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Ave Maria

Deutschland/Frankreich 1859

Das musikalische Gebet

von Elke Seifert

Das Ave Maria von Bach und Gounod ist wohl eines der bekanntesten Stücke klassischer Musik überhaupt. Kaum eine kirchliche Trauung wird ohne dieses Werk gefeiert, auf kaum einem Klassik-Sampler mit geistlichen Stücken des heutigen CD-Marktes fehlt es, und sogar auf der Walze eines Leierkastens war es in früheren Zeiten obligatorisch. Bis ins 2. Jahrhundert nach Christus reicht die kultische Marienverehrung zurück. Jesu Mutter Maria wird im 5. Jahrhundert durch dogmatische Festschreibungen in zwei Konzilien als »Gottesgebärerin« und »Immerwährende Jungfrau« bestätigt.

Die ersten Teile des Marien-Gebetes erschienen wahrscheinlich irgendwann in den Jahren zwischen 65 und 100 nach Christus in griechischer Sprache; Autor ist der Evangelist Lukas. In Lukas 1,28 des Neuen Testaments verkündet der Erzengel Gabriel Maria, dass sie den Messias, Jesus Christus, gebären werde mit den Worten: »Gegrüßet seist du, Hochbegnadete! Der Herr ist mit dir!« und in Lukas 1,42 spricht Marias Cousine Elisabeth: »Gebenedeit bist du unter den Frauen, und gebenedeit ist die Frucht deines Leibes.« Gut 500 Jahre später hatte sich aus diesen Textfragmenten bereits eine Anrufung entwickelt. Dem Buch »Ave Maria« des brasilianischen Befreiungstheologen Leonardo Boff entnehmen wir: »Auf einem in Luxor in Ägypten gefundenen ›Ostrakon‹ (einer Tonscherbe) aus dem 7. Jahrhundert steht folgendes Gebet: ›Gegrüßt seist du, Maria, voll der Gnade, der Herr ist mit dir. Du bist gebenedeit unter allen Frauen, und gebenedeit ist die Frucht deines Leibes. Denn du hast Christus empfangen, den Sohn des Herrn, den Erlöser unserer Seelen‹«.

Der zweite Teil des Gebetes, »Heilige Maria, Mutter Got­tes, bitte für uns Sünder, jetzt und in der Stunde unseres Todes«, entstand im Laufe der Jahrhunderte und dient als Fürbitte im Alltag der Gläubigen. Die Menschen beten zu Maria, der Muttergestalt, flehen sie an um Hilfe in ihrer persön­lichen Not, bitten sie demütig, Mittlerin zu sein zu Gott, Fürsprecherin für sie selbst, da sie sich als arme Sünder fühlen.

Bereits seit dem 13. Jahrhundert ist das Ave Maria Teil des von gläubigen Christen gebeteten Rosenkranzes. Im Jahre 1566 erhält es durch die von Papst Pius V. autorisierte Festlegung im Römischen Katechismus (Lehrbuch für den christlichen Glauben) seine endgültige Textgestalt und wird zwei Jahre später in das Gebetsbuch aufgenommen. Selbst nach der konfessionellen Spaltung zwischen Katholiken und Protestanten im selben Jahrhundert spricht Martin Luther das Ave Maria vor jeder seiner Predigten. Bis heute ist es in der katholischen Kirche an bestimmten Tagen des Kirchenjahres auch Teil der Messe. Das Ave Maria wird zu einem der am häufigsten vertonten Texte der kirchenmusikalischen Literatur. Die Gebets-Komposition gibt es von Johannes Brahms, Anton Bruckner, César Franck, Franz Liszt, Camille Saint-Saens, Giuseppe Verdi und vielen anderen. Am bekanntesten sind die Vertonungen von Franz Schubert – er schrieb die Melodie 1825 für das Lied »Ellens dritter Gesang« in seinem Liederzyklus »Fräulein vom See« – und von Charles Gounod.

Charles Gounod, ein 1818 bei Paris geborener französischer Komponist, der zunächst Kirchenmusiker und Chorleiter war, dann zu einem erfolgreichen Opernkomponisten avancierte, war der zu seiner Zeit stark verbreiteten Ansicht, der Musik des Komponisten Johann Sebastian Bach fehle das melodiöse Element. So bediente er sich des 1. Präludiums in C – Dur aus dem »Wohltemperierten Klavier«, »degradierte« es zur Begleitung, übernahm es unverändert und schuf selbst eine – zunächst rein instrumentale – Melodie dazu, die er »Méditation sur un prélude de Bach pour piano et violon solo, avec orgue ad.lib.« – »Meditation über ein Präludium von Bach für Klavier und Violine solo, mit Orgel ad.lib.« nannte. 1856 erweiterte Gounod das Stück um einen sechsstimmigen Chor, und erst drei Jahre später unterlegte er die Melodie mit dem Text des Ave Maria.

