Читать книгу Kultsongs & Evergreens - Kai Sichtermann - Страница 17
Оглавление’O Sole Mio
Italien 1898
Eine Sirene lässt grüßen
Welche Melodie kann schon von sich behaupten, dass sie im Weltraum gesummt wurde? Im April des Jahres 1961 fand dieses Ereignis statt, als mit dem Kosmonauten Juri Gagarin aus der Sowjetunion zum ersten Mal ein Mensch unsere gesamte Erdkugel umkreiste. Gagarin entschied sich für die neapolitanische Kanzone ’O Sole Mio. Ein Akt mit einem gewissen Symbolcharakter für die Kultur der Menschen auf diesem Planeten. Der Titel ist nicht nur eine Hommage an die Sonne, sondern auch an die Geliebte, deren Augen noch schöner leuchten, als unser energiespendender Feuerball am Himmel.
Die Bezeichnung »neapolitanische Kanzone« bedeutet wörtlich ins Deutsche übertragen »neapolitanisches Lied« und sinngemäß so viel wie »volkstümliches Lied aus Neapel«. Ursprünglich soll diese Musik von der sagenhaften Sirene Parthenope stammen, eine jener weiblichen Fabelwesen aus der griechischen Mythologie, die so lieblich sangen, dass kein Mann ihnen widerstehen konnte. Parthenope ist heute noch ein Synonym für den Namen der italienischen Stadt Neapel. Über ’O Sole Mio und die lange Geschichte all dieser gefühlvollen Lieder aus Bella Napoli verfasste der künstlerische Leiter im Schallarchiv des staatlichen Rundfunks (RAI) für die neapolitanische Kanzone von Neapel, Paquito Del Bosco, 2006 ein Buch. Er schreibt darin unter anderem, dass es im Neapel des 18. Jahrhunderts durch verschiedene Umstände zu einer »musikalischen Explosion« kam, »in deren Verlauf die Stadt zu einem Zentrum des Vokal- und Instrumental-Virtuosentums wurde, zur Heimat der Opera buffa (komische Oper) und zum Dreh- und Angelpunkt, ja fast zur Hauptstadt der klassischen Musik im damaligen Europa.« Christoph Dallach von Spiegel Online Kultur fügte zwei Jahre später ergänzend hinzu: »In der ›Kanzone Napoletana‹ fließen die uralten Folklore-Traditionen der Bauern und Arbeiter mit Klängen und Melodien der klassischen Musik zusammen. Bei diesen gern inbrünstig vorgetragenen Liedern dominieren Gitarren und Mandolinenklänge und ein oft schmachtend leidenschaftlicher Gesang, es wird viel jubiliert, aber meistens doch gejammert.«
Um unserem musikalischen Werk näher auf die Spur zu kommen, müssen wir zurück in das Neapel des Jahres 1859, das Geburtsjahr des kultivierten Textdichters Giovanni Capurro. Als Sohn eines Literaturprofessors besuchte Capurro zuerst ein Konservatorium, wurde dann aber doch Journalist. Nebenbei widmete er sich der Poesie, schrieb Geschichten, Gedichte verschiedener Art sowie Verse für Lieder. Sechs Jahre später erblickte der Komponist Eduardo Di Capua das Licht der Welt, dessen Vater Geiger, Komponist und Leiter einer Musikgruppe war. Da ein Besuch des Konservatoriums aus finanziellen Gründen nicht möglich war, trat Eduardo als mandolinespielender Autodidakt der Musikgruppe seines Vaters bei. Vor allem aber komponierte Eduardo neapolitanische Kanzonen. Bereits im jungen Alter von erst 19 Jahren machte er sich als Komponist einen Namen. Die Zusammenarbeit zwischen dem Textdichter Capurro und dem Komponisten Di Capua begann 1894 und ist belegt.
