Читать книгу Repression und Rebellion - Karim El-Gawhary - Страница 11
Und in Tunesien?
ОглавлениеAuch Tunesien drohte an der politischen und gesellschaftlichen Polarisierung des Landes zu scheitern. Die Angst der liberalen und säkularen Tunesier war groß, dass die islamistische Ennahda-Partei trotz ihres relativ moderaten Programms über die demokratische Tür doch versuchen würde, einen islamistisch geprägten Staat einzuführen. Als dann im Frühjahr 2013 zunächst der prominente linke Politiker und Ennahda-Kritiker Chokri Belaid von militanten Islamisten umgebracht wurde, kam es zu einem Generalstreik. Als wenige Monate später ein weiterer bekannter Linker, Muhammad Brahmi, ermordet wurde, folgten Massendemonstrationen, in denen auch dazu aufgerufen wurde, das von den Islamisten dominierte Parlament aufzulösen. Das Land stand vor seiner ersten großen Zerreißprobe seit dem Sturz des Diktators Ben Ali.
Dass es nicht so weit wie in Ägypten kam, ist im Wesentlichen der tunesischen Zivilgesellschaft zu verdanken, genauer gesagt dem „Quartett für den Nationalen Dialog“, das die Zügel in die Hand nahm, um Schlimmeres zu verhindern. Das Quartett bestand aus Vertretern des größten Gewerkschaftsverbandes (UGTT, Union Générale Tunisienne du Travail), dem Arbeitgeberverband (UTICA, Union Tunisienne de l’Industrie, du Commerce et de l’Artisanat), der tunesischen Menschenrechtsliga (LTDH, Ligue Tunisienne des Droits de l’Homme) sowie der einflussreichen Anwaltskammern (Ordre National des Avocats de Tunisie).
Das Quartett vertrat damit eine breite Palette von Interessen, einigte sich aber doch auf einen kleinen gemeinsamen Nenner, wie Tunesien aus der Krise geführt werden könne. Das Quartett fungierte als Vermittler zwischen den Parteien, forderte einen neuen Premierminister, ein neues Kabinett sowie ein neues Wahlgesetz und trieb die Diskussion um die überfällige Verfassung voran, die dann im Januar 2014 fast einstimmig verabschiedet wurde. Der nationale Dialog führte auch dazu, dass die von den Islamisten dominierte Regierung zurück- und an ihre Stelle ein Kabinett aus Technokraten trat.
Das ägyptische Szenario war damit für Tunesien abgewendet. Der Blick auf die Ereignisse im Nilland war sicherlich eine der wichtigsten Motivationen der Tunesier, sich zusammenzuraufen. Ganz besonders, da Ennahda das Schicksal ihrer islamistischen Kollegen in Ägypten, den Muslimbrüdern, genau verfolgt hatte und alle Tunesier vor Augen hatten, wohin eine weitere Polarisierung führen konnte.
Das Quartett erhielt für seine Arbeit verdienterweise 2015 den Friedensnobelpreis. Es habe entscheidend dazu beigetragen, eine pluralistische Demokratie in Tunesien aufzubauen und habe den Demokratisierungsprozess gerettet, als Tunesien am Rand eines Bürgerkrieges stand, hieß es in der Jurybegründung. Das Quartett habe seine Rolle als Vermittler und treibende Kraft bei der friedlichen demokratischen Entwicklung in Tunesien mit großer moralischer Autorität vorangetrieben, indem es die Grundlage für einen nationalen Dialog geschaffen habe, an dem am Ende 21 Parteien verschiedenster politischer Ausrichtung teilnahmen.
Aber es war nicht das letzte Mal, dass weise politische Entscheidungen nötig waren, um das Land zusammenzuhalten. Bei den Parlamentswahlen Ende 2014 schlug das Pendel diesmal in Richtung des säkularen Parteienbündnisses Nidaa Tounes aus, ein Parteienbündnis, das im Wesentlichen seine Gegnerschaft zu den Islamisten einte. Einen Monat später gewann deren Kandidat Beji Caid Essebsi die Präsidentschaftswahlen. Es sah so aus, als hätten die liberalen und säkularen Parteien nun die Islamisten an den Wahlurnen geschlagen und könnten mit ihrer Mehrheit den Kurs des Landes bestimmen.
