Читать книгу Kultsongs & Evergreens - Kai Sichtermann - Страница 14
ОглавлениеAmazing Grace
England/USA 1835
Der Protestantische Choral
Als Martin Luther im Jahre 1517 seine 95 Thesen an die Tür der Schlosskirche zu Wittenberg heftete, ahnte wohl kaum jemand, welch große Unruhen und Umwälzungen diese Protestzeilen im Laufe der folgenden Jahrzehnte und Jahrhunderte nach sich ziehen sollten. Statt zu einer spirituellen Erneuerung der dogmatischen Kirchenlehre (wie von Luther wohl gewollt), kam es zu einer Spaltung. Auf der einen Seite gab es die papsttreuen Katholiken, auf der anderen die Anhänger der Protestanten, die neben Luther mit Johannes Calvin und anderen weitere einflussreiche Reformatoren in ihren Reihen hatten. Ihr Protest richtete sich hauptsächlich gegen die Autorität des Papstes in Rom. Nicht seine Dogmen sollten im Zentrum des Glaubens stehen, sondern die für jedermann lesbare Bibel. Die protestantische Reformation entwickelte sich zu einer politisch-religiösen Bewegung auf dem westeuropäischen Festland, die außer Glaubensangelegenheiten auch andere Bereiche des Lebens infrage stellte.
Dieser Erneuerungsprozess ging auch an den Menschen auf der englischen Insel nicht spurlos vorbei. Deutlich wurde sein Einfluss, als der dortige König, Heinrich VIII., sich 1534 vom römischen Papst lossagte, um sich selbst zum Oberhaupt der Anglikanischen Kirche zu machen. Der Geist der Reformation hatte die britischen Inseln erfasst und sollte in den nächsten Jahrhunderten zu weiteren Offenbarungen führen, wie z. B. durch William Wilberforce (1759–1833), einem jungen Parlamentarier des britischen Unterhauses, mit seinem Kampf gegen den Sklavenhandel.
Gut 200 Jahre nach Luthers folgenreicher Auflehnung wurde 1725 in London ein Junge namens John Newton geboren. Als Sohn eines Kapitäns, der oft lange unterwegs war, wuchs der kleine John in der Obhut seiner Mutter auf, die ihn nach christlichen Werten erzog. Schon früh zeigte sich Newtons Begabung für Sprache und Literatur. Obwohl zartbesaitet und für die Seefahrt wenig geeignet, fuhr Newton nach Beendigung seiner Schulzeit mit seinem Vater zur See, später ohne ihn. Durch die dort herrschenden rauen Sitten fiel er bald, im wahrsten Sinne des Wortes, »vom Glauben ab«. Während einer Fahrt nach Sierra Leone erkrankte John 1745 an Malaria und landete für mehrere Wochen auf Plantain Island, wo er nicht als Patient, sondern »wie ein Sklave« behandelt wurde. Drei Jahre später, als sein Handels-Schiff, die »Greyhound«, durch einen heftigen Sturm in Seenot geriet und er im Angesicht des Todes ein Gefühl des Grauens erlebte, erinnerte er sich an Texte der Bibel, und dass Hilfe »von oben« eventuell möglich sei. »Es war Gnade, die mein Herz die Furcht lehrte«, sagte er später. In dieser Situation manifestierte sich bei Newton die Grundhaltung, die nötig ist, um einen Text wie Amazing Grace schreiben zu können. Das Erweckungserlebnis hielt ihn anfangs jedoch nicht davon ab, sich Monate später auch am Sklavenhandel zu beteiligen. »Wie konnte er dies mit seinem Glauben zusammenbringen?«, fragt Steve Turner in seinem Buch »Amazing Grace«, in dem er der Entstehungsgeschichte des gleichnamigen Liedes nachgeht, und lässt Newton selbst rückblickend (1790) die Antwort geben: »Ich fand die Sache nicht in Ordnung, hatte aber keine Bedenken, dass sie nicht rechtmäßig sei.« Es herrschte damals einfach noch der Glaube an eine gottgewollte Ungleichheit. Nachdem Newton 1753 seine knapp 20-jährige Seefahrt krankheitsbedingt aufgab, erfüllte sich elf Jahre später sein größter Wunsch: Er wurde zum Pfarrer ordiniert und arbeitete fortan als Prediger einer Gemeinde. In dieser Eigenschaft begann Newton, der kein Musiker war, regelmäßig religiöse Liedtexte zu schreiben, die von Emotionen und Aufrichtigkeit durchdrungen waren.
