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Das ägyptische Tiananmen

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Die Anhänger der Muslimbruderschaft bäumten sich noch ein letztes Mal auf. Sie richteten mehrere Protestlager ein. Das größte lag auf dem Rabaa-Al-Adawiya-Platz im Osten Kairos. Am 14. August 2013 begannen Militär und Polizei mit der blutigen Räumung des Platzes. Ich stand damals mit dem ORF-Team an einer der zum Rabaa-Platz benachbarten Kreuzungen. Wir diskutierten mit einem Team von Sky News, unter anderem mit dessen Kameramann Mick Deane, welche Straßen noch sicher seien, um zum Platz zu gelangen, und welche auch für Journalisten zu gefährlich. Wir blieben stehen, das Sky-News-Team zog weiter. Kurz darauf wurde Deane erschossen. Dessen Kollege Craig Summers stand direkt neben ihm, als das geschah. Deane sei mit Absicht ausgesucht und erschossen worden, ist dessen Überzeugung. „Ich weiß nicht, warum sie ihn erschossen haben, die einzigen Menschen um uns herum waren eine Gruppe von Frauen, die auf dem Boden saßen und den Koran lasen. Sonst war niemand in der Nähe“, erklärte er später bei der gerichtsmedizinischen Untersuchung in Großbritannien. „Irgendjemand hat ihn mit seinem Scharfschützengewehr ins Visier genommen und geschossen. Zu diesem Zeitpunkt gab es keine anderen Schüsse um uns herum“, führte er weiter aus. Deane drehte sich noch zu ihm um und sagte, er sei getroffen worden. Dann sah man schon das Blut auf seiner linken Brust. Daniela Deane, seine Frau, schrieb später in der „Washington Post“: „Mein Mann war ein einfaches Ziel für einen der Scharfschützen des ägyptischen Militärs, der ihn vielleicht von einem weit entfernten Dach ins Visier genommen hatte. Er war groß und blond und mit seiner schweren Fernsehkamera auffällig zwischen den Demonstranten. Ich glaube, die Sicherheitskräfte hatten einfach genug davon, ihn dort filmen zu sehen und haben beschlossen, ihn zu töten.“

Wir harrten unterdessen weiter an der benachbarten Kreuzung aus. Noch war die Nachricht über den toten Kameramann, den wir gerade noch lebend verabschiedet hatten, nicht bis zu uns durchgedrungen. Wir warteten darauf, halbwegs sicher auf den Rabaa-Platz kommen zu können. Eine Frau kam vom Platz über die Straße gelaufen und schrie völlig aufgebracht: „Das sind Mörder, das sind Mörder“. Dann setzte sie sich auf den Mittelstreifen der Straße und hörte nicht mehr auf zu schluchzen. Vom Platz her waren zur gleichen Zeit fast im Minutentakt die Tränengasgranaten zu hören, die abgeschossen wurden. Immer wieder war auch das Peitschen von Gewehrschüssen auszumachen.

Die Straße, in der zuvor das Fernsehteam von Sky News verschwunden war, wurde inzwischen von einem gepanzerten Fahrzeug des Militärs abgesperrt. Der Soldat am Maschinengewehr, das dem Fahrzeug aufgepflanzt war, sah stoisch in eine kleine Menge von Demonstranten, die „Nieder mit der Militärherrschaft“ riefen. Bald flogen auch hier die ersten Tränengasgranaten. Die Menge wurde immer wieder zerstreut, um kurz darauf wieder zurückzukommen, als die ersten Verletzten aus dem Protestlager getragen wurden. Immer wieder kamen Krankenwagen, die von den Militärs durchgelassen wurden, und fuhren Richtung Rabaa-Platz. Von dort stiegen inzwischen schwarze Rauchwolken auf. Wir, die wir draußen vor dem Platz standen, wussten, dass dort etwas Schlimmes passiert sein musste, hatten aber noch keine Ahnung vom blutigen Ausmaß dessen, was da auf dem Rabaa-Platz geschehen war.

Kein anderes Ereignis in der neueren Geschichte hat die ägyptische Gesellschaft mehr gespalten. In anderen Teilen der Stadt jubelten manche Menschen, applaudierten und schwenkten ägyptische Fahnen. Später gratulierten der Innenminister und der Premier im Fernsehen der Armee und der Polizei für ihre ausgezeichnete Arbeit.

Zwei Jahre später zog die internationale Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch ein vernichtendes Fazit. „Es war weltweit in der neueren Geschichte einer der tödlichsten Einsätze gegen Demonstranten an einem einzigen Tag durch willkürliche und gezielte Gewalt von Sicherheitskräften“, schrieb sie in ihrem Untersuchungsbericht und nannte den blutigen Tag in Ägypten in einem Atemzug mit dem chinesischen Tiananmen-Massaker 1989, bei dem 400 bis 800 Demonstranten umgekommen sein sollen. Nach Zählung der Organisation sollen in Kairo am 14. August 2013 mindestens 817, wahrscheinlich aber über tausend Demonstranten innerhalb weniger Stunden erschossen worden sein.

Human Rights Watch kam nach der Befragung von 200 Augenzeugen und der Sichtung von Videomaterial zu dem Schluss, dass die Polizei auf die meist friedlichen Demonstranten mit scharfer Munition geschossen habe, dass aber auch Scharfschützen eingesetzt worden und Hunderte durch Kopf- und Brustschüsse umgekommen seien.

Die Unterstützer der El-Sisi-Regierung, der Armee und Polizei argumentierten, der Einsatz von Gewalt sei legitim gewesen, da die Polizei angegriffen worden sei. Auch die Menschenrechtsorganisation dokumentierte vereinzelt Fälle, in denen Demonstranten auf die Polizei geschossen hatten, „aber damit lässt sich niemals der unverhältnismäßige und vorsätzliche Einsatz von Gewalt gegen überwiegend friedliche Demonstranten rechtfertigen“, schlussfolgerte der Bericht. Selbst laut dem offiziellen Menschenrechtsrat, der im Auftrag der Regierung arbeitet, gab es unter den von ihm dokumentierten 624 Opfern nur acht tote Polizisten.

Auch das von Human Rights Watch untersuchte Videomaterial zeigte zahlreiche Szenen, in denen Sicherheitskräfte von Dächern und Polizeifahrzeugen aus schossen, ohne Deckung zu nehmen. „Ein ungewöhnliches Verhalten, wenn es eine signifikante Bedrohung durch Schusswaffen seitens der Demonstranten gegeben hätte“, stellte der Bericht der Menschenrechtsorganisation etwas lakonisch fest.

Der ägyptische Präsident El-Sisi und dessen Anhänger würden das Thema seitdem am liebsten unter den Tisch kehren. Für die Muslimbruderschaft ist der 14. August 2013 dagegen bis heute die wichtigste Referenz für die blutige Herrschaft des Militärs nach dem Sturz Muhammad Mursis.

Repression und Rebellion

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