Zur Entstehung von ’O Sole Mio erzählen die »Fakten mit legendärem Beiwerk« laut Del Bosco Folgendes: Anfang des Jahres 1898 schreibt Capurro den Text. Für wen und aus welchem Anlass ist unklar. Eduardo Di Capua befindet sich kurze Zeit später mit der Truppe seines Vaters als Wandermusikant auf Tournee durch Russland. In Odessa, der Hafenstadt am Schwarzen Meer in der heutigen Ukraine, überkommt Eduardo großes Heimweh. Da fällt ihm ein, dass er einen Text von Giovanni im Koffer hat, den ihm dieser kurz vor der Abreise übergeben hatte: »Che bella cosa na jurnata ’e sole, n’aria serena doppo a na tempesta! Ma n’atu sole, cchiù bello, oje né’, ’o sole mio, sta ’nfronte a te ... « – »Wie schön ist ein sonniger Tag, die klare Luft nach einem Sturm. Aber eine andere Sonne, die noch viel schöner ist, meine Sonne, strahlt aus deinem Gesicht.« In der wehmütigen Stimmung fern der Heimat vertont Di Capua im – für neapolitanische Kanzonen ungewöhnlichen – Tempo di Bolero die Zeilen von Capurro und ’O Sole Mio ist wenig später geboren! Wieder in Neapel, reicht Di Capua noch im selben Jahr seine neue, auf der Krim entstandene Kanzone bei einem Musikwettbewerb ein und gewinnt den zweiten Preis. Das Preisgeld in Höhe von immerhin 200 Lire teilte er sich mit Capurro.
Obwohl er nicht gewonnen wurde, war der Musikwettbewerb für unser Stück der Durchbruch. Jeder bekannte oder unbekannte Interpret, der etwas auf sich hielt, nahm das Lied nun in sein Repertoire auf. Die große Begeisterung, die ’O Sole Mio bereits im Jahr seiner Entstehung auslöste, belegt eine Anekdote, die Del Bosco in seinem Buch erwähnt: »Sogar der Papierwarenhändler aus der Via Roma, der das von Di Capua benutzte Notenpapier geliefert hatte, brüstete sich mit diesem Erfolg: ›Ich bin stolz, dass ich gesehen habe, wie er die unsterbliche Melodie von ’O Sole Mio auf ein Blatt schrieb, das ich ihm geschenkt hatte.‹«
Doch Ruhm und Erfolg zahlte sich für die Autoren nicht so richtig aus. Sowohl der Komponist Eduardo Di Capua als auch der Textdichter Giovanni Capurro starben bettelarm in ihrer Heimatstadt, denn ein Urheberrecht mit Tantiemenausschüttungen, wie wir es heute kennen, gab es damals noch nicht. 1917, im Alter von 52 Jahren stirbt Di Capua in einem Krankenhaus, drei Jahre später ist es auch für den 61-jährigen Capurro soweit, das Zeitliche zu segnen.
Als erste Plattenaufnahme von ’O Sole Mio gilt die des Tenors Giuseppe Anselmi aus dem Jahr 1907, gefolgt vom Bariton Emilio De Gogorza, ein Jahr später. Legendär ist natürlich auch die Einspielung aus dem Jahre 1916 von Enrico Caruso, einem der berühmtesten Tenöre aller Zeiten.
Den größten internationalen Triumph erlebte das Capurro-Di Capua-Lied durch den US-amerikanischen Sänger Elvis Presley im Jahre 1960. Obwohl es elf Jahre zuvor schon eine englische Version von Tony Martin mit dem Titel »There’s No Tomorrow« gab, die später auch Dean Martin sang, wollte Presley eine neue Fassung. Die Songwriter Wally Gold (1938–2008) und Aaron Schroeder (1926) wurden beauftragt, eine Demoaufnahme mit einem neuen englischen Text zu produzieren, für den sie nach Golds Aussage gerade einmal eine halbe Stunde benötigten. Auch wenn ihr englischer Text wenig mit dem neapolitanischen Capurro-Text gemeinsam hatte, konnte sich das Ergebnis doch sehen und vor allem hören lassen: Der Titel »It’s Now Or Never«, im lockeren Rumba-Stil arrangiert, wurde im April von Elvis Presley, Scotty Moore und Hank Garland an den Gitarren, Bob Moore, Bass, Buddy Harman und D. J. Fontana am Schlagzeug, Floyd Cramer, Piano, sowie den Jordanaires als Background-Sängern eingespielt und erreichte im Sommer 1960 die Spitzenplätze der Hitparaden vieler Länder.