Inspiriert von der Bibel verfasste Newton den Text Amazing Grace in der zweiten Dezemberhälfte 1772 in Olney, einem Ort zwischen Birmingham und London, und veröffentlichte ihn sieben Jahre später in den »Olney-Hymnen«. »Amazing grace! – how sweet the sound, that saved a wretch like me! I once was lost, but now I am found, was blind, but now I see.« – »Erstaunenswerte Gnade – welch süßer Klang, die einen Elenden wie mich errettete! Ich war einst verloren, aber nun bin ich gefunden, war blind, aber nun sehe ich.« So etwas konnte nur jemand schreiben, der wie Newton, vom Glauben abgekommen, leidvolle Erfahrungen macht und schließlich wieder reumütig zu Gott heimkehrt.
John Newton, der William Wilberforce bei seinen Bemühungen, die Sklaverei abzuschaffen, über viele Jahre unterstützt und beraten hatte, starb im Dezember 1807 in London. So konnte er noch miterleben, wie das Gesetz zur Abschaffung des Sklavenhandels im März des gleichen Jahres rechtsgültig wurde.
Was die Melodie betrifft, so schreibt Turner: »Mit Sicherheit gab es keine musikalische Begleitung, als Amazing Grace zum ersten Mal in der Öffentlichkeit vorgestellt wurde. Wenn das Lied gesungen wurde, dann vermutlich zu einer Melodie, die bereits bei den metrischen Psalmen in Gebrauch war.« Der oder die Urheber der heute bekannten Melodie von Amazing Grace sind unbekannt. Manche vermuten, dass es ein schottisches Volkslied war, das Auswanderer mit nach Nord-Amerika brachten. Andere glauben, so Turner, »es könne sich auch um eine amerikanische Melodie mit starken schottischen Anlehnungen handeln«.
Die früheste bekannte Quelle kommt aus Kentucky (USA) und geht auf zwei Melodien ohne Text zurück: »Gallaher« und »St. Mary’s« wurden im Winter 1829/30 von Dr. Charles Spilman zusammen mit seinem Partner Benjamin Shaw in einer Songbuchsammlung unter dem Titel »Columbian Harmony« veröffentlicht.
Die nächste Publikation, die Shape-Note-Sammlung »Virginia Harmony«, von dem methodistischen Laienprediger James Carrel und dem presbyterianischen Ältesten David Clayton zusammengestellt, erschien 1831 in Virginia (USA). Aus den zwei Melodien »Gallaher« und »St. Mary’s«, war nun ein Lied mit Text geworden: »Harmony Grove«, allerdings nicht mit den Worten von Amazing Grace, sondern mit anderer Dichtung.
Zur Vereinigung von der Melodie wie wir sie heute kennen und der Lyrik Newtons kam es erst durch den Gesangslehrer William Walker aus South Carolina (USA). Zusammen mit seinem Partner Benjamin White bearbeitete Walker die »Harmony Grove«-Melodie so, dass sie optimal zum Newton-Text passte, nannte sie »New Britain« und veröffentlichte den Titel 1835 in dem Liederbuch »The Southern Harmony«.
Die Popularität von Amazing Grace beschränkte sich zunächst auf die USA. Verfechtern von Freiheit und Menschenrechten diente der Choral ebenso als Hymne, wie den Cherokee-Indianern bei ihrer Vertreibung aus ihrer Heimat und den Soldaten im Sezessionskrieg auf beiden Seiten. Die Schwarzen waren es, die aus dem weißen Kirchenlied einen ergreifenden Gospel-Song machten. Eine erste Plattenproduktion, noch unter dem Titel »New Britain«, stammt aus dem Jahre 1922, The Original Sacred Harp Choir nahmen die Hymne in New York City auf. Drei Jahre später folgte das Duo The Wisdom Sisters mit einer unbegleiteten Einspielung aus New Orleans, nun erstmalig als Amazing Grace. Erste Gospel-Aufnahmen erschienen 1926 von Reverend H. R. Tomlin und Reverend J. M. Gates sowie von Mahalia Jackson 1947 und 1954. Durch Maceo Woods’ instrumentale Orgelversion von 1955 (Label: Volt) wurde es üblich, das Stück bei Trauerfeiern und Bestattungen zu spielen.
