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ОглавлениеGuantanamera
Kuba 19. Jahrhundert
Ein kulturelles Ferment Kubas
Wörtlich übersetzt heißt »Guantanamera«: die aus Guantánamo Stammende. Guantánamo ist eine im Osten von Kuba gelegene Provinz. In den frühen Überlieferungen heißt der Song meist »Guajira Guantanamera«. Guajira hat zwei Bedeutungen: einerseits ist eine ländliche Lied-Tanzform gemeint, andererseits eine Bäuerin (auch Frau oder weibliche Form). »Guajira Guantanamera« heißt also einfach gesagt: die Bäuerin/die Tanzform aus (der Provinz) Guantánamo. Wann genau die Melodie zu Guantanamera entstanden ist, lässt sich nicht mehr einwandfrei ermitteln. Die kubanische Musikforscherin Maria Argelia Vizcaíno vermutet, dass das musikalische Thema bereits aus dem 19. Jahrhundert stammt. (Alejo Carpentier Valmont, ein kubanisch-französischer Schriftsteller, nimmt an, die spanischen Urwurzeln würden sogar bis ins 15. Jahrhundert zurückreichen.) In Kuba wurde Guantanamera durch den in Havanna geborenen Musiker, Sänger und Entertainer Joseíto Fernández bekannt; mit bürgerlichem Namen hießt er Jose Fernández Díaz und lebte von 1908 bis 1979 auf Kuba. Joseíto Fernández wird sich später auch als Komponist der Melodie ausgeben, aber erst 1985 werden seinen Nachfahren das Urheberrecht und damit die Tantiemen von der SGAE (der spanischen Urheberrechtsgesellschaft) zugesprochen.
Angefangen hatte alles, als Fernández Anfang der 1930er-Jahre täglich den Schluss von Radiosendungen gestaltete. Im kubanischen Rundfunksender CMQ in Havanna, in der »Cronica Roja«, improvisierte Fernández, indem er zum bekannten Guantanamera-Thema im Décima-Stil (ein Muster von 10 Zeilen zu je 8 Silben, in der Aufteilung 4 + 4 + 2) Geschichten von kleinen Leuten dichtete. Fernández: »Meine Décimas enthalten nichts Erfundenes, Ausgedachtes. Darum sage ich auch immer, dass die ›Guajira Guantanamera‹ von Anfang an ein Protestlied gewesen ist. Sie war eigentlich immer Ausdruck von etwas Schmerzlichem. Ich habe Missstände, Ungerechtigkeiten, die Ausbeutung, Armut, Bösartigkeit, den schlechten Charakter bekämpft.« Die Melodie von Guantanamera wurde so zur Improvisationsgrundlage für aktuelle politische Radiomeldungen. In den 1940ern wurde Joseíto Fernández immer bekannter und nahm auch Schallplatten auf. Was unser Lied betrifft, so nimmt Fernández das Stück 1940/41 mit seinem Orchester »Típica« mit eigenem Text auf und nennt es »Guardabarreras« und »Mitte biografia« (dt., meine Biografie).
Im Juni 1963 gibt der Folk-Sänger Pete Seeger in der New Yorker Carnegie-Hall ein Konzert und singt den Song Guantanamera mit spanischem Text. Begeisterung beim Publikum! Als Grundlage für seinen Text diente dem 1919 in New York geborenen Seeger ein Fragment aus den 1895 geschriebenen »Versos Sencillos« des Kubanischen Dichters José Martí: »Ich bin ein ehrlicher Mensch, und komme von dort, wo die Palmen wachsen, und ehe mich der Tod zum Schweigen bringt, möchte ich aus ganzer Seele meine Verse darbieten. Mein Vers ist von hellem Grün und von einem leuchtenden Rot, mein Vers ist ein verwundeter Hirsch, der im Gebirge Schutz sucht. Mit den Armen der Erde will ich mein Los teilen, und der Bach aus den Bergen gefällt mir mehr als das Meer.« Das Konterfei des in Kuba beliebten und hochverehrten Freiheitskämpfers Martí (1853–1895), der in Guantánamo, der ärmsten Provinz Kubas, gegen die spanischen Kolonialherren kämpfte und fiel, kann auf jedem kubanischen Peso-Schein bewundert werden.
Die kubanische Provinz Guantánamo hat durch das Gefangenenlager für Terrorverdächtige der USA seit 2002 leider aktuelle Bedeutung erlangt. Als Kuba 1903 selbständig wurde, mussten die Kubaner das 116 km² große Gebiet an der Bucht von Guantánamo an die USA abtreten, die hier eine Militärbasis errichteten.
Durch das Seeger-Konzert wurde das kubanische Volkslied in dieser Form zu einem Symbol des Widerstands, unter anderem ausgelöst durch die Kubakrise im Oktober 1962, zum politischen Protest-Song der Friedensbewegung während des Vietnamkrieges (1960–1975) und zugleich zum Solidaritäts-Lied mit dem kommunistischen Kuba.
