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La Paloma

Spanien 1850er

Das Lieblingslied der Welt

von Marie Sichtermann

Wenn eine Weltraumsonde, die das All jenseits unserer Milchstraße erkunden soll, neben anderen schönen und wichtigen Dingen einen Tonträger mit dem beliebtesten Lied des Planeten Erde zu fernen Sternen brächte, es wäre höchstwahrscheinlich La Paloma. Und ganz sicher würden die fremden Wesen im All schon bald mitsingen und prächtige Raumschiffe zur Quelle dieser Klänge lenken. Hier angekommen, würden sie vielleicht auf die Frage stoßen: Was haben der Österreicher Maximilian, Kaiser in Mexiko, und der sächsische Seemann Joachim Ringelnatz gemeinsam? La Paloma war, so heißt es, ihr Lieblingslied, und die Legende sagt, sie hätten sich beide gewünscht, dass es an ihrem Grabe gespielt würde. Maximilian, der 1864 in Mexiko ankam und dessen Kaisertum schon drei Jahre später mit standrechtlicher Erschießung endete, soll das Lied zum ersten Mal im Teatro Nacional in Mexiko Stadt gehört haben; dargeboten von der jungen Sängerin Concha Mendez, die dort mit einer kubanischen Musikgruppe gastierte und das Publikum von den Plätzen riss. So wurde La Paloma gleich zu Beginn ein Hit in Mexiko, gelangte von dort mit den Cowboys nach Hawaii und Nordamerika und – möglicherweise – mit dem zurückkehrenden Gefolge und dem Leichnam des unglücklichen Maximilian nach Europa.

Wer heute im Testament verfügt, dass am Grabe La Paloma erklingen soll, hat die Auswahl zwischen knapp 150 La Paloma-Fassungen, die allein im Trikont-Verlag auf sechs CDs unter dem Titel »One Song For All Worlds« erschienen sind, und natürlich unzähligen anderen Versionen in Sprachen und Mundarten der meisten Länder der Erde in den verschiedensten Stilrichtungen wie Walzer, Tango, Reggae, Schnulze oder Habanera; mehr als 5000 verschiedene Interpretationen soll es geben. Die Wahl mag schwer fallen zwischen dem schwerelosen Gesang großer Sopranistinnen wie Rosita Serrano (deren Aufnahme von 1940 in dem Film »Das Boot« zu hören ist) und dem schwergewichtigen Tenor Placido Domingos. Flott gepfiffen von Ilse Werner, in düsterem, schrägen, in Moll gesetztem Jazz von Carla Bley (aus dem Kultstreifen »Das Auge«), als süßlich-wehmütiges Instrumental vom Orchester Billy Vaughn, leicht und unangestrengt in Englisch von Dean Martin als »The Look« (1956), oder Elvis Presleys populäres »No More« (aus dem Film »Blue Hawaii«, dessen gleichnamiger Soundtrack 1961 Presleys erfolgreichstes Album war). Dann gibt es noch die deutsche Hit-Version des österreichischen Baritons Freddy Quinn von 1961. Und wem das nicht reicht, der kann versuchen, die vermeintlich älteste Tonträgeraufnahme als Schellackplatte von 1896 zu ergattern – die des italienischen Tenors Ferruccio Giannini.

Ob der Komponist der Latino-Tango-Melodie, der Kirchenmusiker Sebastian Iradier (später Yradier, das Y war in Mode) y Salavieri, noch Kunde von dem frühen Erfolg seines Liedes erhielt, wissen wir nicht. Im Dezember 1865 starb er im nordspanischen Baskenland, wo er 1809 das Licht der Welt erblickt hatte. Sebastian kommt als Musiker in der Welt herum, mit 18 Jahren wird er Organist in Salvatierra, nahe seinem Geburtsort, mit 30 bildet er bereits am Konservatorium in Madrid SängerInnen aus und verkehrt in Kreisen des Adels. Später lebt er etliche Jahre in Paris. Doch ihn scheint das Abenteuer gelockt zu haben. 1857 schifft er sich nach Kuba ein – so heißt es, Belege für seine karibische Episode gibt es nicht. Die reiche, fruchtbare Insel war von den Spaniern erobert worden, die sie nun nach Kräften ausbeuteten. Einen Musiker bewegt überall zuerst die Musik, und so begegnet Yradier auf Kuba unweigerlich der kubanischen, in der Einflüsse aus Lateinamerika, der Karibik, Westafrika und Europa zusammenkommen. Ein Beispiel dafür ist die Habanera, ein langsamer Tanz im synkopierten 2/4 Takt mit einem weihevollen Flair. Die Habanera weist Elemente des englischen Countrydance auf, der nun wiederum von Spaniern nach Kuba eingeführt wurde. Yradier mag seine Habaneras auf Kuba geschrieben haben oder später, als er als Dirigent und Gitarrist mit dem Pianisten und Komponisten Gottschalk durch die Karibik getingelt sein soll, oder er schrieb sie in Paris oder Madrid. Zwei Daten leuchten aus dem Dunkel der Geschichte: Eine Urheberrechtseintragung für das Lied La Paloma 1859 in Madrid und die (erste) öffentliche Darbietung durch die Sopranistin Concha Mendez 1863 in Mexiko.

