Читать книгу Florians Hochzeit - Karin Dietl-Wichmann - Страница 7
3 Hanna
ОглавлениеIn den achtziger Jahren hatte Hanna Schubert das schönste Dekolleté zwischen Flensburg und München. Das war zumindest die Meinung der Boulevardjournalisten, die Hanna jedes Jahr, sobald es Sommer wurde, auf ihren Titelseiten abbildeten. Es war stets das gleiche Motiv. Hannas viel gepriesener Vorbau in einem aufreizend knappen Bikinioberteil. Das lachende Gesicht leicht zur Seite geneigt und keck dem Leser zugewandt. Wen dieses Foto nicht aus dem Winterschlaf riss, der wurde spätestens bei der deftigen Bildunterschrift wach.
Fünfzehn Jahre lang kündigte Hanna so den Sommer an. Hannas Modelkarriere allerdings fand nicht auf den Catwalks von Mailand und Paris statt. Sie lächelte jahrelang für ein Waschmittel und ein Hühneraugenpflaster. Inzwischen war Hanna Mitte vierzig und hatte ihr Verfallsdatum als Model längst überschritten. Obwohl ihre kastanienbraune Mähne noch immer ohne ein graues Haar war und die Jeans aus ihrer wilden Ibizazeit kein bisschen spannten, litt sie unter ihrem Alter.
In ihrem Badezimmer hing ein Vergrößerungsspiegel, vor dem sie allmorgendlich ihr Gesicht untersuchte. Entdeckte sie eine Falte oder die kleinste Unebenheit, war der Tag für sie gelaufen. Sie empfand es als ungerecht, dass sie, die genug Prüfungen in ihrem Leben zu überstehen gehabt hatte, nun auch noch den Verfall ihres Körpers ertragen musste. Ein Gefühl von Verzweiflung und Zorn stieg in ihr auf. Sie betastete ihre Oberschenkel, kniff sich in den leicht gewölbten Bauch und prüfte die Straffheit ihrer Oberarme. Nie würde sie vergessen, wie eine Freundin über eine gemeinsame Bekannte gesagt hatte: Die sollte keine ärmellosen Kleider mehr tragen. Das Fleisch ist so wabbelig und weiß wie ungebackene Brötchen. Gegen teigige Oberarme, Bauchspeck und welke Oberschenkel kämpfte Hanna wöchentlich zehn Stunden in einem Fitnessstudio. Wie eine Besessene arbeitete sie gegen den Verfall an. Dabei war ihr Gesicht so hart geworden wie ihr durch Bodybuilding gestählter Körper.
Hannas Gemütsverfassung hatte schon immer zwischen Euphorie und Depression geschwankt. Eine Mittellage kannte sie nicht. Sie war in beiden Phasen unerträglich. Als Jakob, ihr Mann, noch lebte, hatte er darauf geachtet, dass sie die verschriebenen Medikamente auch wirklich einnahm. Nach seinem plötzlichen Unfalltod vergaß sie es. Jakobs Tod war die größte Tragödie in Hannas Leben. Er war ihre große Liebe gewesen. Bei ihm hatte sie sich sicher und geborgen gefühlt. Alles, was er anpackte, war ein Erfolg geworden. Seine Forschungsarbeiten brachten ihm international höchste Anerkennung ein. Seine Sachbücher wurden Bestseller. Und Jakob war großzügig. An seinen Erfolgen ließ er alle teilhaben. Seine Freunde, seine Mitarbeiter und natürlich seine Familie. Sie feierten wunderbare Feste. Nichts konnte ihr Glück trüben.
Es war ihre Schuld, dass sie Jakob nach einem banalen Streit nicht aufgehalten, dass sie ihm nicht die Autoschlüssel weggenommen hatte. Wieder und wieder sah sie die hässliche Szene vor sich. Manchmal hatte Hanna Angst vor dem Schlaf. Dann kamen die Bilder, und sie war ihnen ausgesetzt.