Guantanamera avancierte innerhalb der nächsten Jahre international, hauptsächlich jedoch in der westlichen Welt, zum Hit. Speziell die Version der US-amerikanischen Folk-Gruppe The Sandpipers – James Brady, Michael Piano, Richard Shoft – wird Ende 1966 in vielen Ländern der Welt ein Chart- und Verkaufserfolg; in England und den USA wird sogar eine Top-Ten-Notierung erreicht. Namhafte Interpreten, von Joan Baez und Trini Lopez über Nana Mouskouri (in französischer Sprache – französischer Text von Jean-Michel Rivat) und Julio Iglesias bis hin zu Compay Segundo, dem Grandseigneur des Bueno Vista Social Clubs, hatten die Guantanamera in ihrem Repertoire. Ob in Kneipen und Restaurants oder bei Festen – wer auf Kuba Urlaub macht, der wird Guantanamera in allen nur möglichen Versionen zu hören bekommen, auch heute noch. Der Kampf um die Freiheit endet nie.
Doch wie kamen Melodie und Text in das Ohr von Pete Seeger, der (ungerechterweise?) jahrelang Tantiemen für das Lied kassierte? Beide, die Musikforscherin Argelia und der Interpret Fernández berichten, dass ein gewisser Hector Angúlo, ein Vertrauter von Fidel Castro, das Lied zusammen mit dem Text von José Martí von Kuba nach New York brachte. Argelia zufolge geschah dies 1963 (nach Fernández bereits zehn Jahre früher, was fragwürdig erscheint). Seeger selbst, der sich auch als Komponist der Melodie ausgab, behauptet, er habe 1963 zusammen mit Angúlo den Martí-Text adaptiert. Das erklärt auch, warum als Autorenangabe viele Jahr lang auf Tonträgern beim Titel Guantanamera zu lesen war: Musik: Pete Seeger und Hector Angúlo; Text: José Martí.
Glaubt man Maria Argelia Vizcaíno und Joseíto Fernández, dass es Angúlo war, der von Kuba nach New York kam, so bleibt die Frage, wie Seeger und Angúlo sich trafen? Eine Version berichtet, dass Angúlo nach einem Konzert von Pete Seeger zu diesem kam und ihm im Beisein von Joan Baez das kubanische Lied vorsang. Einer anderen Legende zufolge hörte Seeger, wie Angúlo das Lied Kindern in einem Sommerlager vorspielte. Wie auch immer, es spricht vieles dafür, dass Hector Angúlo es gewesen ist, der das Stück in die Staaten brachte und die »Guajira« aus dem Titel strich.
Doch war Angúlo auch derjenige, der als erster den Martí-Text verwendete? Laut Argelia war Hector Angúlo nur Überbringer einer fertigen Idee: der kubanische Musiker Julián Orbón, ein Lehrer von Angúlo, soll bereits 1958 als Erster den Text von José Martí zur bekannten Guantanamera-Melodie adaptiert haben. Und schon 1961 soll der kubanische Gitarrist Léo Brouwer (der eigentlich kein Sänger ist) die »Guajira Guantanamera« in dieser Version, also mit dem Text von José Martí, gesungen und so bekannt gemacht haben. Könnte das den Umstand erklären, warum einige aus dem Publikum im Juni des Jahres 1963 in der New Yorker Carnegie-Hall mitsangen, als Pete Seeger das zu diesem Zeitpunkt wohl doch nicht ganz unbekannte kubanische Lied vortrug? Wenige Fakten, viel Irritationen!
Egal, ob wir nun Maria Argelia Vizcaíno in ihrer Argumentation folgen, Joseito Fernández oder Pete Seeger. Fakt ist, dass es ein Verdienst von Pete Seeger ist, den Song Guantanamera weit über die Grenzen Kubas hinaus bekanntgemacht zu haben.
Titel – Autoren – Interpreten
Guantanamera
Original-Musik: Traditional – 19. Jahrhundert
Spanischer Text: (ab Ende der 1950er-Jahre obligatorisch) José Martí – 1895
Bearbeitungen von Musik und Text: Jose Fernández Díaz – 1927–41
Zusammenführung von Melodie und Martí-Text: Julián Orbón – 1958
Früheste Tonträger-Aufnahme mit eigenem spanischem Texten: Joseito Fernández – 1940/41; Label: RCA Victor
Legendäre Live-Einspielung mit Text von José Martí: Pete Seeger – 1963; Label: CBS
Erste internationale Hit-Version: The Sandpipers – 1966; Label: London (DE), A&M (US, ES), Pye (UK)
Zweite internationale Hit-Fassung in Europa: Wyclef Jean – 1997; Label: Columbia