Yradier veröffentlicht, als er zurück in Frankreich ist, eine Sammlung mit karibisch inspirierten Liedern, unter denen auch zwei Habaneras sind, die beide Weltruhm erlangten: La Paloma und »El Arreglito«; letztere fand in Georges Bizets Oper »Carmen« Verwendung.

Die Taube flog um die Welt und eroberte die Herzen der Menschen in allen Erdteilen. Was macht den Charme des Liedes aus, das so oft wie kaum ein anderes Musikstück gespielt, gesungen, arrangiert und auf Tonträgern festgehalten wurde? Diese Frage bewegt alle und zieht sich sowohl durch den Film »La Paloma. Das Lied. Sehnsucht. Weltweit« von Sigrid Faltin, der 2008 in die Kinos kam, als auch durch das Buch »La Paloma – Das Jahrhundert-Lied« von Rüdiger Bloemeke (2005).

Ist es die Melodie, der Rhythmus? Sicher, das Lied ist schwungvoll, abwechslungsreich und durch den 2/4 Takt eingängig, ohne allzu simpel zu wirken. Das Phänomenale ist, dass es sich so wunderbar allen Ländern, Anlässen, Klimazonen, Instrumenten und Musikstilen anpassen lässt und immer in jeder Form wiedererkannt wird. Dass fast jedes Publikum schon nach ein paar Takten von La Paloma in Jubel und stürmischen Beifall ausbricht, hat die Melodie zu einer beliebten, weil sicheren, Zugabenummer für Sängerinnen und Sänger gemacht. Faltins Film zeigt uns, wie sie in Rumänien bei Beerdigungen gespielt wird und in Tansania zum Ausklang einer Hochzeit. In Mexiko, dem Land der gescheiterten Revolutionen, ruft La Paloma die Menschen noch immer zum Widerstand gegen Ausbeutung und Ungerechtigkeit auf, wie die mexikanische Sängerin Eugenia León jüngst eindrucksvoll unter Beweis stellte.

Oder sind es die Worte? Wir wissen nicht einmal genau, ob Yradier auch den Text verfasste. In der spanischen Urfassung geht es um einen jungen Mann, der – wie der Schriftsteller Paulo Coelho es nennt – den »guten Kampf des Lebens« kämpft: Er verlässt Havanna (von einem Schiff ist nicht die Rede) und das Mädchen, das er liebt, läuft ihm hinterher, dann heiraten sie und haben viele Kinder. Zur Verzierung dienen ein paar Scherze und Ausrufe wie »Si senor« und »Valgame Dios« (dt., Gott steh mir bei). Wenn wir eine Botschaft suchen, die die Menschen berührt hat und immer noch erreicht, sind es wohl besonders die ersten vier kurzen Zeilen des Refrains: »Si a tu ventana llega – Una Paloma – Tratala con cariño – Que es mi persona.« Wörtlich frei ins Deutsche übertragen bedeutet das: »Wenn an deinem Fenster eine Taube ankommt, behandle sie mit Zärtlichkeit, denn ich bin es selbst.« Das Bild der Taube am Fenster ist schön, sie geht ans Herz und wird in den meisten Textnachdichtungen übernommen.

Der Text hat seine eigene verschlungene Geschichte. Die Taube erhält ihr mythisches Weiß in Tagliafico’s Text »La Colombe«. Der französische Schauspieler und Sänger Joseph Tagliafico (1821–1900) war ein Zeitgenosse Yradiers. Ihm mag die Melodie gefallen haben, der Text aber nicht, und so schuf er um 1865/67 einen ganz eigenen vom Seemann und seiner Liebsten Nina, die im Grabe liegt, als er endlich von See nach Hause kommt, und die Taube am Fenster ist auch hier die zentrale Botschaft: »Une blanche colombe vienne te voir, ouvre-lui la fenêtre ...« So wurde aus La Paloma in Frankreich ein Seemannslied. Diese französische Fassung fand der Mainzer Musiker Heinrich Rupp (1838–1917) und übersetzte sie 1880 – zum Glück recht frei – ins Deutsche, so gelangen ihm die düsteren und kraftvollen Zeilen: »Falle ich einst zum Raube empörten Meer, fliegt eine weiße Taube zu dir hierher …« und »Schwarze Gedanken, sie wanken und fliehn geschwind uns wie Sturm und Wind …« Rupps Dichtung liegt den meisten in Deutsch gesungenen Fassungen zugrunde.