Doch der neue Präsident Essebsi war ebenso um einen nationalen Ausgleich bemüht und nahm die islamistische Ennahda-Partei überraschend mit an Bord der Regierung. Das war ein weiterer Meilenstein in Tunesiens kurzer postrevolutionärer Geschichte. Bemerkenswert war hier die Zusammenarbeit zwischen Essebsi und dem Chef der Ennahda-Partei Rached Al-Ghannouchi, die die Zeichen auf Aussöhnung setzte. Essebsi war als Außenminister einst Mitglied des Regimes des Diktators Ben Ali gewesen, das Ghannouchi wegsperren und foltern ließ.
Doch auch in Tunesien war nicht alles rosig. Militante Islamisten trieben ihr Unwesen mit blutigen Anschlägen auf das Bardo-Museum in Tunis und auf eine Hotelanlage in Sousse. Ein tunesischer Student erschoss dort am 26. Juni 2015, während des Ramadan, am Strand des Imperial Marhaba Hotels 38 Touristen, die sich friedlich auf den Liegen gesonnt hatten.
Als ich am nächsten Tag dort ankam, herrschte am Hotelstrand eine Atmosphäre der totalen Fassungslosigkeit. Jemand hatte mitten in die am Tatort niedergelegten Blumen einen Zettel mit einer einfachen Frage gesteckt: „Warum“, stand darauf.
Der Attentäter, der 23-jährige Student Seifeddine Rezgui, war in keiner Weise auffällig geworden, bevor er mit einem Sturmgewehr am Strand auftauchte, um ein Blutbad anzurichten, das der IS später im Internet für sich reklamierte.
Drei Tage später traf ich dann Mayel Monsef, den stillen Helden des tunesischen Badeortes Sousse. Er brachte mich zu jenem Ort, an dem er drei Tage zuvor versucht hatte, den Strand-Attentäter zu stoppen. Die Polizei war nirgends zu sehen gewesen, da sei der Mann mit seinem Sturmgewehr diese Straße entlanggelaufen, erzählte er. Monsef führte mich auf das Dach eines dem Hotel benachbarten Hauses, in dem er am Tag des Anschlags gearbeitet hatte. Dort lag immer noch ein Stapel Badezimmerfliesen. Er führte mir vor, wie er ein paar dieser Fliesen genommen, diese mit den Worten „Du Hund!“ auf den Attentäter geschleudert und ihn dabei am Kopf getroffen hatte. Dieser sei dann noch ein paar hundert Meter weiter getaumelt und dann im hinteren Teil des Ortes von der Polizei erschossen worden. Er sei ein einfacher Mann, sagte der Fliesenleger. Er habe als Bürger und Muslim einfach nur seine Pflicht getan. „Der Attentäter ist kein wahrer Muslim. Der Islam hat noch nie gesagt ‚töte‘, und schon gar nicht an einem Freitag im heiligen Ramadan. Der Islam sagt, dass du den Menschen verzeihen und sie lieben sollst.“ Es ist dem tunesischen Fliesenleger und seinem beherzten Handeln zu verdanken, dass der Anschlag nicht noch mehr Menschenleben kostete.
Tunesien ging indes in sich. Am nächsten Tag fand vor dem Hotel in Sousse am Abend nach dem Fastenbrechen eine Demonstration statt. Von den Vertretern der säkularen Nidaa-Partei über deren Koalitionspartner, die moderate Ennahda-Partei, bis zur Opposition und zur Zivilgesellschaft waren alle gekommen. „Wir müssen in diesen Zeiten alle zusammenstehen“, erklärte mir dort der Arbeitsminister Zied Ladhari von der Ennahda-Partei. „Die Terroristen hassen unser Projekt, das einzig demokratische erfolgreiche in der arabischen Welt“, sagte er. Es habe nach der Revolution ein gewisses „religiöses Chaos“ gegeben, gab er zu. Und natürlich sei die Religionsfreiheit in der Verfassung garantiert. Aber die könne durchaus auch eingeschränkt werden, wenn es Menschen gebe, die mit ihrer Religionsinterpretation Gewalt legitimierten, sagte er.
Im ganzen Land wurden viele Fragen gestellt, nicht nur dazu, wie der Sicherheitsapparat besser aufgestellt werden könne, um auf solche Anschläge, die für die Tunesier neu waren, angemessen reagieren zu können. Im Zentrum der Debatte stand auch die Frage, wie ein bisher unauffälliger Student zu einer solchen Tat getrieben werden konnte und warum beim IS im benachbarten Libyen, aber auch in Syrien und im Irak, auffällig viele Tunesier aktiv waren. Wie konnte das Land seine Jugend von den Dschihadisten-Rattenfängern wieder zurückgewinnen?