In den ersten Monaten nach Jakobs Tod schien es, als würde Hanna ihr Leben gänzlich entgleiten. Sie begann zu trinken und verbrachte die Tage im Bett. Hanna hatte Angst vor der Zukunft. Sie hatte keine Berufsausbildung und keine Aussichten auf einen Job. Hanna fühlte sich überfordert und vom Leben betrogen. Sie sah sich allein und isoliert.
Vierunddreißig Jahre alt und Witwe mit zwei Kindern. »Mein Gott, warum musste ausgerechnet mir das passieren!«, dachte sie.
Claire war damals elf und Nadine acht Jahre alt. Abbilder ihrer schönen Mutter. Beide hatten sehr an ihrem Vater gehangen. Hanna spürte, dass die Töchter sie für seinen Tod verantwortlich machten. Und sie fühlte sich schuldig.
Als mitten in der Nacht die Polizei mit der Unfallmeldung vor der Tür gestanden hatte, hatte sie es nicht begriffen. »Das kann nicht mein Mann sein. Sie müssen sich täuschen!«, hatte sie immer wieder gesagt.
Hanna wurde mit einem Nervenzusammenbruch in ein Krankenhaus gebracht. Als Claire und Nadine von dem Unglück erfuhren, fühlten sie sich wie Waisen. Der geliebte Vater tot, die Mutter nicht ansprechbar in der Klinik.
Nachdem Hanna sich wieder gefangen hatte, entwickelte sie eine beängstigende Aktivität. Als Erstes kümmerte sie sich um die Finanzen. Nach Abzug aller Schulden blieb nicht viel übrig von Jakobs Lebensversicherung. Gerade so viel, dass sie Claire und Nadine in ein anständiges Internat schicken konnte.
Dann klapperte sie alle Agenturen ab. Ein Model mit vierunddreißig Jahren war nicht mehr gefragt. Es gab einige wenige Aufträge für zweitklassige Firmen. Hanna arbeitete als Bedienung in den Bars, in denen sie früher mit Jakob verkehrt hatte. Außer wunden Füßen brachte das wenig. Das Geld reichte kaum für die Miete der großen Altbauwohnung.
Simone, ihre Freundin aus Jugendtagen, die reich geheiratet hatte, lieh ihr immer wieder Geld. Hanna fühlte sich miserabel.
»So geht es nicht weiter«, sagte sie. »Ich muss einen Job finden, der mir zumindest meinen Lebensunterhalt sichert!« Hanna saß am Küchentisch, eine Flasche Rotwein neben sich. Ihr war zum Heulen.
»Was soll ich nur tun, um Geld zu verdienen?«, überlegte Hanna verbittert.
Der Bericht in einer Illustrierten über eine gewisse Madame E. und ihren boomenden Begleitservice war schließlich die Initialzündung. Hanna entsann sich der vielen Mädchen und jungen Männer, die bei den großen Agenturen regelmäßig abblitzten. Nach fünf Wochen hatte sie fünfzehn Mädchen und sechs Jungs engagiert. Alle gut aussehend, mehrsprachig und jung. Jetzt musste sie nur noch für ihr neues Unternehmen Reklame machen. Diskret, mit Charme und einigen Hundertern warb Hanna bei den Barkeepern und Hotelportiers der Stadt. Drei Monate später brummte das Geschäft. Hanna betrieb ihren Begleitservice mit viel Gespür für die Wünsche der Kunden. Sie wusste die Vorzüge eines jeden ihrer Schäfchen bestens zu schildern. Und dass sie sich über deren erotische Qualitäten oft nur in Andeutungen erging, gehörte zu ihrem Raffinement. Sie verkörperte für ihre Kunden die diskrete, etwas exzentrische Dame von Welt. Zu ihr kam man gern. Bei ihr fühlten sich die Kunden verstanden. Da gab es nichts Halbseidenes. Hanna, stets elegant gekleidet und perfekt aufgemacht, handelte die höchsten Preise aus. Dafür bekam sie von ihren Schützlingen ein Drittel des Honorars. Wenn sich mehr aus einem solchen Abend entwickelte, war dies nicht ihre Sache. Mit Prostitution wollte Hanna nichts zu tun haben.