Den typisch deutschen, männlichen Touch bekommt La Paloma im Zweiten Weltkrieg von Helmut Käutner verpasst, der 1943/44 mit Hans Albers (1891–1960) in der Hauptrolle den Film »Große Freiheit Nr. 7« drehte und auch die Songtexte schrieb. Käutner greift tief in die Seemanns-Klischee-Kiste »Wein’ nicht, mein Kind, die Tränen, die sind vergebens, Seemanns Braut ist die See ...« Dabei läuft in der Filmstory der blonde Hans als alternder Seebär einer jungen Frau nach, die ihn nicht will, und wenn einer weint, dann ist er es. Aber alles hat auch sein Gutes: Die Zeile »Schroff ist das Riff und schnell geht ein Schiff zugrunde …« bereichert die La Paloma-Dichtung um ein gelungenes Bild, und ganz ohne die Taube kommt es auch nicht aus. Hans Albers’ unvergleichliche Interpretation schafft trotz rauer Männlichkeit eine sehnsuchtsvoll-melancholische Stimmung, ein am Ende leise gehauchtes »La Paloma adé« pocht ans Gemüt und bei allen Eingeweihten lässt die Erinnerung an das bekannte Bild einen Schauer über die Haut laufen und das Herz erzittern. Diese erste Schellackplattenaufnahme von 1944 ist mit Abstand Alberts beste.

Ja, es ist wohl doch die Taube am Fenster, und so mag es auch den Erfolg von Freddy Quinn mitbestimmt haben, dass er in seiner schönsten Version direkt damit beginnt: »Si a tu ventana llega una paloma ...« und dann erst in die deutsche 61er-Fassung übergeht, ein Liebeslied ohne Taube am Fenster, aber schlichter als Käutners und wirklich sehr schön: »Seh ich auch andre Menschen und fremde Sterne, denk ich an dich und grüße dich aus der Ferne ... La Paloma ohé, einmal müssen wir gehen, einmal schlägt uns die Stunde der Trennung. Einmal komm ich zurück.« Im Jahr 2004 schaffte der globale Gassenhauer den Eintrag ins Guinness-Buch der Rekorde, als sich in Hamburg unter Freddy Quinns Dirigat über 80.000 Menschen versammelten, um gemeinsam einen Weltrekord im Chorsingen aufzustellen.

»Seit über 100 Jahren spiegelt sich in La Paloma das Wechselspiel aus Glück und Unglück, Krieg und Frieden, Elend und Reichtum, Kunst und Kitsch«, fast Rüdiger Bloemeke die Widersprüche in seinem Buch treffend zusammen. Dieses beliebte Lied verbindet, es gehört einfach zum musikalischen Weltkulturerbe!

Ergänzung

Die Behauptung, dass La Paloma zum ersten Mal im Jahr 1863 von Concha Mendez in Mexiko öffentlich gesungen wurde, ist nicht unumstritten. Manche glauben, die italienische Gesangsdiva Marietta Alboni hätte das Lied bereits 1855 dargeboten und der spanische Bariton Francisco Salas zwei Jahre später.

Titel – Autoren – Interpreten

La Paloma

Original-Musik: Sebastian de Yradier – zw. 1850 und 1859

Spanischer Original-Text: vermutlich Sebastian de Yradier – zw. 1850 und 1859

Erster Text mit Seefahrerinhalten: (als »La Colombe«) Joseph Tagliafico – um 1865/67

Erster deutscher Text: Heinrich Rupp – 1880

Deutsche Textfassung zum Film »Große Freiheit Nr. 7«: Helmut Käutner – 1943

Weitere deutsche Textüberarbeitung: Victor Bach, Freddy Quinn, Horst Wende – 1961

Englischer Text: (als »No More«) Don Robertson, Hal Blair – 1961

Frühe Tonträgeraufzeichnungen: Ferruccio Giannini – 1896; Label: Berliner Gramophone International Novelty Orchestra – 1920er; Label: Victor

Begeisternde Schellack-Version mit Text von Helmut Käutner: Hans Albers mit Orchester, Leitung (Arrangement) Werner Eisbrenner – 1944; Label: Odeon

International erfolgreiche Instrumental-Produktion: Billy Vaughn Orchestra – 1958; Label: London

Zweite Hit-Fassung mit deutschem Text: Freddy Quinn – 1961; Label: Polydor

Populäre englische Aufnahme als »No More«: Elvis Presley – 1961; Label: RCA Victor

Spanische Interpretation als Habanera: Marina Rossell – 2006; Label: World Village

Kultsongs & Evergreens

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