Für Elvis, der Mann, der mitverantwortlich dafür war, dass »die Jugend der Welt aus ihrer Spießigkeit erlöst und die schwarze Musik endgültig aus dem Ghetto geholt wurde«, wie Del Bosco es sehr gut zusammenfasst, wurde es die meistverkaufte Platte; über zehn Millionen Mal ließ sich die Single weltweit verkaufen.
Die Komposition ist inzwischen auf der ganzen Welt zu Hause, sowohl in der Oper als Arie, wie beispielsweise von den Tenören Mario Lanza oder Luciano Pavarotti, als auch im Bereich der Unterhaltungs-Musik. Elvis’ Erfolg löste noch einmal eine neue Welle von Cover-Versionen aus: Johnny Hallyday in Frankreich, Azúcar Moreno auf Spanisch, Bobby Solo und Adriano Celentano in Italien, Cliff Richard, Chris Barber und Paul McCartney in Großbritannien, Peter Alexander (»O sole mio, hörst du das Lied, es singt von Liebe, die nie verblüht ...«), Ivo Robic und Peter Beil in Deutschland sowie unzählige andere Interpreten in vielen Ländern der Welt. Über die weitere Verbreitung schreibt Del Bosco: »’O Sole Mio ist sicher auch die Musik, auf die am meisten getanzt wurde – vom Bolero bis zum Walzer, vom Tango bis zu den verschiedenen anderen südamerikanischen Rhythmen, vom Rock bis zum Twist. Und wenn man berücksichtigt, dass ’O Sole Mio seit mehr als 100 Jahren auf der ganzen Welt auch in allen möglichen Arten öffentlich aufgeführt wird – vom Café Chantant bis zum klassischen Liederabend, vom Film bis zur Diskothek, vom Radio bis zum Fernsehen – so dürfte die Kanzone auch auf Platz Eins der Gebührenabrechnungen liegen.«
Von den vielen Hunderten schöner Titel aus der musikalischen Tradition der neapolitanischen Kanzone ist ’O Sole Mio ganz klar der berühmteste. Und an Aktualität hat der Song bis heute nichts verloren. Man stelle sich vor, ein verliebtes Paar reist nach Venedig, in die »Stadt der Verliebten«. Dort setzen sich die Liebenden in eine Gondel und bitten den Gondoliere während der Fahrt etwas zu singen. Welches Lied würde der Gondoliere wohl anstimmen? Sehr wahrscheinlich ’O Sole Mio. Und warum? Weil wir Menschen, wenn wir uns öffnen, immer noch dem unsterblichen Zauber der griechischen Sirene Parthenope unterliegen. Und das ist gut so!
Ergänzung
Der neapolitanische Komponist Alfredo Mazzucchi (1878-1972) wird seit 2002 als zweiter musikalischer Urheber von ’O Sole Mio mit aufgeführt. Das entschied ein Gericht in Turin aufgrund diverser Klagen der Erben Mazzucchis. Eduardo Di Capua soll vor Entstehung von ’O Sole Mio verschiedene musikalische Motive und Sequenzen Mazzucchis, der damals ein junger Musikstudent war, gegen Bezahlung erworben haben.
Titel – Autoren – Interpreten
’O Sole Mio
Original-Musik: Eduardo Di Capua (& Alfredo Mazzucchi) – 1898
Neapolitanischer Original-Text: Giovanni Capurro – 1898
Englischer Text: (als »It’s Now Or Never«) Aaron Schroeder, Wally Gold – 1960
Deutscher Text: (für Peter Alexander) Günter Loose – 1974
Frühe Tonträgeraufzeichnung: Giuseppe Anselmi – 1907; Label: Pearl
Legendäre Schellack-Produktion: Enrico Caruso – 1916; Label: Victola
Mega-Hit-Version in Englisch: Elvis Presley – 1960; Label: RCA
Erfolgreichste Aufnahme mit deutschem Text: Peter Alexander – 1974; Label: Ariola