss, schwere Verletzungen beim Sturz oder Urininkontinenz
Dissoziative Sensibilitäts- und Empfindungsstörungen •entweder teilweiser oder vollständiger Verlust von Hautempfindungen bzw. Seh-, Hör- oder Riechverlust
Dissoziative Identitätsstörungen (DIS) •2 oder mehr unterschiedliche Persönlichkeiten mit eigenem Gedächtnis, Vorlieben, Verhaltensweisen, die zu bestimmten Zeiten Kontrolle über das Verhalten der Person haben •Unfähigkeit, sich an wichtige persönliche Informationen zu erinnern
Depersonalisations-/Derealisationssyndrom •entweder Depersonalisation (Entfremdung gegenüber der eigenen Person) oder Derealisation (Unwirklichkeitsgefühl gegenüber der Umgebung)

Tab. 2: Kurzbeschreibung der dissoziativen Störungen (übernommen aus: Priebe, Stiglmayr u. Schmahl 2018, S. 489)

Zur Verdeutlichung werden im Folgenden eigene Praxisbeispiele angeführt:

Praxisbeispiele für dissoziativen Störungen
Störungsform Beispiel
Dissoziative Amnesie Die 50-jährige Patientin kann sich kaum an Ereignisse aus ihrer Kindheit und Jugend erinnern. Erinnerungen vor ihrem 16. Lebensjahr sind sehr lückenhaft bis nicht vorhanden. Im Verlauf der Behandlung treten einzelne Erinnerungen an traumatische Ereignisse aus dieser Zeit auf (Gewalt, sexueller Missbrauch).
Dissoziative Fugue Die 45-jährige Patientin ruft mich von einem Ort der Stadt an, den sie nicht kenne, und sie wisse nicht, wie sie dorthin gelangt sei. Sie sei in ihrem Auto und kenne weder die Gegend noch den Anlass der Fahrt, noch habe sie eine Idee, wie sie nach Hause gelangen könnte.
Dissoziativer Stupor Die 26-jährige Patientin verfällt mehrmals in Behandlungssitzungen in bewegungslose Zustände, in denen sie nicht mehr ansprechbar ist. Sie reagiert nicht auf meine Stimme, ebenfalls nicht auf meine Bewegungen. Die Zustände stehen in Zusammenhang mit der Nähe, die wir zu traumatischen Ereignissen ihrer Biografie herstellen.
Dissoziative Bewegungsstörung Der 48-jährige Patient wurde aufgrund von Bewegungsstörungen (der unteren Extremitäten) in einer neurologischen Spezialklinik behandelt, ohne dass eine neurologische Verursachung gefunden werden konnte. Mehrere Monate verbrachte er im Rollstuhl, bis er das Gehen langsam wieder lernte. Sein Gangbild war in der Therapie überwiegend unauffällig, änderte sich jedoch deutlich in Sitzungen, in denen das Belastungsniveau anstieg. Solche Sitzungen verließ er humpelnd.
Dissoziative Krampfanfälle Die 23-jährige Patientin berichtete von Krampfanfällen, die sie zu Hause erlebt hatte und die ihr große Angst machten. Im Behandlungsverlauf wird ein Zusammenhang mit traumatischem Stress deutlich. Während einer geplanten Konfrontation mit traumatischem Erinnerungsmaterial tritt ein solcher Krampfanfall in der Praxis auf. Die Anfälle gehen in dem Ausmaß zurück, in dem die Bearbeitung der Traumafolgestörung Fortschritte zeigt.
Dissoziative Sensibilitäts- und Empfindungsstörungen Der 28-jährige Patient beschreibt, wie er im Zusammenhang mit der Auseinandersetzung mit dem traumatischen Verlust, den er erlebte und weshalb er in Behandlung ist, wiederholt in Zustände gerate, in denen er mich nur noch wie aus weiter Ferne wahrnehmen würde, wie durch ein herumgedrehtes Fernrohr. Seine Wahrnehmung würde auf einen minimalen Punkt zusammenschmelzen (stecknadelgroß) und alles andere wäre wie eingefroren.
Dissoziative Identitätsstörungen (DIS) Der 47-jährige Patient beschwert sich über ein neues Tattoo, das sich plötzlich auf seiner Brust befindet. Er könne sich denken, wer dafür verantwortlich sei, und zeigt sich sehr verärgert, dass er keine Möglichkeit hatte, diesen Persönlichkeitsanteil daran zu hindern. Er schäme sich für dieses kindliche Motiv und würde sich so etwas niemals tätowieren lassen (da wüsste er ganz andere Motive, die er mir lieber nicht verraten möchte).
Depersonalisations-/Derealisationssyndrom Die 25-jährige Patientin berichtet davon, wie sie eine stationäre traumatherapeutische Behandlung sozusagen ohne ihr Beisein absolvierte. Die meiste Zeit habe sie jeweils an der Zimmerdecke verbracht. Sie habe die Behandlungen von dort aus beobachtet und sich selbst als fremd erlebt. Die Szenerie sei ihr ebenfalls als fremd und unwirklich vorgekommen. Mit ihr habe das alles offensichtlich nichts zu tun gehabt.

Tab. 3: Praxisbeispiele für dissoziative Störungen

Ego-State-Therapie bei Traumafolgestörungen

Подняться наверх