In den 1960er-Jahren erhöhte sich der Bekanntheitsgrad der Komposition. Auch außerhalb der USA erschlossen sich für Amazing Grace neue Hörerkreise. Dafür sorgten Interpreten wie die Folk-Gruppe The Weavers, der Folk-Sänger Clarence Ashley auf dem Newport Folk Festival 1964 und der schwarze R’n’B Sänger Sam Cooke. Ebenso Live-Präsentationen von Blues-Ikone Janis Joplin in San Francisco und Folk-Sänger Arlo Guthrie auf dem legendären Woodstock Festival erhöhten die Popularität. Ein Chor im Film »Alice’s Restaurant« von Arthur Penn sowie instrumentale Dudelsack-Interpretationen taten ihr Übriges. Als auf dem Isle of Wight Festival von 1969 der DJ Jeff Dexter eine Instrumental-Aufnahme der Hymne vor 200.000 Menschen abspielte, hatte Amazing Grace den Weg zurück in seine britische Heimat gefunden.
Die US-amerikanische Folk-Sängerin Judy Collins war es schließlich, die aus einem Kirchenlied einen Welthit machte. Ihre A-capella-Version, die sie 1970 in der St. Paul’s Chapel, auf dem Gelände der Columbia University in New York für ihre LP »Whales And Nightingales« aufnahm und zu Beginn des nächsten Jahres als Single veröffentlichte, eroberte die vorderen Plätze der Hitparaden in vielen Ländern. Auch die Royal Scots Dragoon Guards schafften 1972 mit ihrer instrumentalen Dudelsack-Version den Einstieg in die Charts.
Nach der Collins-Aufzeichnung wurde die Künstlerliste derer, die den Song auf Tonträger aufnahmen oder bei Konzerten präsentierten, immer länger. Sie reicht von Rod Stewart und Aretha Franklin über Joan Baez, Ray Charles und Johnny Cash bis hin zu Natalie Cole und den Wiener Sängerknaben. Neben anderen Sprachen gab es auch deutsche Fassungen, z. B. von Lena Valaitis, Siegfried Fietz, Vicky Leandros und Karel Gott.
Die lange Entstehungsgeschichte von Amazing Grace war immer auch mit dem Thema der Sklaverei verbunden. So verwundert es nicht, dass der Regisseur Michael Apted 2006 einen Film mit dem Titel »Amazing Grace« drehte, der William Wilberforce’ Kampf gegen die Sklaverei erzählt. Dazu noch einmal Steve Turner: »Die ersten Sklaven, die Amazing Grace sangen, kannten Newtons Geschichte nicht und waren sich daher auch nicht der Ironie bewusst, dass sie ihren Gefühlen mit den Worten eines Mannes Ausdruck verliehen, der mitgeholfen hatte, ihre Vorfahren in Afrika gefangen zu nehmen und über den Atlantik zu verschiffen. Doch Newton hatte auch die andere Seite der Sklaverei erlebt, und aufgrund dieser Erfahrung konnte er solche Worte schreiben.«
Titel – Autoren – Interpreten
Amazing Grace
Musik: Traditional – 18. Jahrhundert
Englischer Original-Text: John Newton – 1772
Melodiebearbeitung zur Endfassung und Zusammenführung mit Newton-Text: William Walker (& Benjamin White) – 1835
Frühe Schallaufnahmen: The Original Sacred Harp Choir – 1922; Label: Brunswick
The Wisdom Sisters – 1925; Label: Columbia
Hit-Version: Judy Collins – 1970/71; Label: Metronome (NL)/Elektra (DE)
Instrumental-Hit-Fassung: Royal Scots Dragoon Guards – 1972; Label: RCA