Die »Begleitung«, das Präludium in C-Dur, des Barock-Musikers Johann Sebastian Bach, der 1685 in Eisenach zur Welt kam, schuf dieser in seiner Köthener Zeit 1722 unter dem Titel »Das Wohltemperierte Clavier oder Praeludia und Fugen durch alle Tone und Semitonia ...« (BWV 846 – 869). Es handelt sich um 24 Präludien und 24 Fugen in allen zwölf Dur- und Moll-Tonarten, beginnend mit C-Dur und danach chromatisch aufwärts führend. Der Begriff »wohltemperiert« bezieht sich auf die Stimmung des Tasteninstrumentes, das zu Bachs Zeiten ein Clavichord sein konnte, ein Cembalo, ein Spinett oder auch ein Hammerklavier, genannt »Piano Forte«. Bei der »wohltemperierten« Stimmung werden im Gegensatz zur bis dahin üblichen mitteltönigen Stimmung die zwölf Halbtöne einer Oktave so gestimmt, dass alle Tonarten sauber klingen. Dafür müssen die perfekt klingenden Intervalle ein klein wenig unsauber gestimmt werden. Das »Wohltemperierte Klavier« ist eines der wichtigsten Werke der Klavierliteratur überhaupt und seine Interpretation für jeden Pianisten eine große Herausforderung.

Bei diesem Ave Maria von Interpreten sprechen zu wollen, ist fast unmöglich, so groß ist ihre Zahl. In der Vergangenheit brachten es die berühmtesten Tenöre ihrer Zeit zu Gehör: der Italiener Enrico Caruso, der in den ersten beiden Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts zum bedeutendsten Opernsänger avancierte und der US-Amerikaner Mario Lanza, der in den 1950ern seine größten Erfolge feiern konnte – ebenso wie die Wiener Sängerknaben oder Zarah Leander. Heute singen die Bach-Gounod-Komposition so bekannnte Opernstars wie die Sopranistin Renée Fleming. Es gibt zahlreiche Bearbeitungen für alle erdenklichen Instrumentengruppen, selbst von Popgruppen wie der Mittelalter-Rockband In Extremo gibt es eine Version. Viele Spieluhren erklingen in dieser Melodie, und auch auf manch einem Handy ertönt sie als Klingelton. 1962 schaffte die stimmgewaltige Glamour-Queen Shirley Bassey mit ihrer Interpretation sogar den Sprung in die Top-Twenty der englischen Charts. 30 Jahre später sorgte der schwarze Vokalkünstler Bobby McFerrin für Aufmerksamkeit, als er die musikalische Bach-Grundlage – gleich einer Akrobatik – nur mit seiner Stimme intonierte und sich von dem chinesischen Star-Cellisten Yo-Yo Ma begleiten ließ, der die Gounod-Melodie spielte. Eine wundervolle Live-Aufnahme, die durch ihre schlichte Schönheit besticht, produzierte die irische Frauenformation Celtic Woman im Jahre 2006.

Die getragene feierliche Melodie ist vom Charakter her sehr schlicht, das heißt ohne Verzierungen komponiert. Mit ihren aufsteigenden Intervallen und den Wiederholungen des »Sancta Maria« fleht die Musik auf klanglicher Ebene um das, was im Text in Worten formuliert erscheint. Die gleichmäßige Wellenbewegung in der Begleitstimme wiegt die Zuhörer in eine beruhigende Sicherheit ein.

So danken wir denn den beiden Tonkünstlern für ihre einzigartigen Werke. Johann Sebastian Bach, einer der genialsten und einflussreichsten Komponisten aller Zeiten, ereilte der Tod 1750 in Leipzig, Charles Gounod starb 1893 bei Paris. Mit dem musikalischen Ave Maria-Gebet haben uns beide ein spirituelles Vermächtnis hinterlassen, das sicherlich auch im weiteren Verlauf des 21. Jahrhunderts noch populär sein wird.

Der deutsche Dichter und Denker Novalis sagte einmal: »Ich sehe dich in tausend Bildern, Maria, lieblich ausgedrückt, doch keins von allen kann dich schildern, wie meine Seele dich erblickt.« Mit geöffneten Augen können wir Maria nicht sehen. Doch wenn wir unsere Augen schließen und hingebungsvoll der Komposition lauschen, können wir eine Verbundenheit, ein Gefühl der Nähe zu Maria entwickeln. Zwischen dem Betenden und der Angebeteten wird die Musik dann zum Mittler. Und das ist sowohl ein wertvolles als auch ein erlesenes Geschenk!

Titel – Autoren – Interpreten

Ave Maria

Musikalische Grundlage: (Präludium Nr. 1, C-Dur) Johann Sebastian Bach – 1722

Melodie: Charles Gounod – 1859

Lateinischer Text: Traditional – zw. 6. und 16. Jh.

Frühe Tonträgeraufnahmen: Alice Guszalewicz – 1902 Adelina Patti – 1905

Hit-Version: Shirley Bassey & the Rita Williams Singers with Geoff Love & his Orchestra – 1962; Label: Columbia

Populäre Einspielung ohne Text: Bobby McFerrin & Yo-Yo Ma – 1992; Label: Sony Classical

Zarte Neuinterpretation: Celtic Woman – 2006; Label: Manhatten (EMI Electrola)

Kultsongs & Evergreens

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