Für Alaya Allani, einen ausgewiesenen tunesischen Experten für die militanten Islamisten, den ich später in der Hauptstadt Tunis traf, lag der Schlüssel in der wirtschaftlichen Misere des Landes. Bei den Parlaments- und Präsidentschaftswahlen sei weniger als die Hälfte der Wahlberechtigten zu den Urnen gegangen. Bei den jungen Wählern sei es gar nur ein Viertel gewesen. „Das heißt, 75 Prozent der jungen Tunesier sind vom Arabischen Frühling und seinen Versprechungen enttäuscht worden. Sie bilden das Gros der Arbeitslosen. Damit ist es oft ein Leichtes für die Militanten, sie zu rekrutieren“, erklärte er.
Um dem nachzugehen, fuhr ich bei einer späteren Tunesien-Reise dorthin, wo die arabischen Aufstände ihren Anfang genommen hatten, in die südtunesische Kleinstadt Sidi Bouzid. Im Zentrum der Stadt steht eine Statue, die an den prominentesten Bürger des Ortes erinnern soll. Sie stellt einen überlebensgroßen Karren dar, wie er von Straßenverkäufern in Tunesien verwendet wird, und ist Muhammad Bouazizi gewidmet, jenem tunesischen Straßenhändler, der sich hier 2010 selbst angezündet hat, weil sein Karren und seine Waren von der Polizei des damaligen Diktators Ben Ali willkürlich konfisziert worden waren. Schnell wurde deutlich, dass in der Wiege des Arabischen Frühlings fünf Jahre danach Katerstimmung herrschte. Die Region ist eine der ärmsten Tunesiens, jeder Vierte hat hier keine Arbeit. Im Zentrum der Stadt, unweit der Statue, traf ich einen der besten Freunde des verstorbenen Bouazizi, der sich nur als Hamza vorstellte. Sein Fazit über die Errungenschaften nach dem Sturz Ben Alis war vernichtend. „Die Menschen hier sind enttäuscht von der Revolution. Es gibt noch weniger Arbeit als früher und viele Jugendliche versuchen von hier nach Europa zu kommen. Wenn ich das Geld dafür hätte, würde ich auch gehen“, fasste er kurz und prägnant zusammen. Muhammad, ein anderer Freund Bouazizis, führte mich zu dem Haus, in dem die Familie des einstigen Straßenhändlers wohnte. Ein zweistöckiges, einfaches Haus, wie Hunderte andere im Ort. Die Familie war allerdings inzwischen nach Kanada ausgewandert. „Sie waren mehrfach bedroht worden und sind dann hier weggezogen“, erläuterte Muhammad. Ich dachte nur: Es ist kein gutes Zeichen, wenn die Familie des Revolutionshelden in den Nachwehen der Revolution flüchten muss.
Auch die Lage der Straßenhändler selbst hatte sich aufgrund der schwierigen wirtschaftlichen Lage noch verschlimmert. Etwa bei Marwan, der wie einst Bouazizi mit einem Karren am Straßenrand Obst und Gemüse verkaufte. Seinen Lebensunterhalt zu verdienen, sei noch schwerer geworden, erzählte er. „Die Waren, die ich früher in zwei Tagen verkauft habe, werde ich heute kaum in einer Woche los“, beschrieb er den Niedergang. Und auch in einem Café in der Innenstadt hatten sie wenig gute Worte für das neue Tunesien übrig. „Du befindest dich hier in der offenen Wunde der Revolution“, beschrieb es Hafez, einer der dortigen Jugendlichen, anschaulich. Die Lage sei aussichtslos. Aus diesem Ort ziehe es mehr Jugendliche in ihrer Verzweiflung zu terroristischen Gruppen als nach Europa. „Was ist euch in Europa lieber?“, fragte er fünf Jahre nach dem tunesischen Aufstand.
Aber wenngleich viele Tunesier vor allem aus wirtschaftlichen Gründen an ihrer Revolution verzweifelten, zurück zu den autokratischen Zeiten wollte keiner, an der neugewonnenen Demokratie hielten sie fest. Anders als das ägyptische Militär, das eine jahrzehntelange Tradition hat, in der Politik mitzumischen, war das tunesische Militär immer eine Institution zur Landesverteidigung geblieben. Die Tunesier passten sich in den Zeiten nach dem Sturz Ben Alis immer wieder an die neue Lage an. Demokratische Werte und Transparenz waren ihnen zur liebgewonnenen Gewohnheit geworden, die sie nicht mehr aufgeben wollten. Die Tunesier haben nie wieder über die Schulter zurückgeblickt.