Hanna machte es teuflischen Spaß, sich die Gesichter ihrer Freunde vorzustellen. »Schade«, sagte sie zu Simone, die Bescheid wusste. »Ich würde unsere ganze versnobte Clique so gern schockieren!« Hanna, so schien es nichts ahnenden Freunden, hatte ihr Leben wieder in den Griff bekommen.
So stark sie sich während des Tages gab, so sehr sank ihr Selbstwertgefühl, wenn sie allein war. Dann überfiel sie die Angst vor dem Alter und vor der Einsamkeit. Und sie begann wieder zu trinken. Nichts Hartes – Champagner, aber davon genügend. Sie sank immer öfter wie betäubt ins Bett.
Anfangs kamen Claire und Nadine noch jedes Wochenende nach Hause. Ohne zu ahnen, von welcher Art Hannas Agentur war, waren sie froh, dass ihre Mutter einen Job gefunden hatte, der sie wieder aufbaute. Bald aber merkten sie, dass Hanna trank. Dass sie dann ausfallend wurde. Dass sie sich wahllos Liebhaber ins Haus holte und alles andere als glücklich war. Als sie einmal einen besonders dümmlichen Kerl abgeschleppt hatte, verlangte Claire von ihrer Mutter, dass sie ihre Amouren dann ausleben solle, wenn sie allein zu Hause war. Hanna rastete völlig aus. Ihr Ton wurde schrill. Ihre Worte unflätig.
Danach blieben die Mädchen an den Wochenenden bei ihren Freunden. In den Ferien fuhren sie mit ihnen nach Italien oder Griechenland.
Einmal, als es Hanna besonders schlecht ging, als sie merkte, wie allein sie war, plante sie einen gemeinsamen Osterurlaub. Sie mietete ein Haus an der Côte d’Azur. Es sollte eine Überraschung werden. Es wurde ein Desaster. Claire und Nadine hatten ihre Ferien schon verplant. Als Hanna sie zwingen wollte, mit ihr zu reisen, fragten sie spöttisch: »Welchem Liebhaber willst du dich denn diesmal als gute Mutter präsentieren?«
Damals war Claire achtzehn Jahre alt und stand kurz vor ihrem Abitur. Hanna konnte die Abfälligkeit, mit der ihre Töchter sie behandelten, nicht fassen.
»Habt ihr denn gar keinen Respekt vor mir?«, fragte sie erregt. »Wie sprecht ihr bloß mit mir!«
Doch die beiden zuckten mit den Schultern und verließen das Haus. Simone jammerte sie vor, dass sie doch alles für ihre beiden Töchter täte. »Und jetzt das!« Sie weinte hysterisch: »Sie fordern ständig und denken nur an sich. Sie wollen, dass ihre Mutter Kuchen bäckt und Pflaster klebt. Ich soll da sein, wenn sie mich brauchen, und gefälligst unsichtbar werden, wenn ich sie störe. Ein eigenes Leben allerdings darf ich nicht führen! Das kann es doch nicht sein! Simone, sag: Sind alle Kinder so rücksichtslos?«
Simone, die Hanna seit der gemeinsamen Schulzeit kannte, wusste, dass es zwecklos war, der Freundin jetzt einen Rat geben zu wollen. Später, wenn ihr Zorn verraucht war, würde sie etwas dazu sagen.
Seit ihrem sechzehnten Geburtstag war Claire mit Simones Sohn Florian befreundet. Sie hatten sich, obwohl sie sich schon als Kleinkinder kannten, ineinander verliebt. Hanna, ohne Gespür für die Zerbrechlichkeit der ersten Liebe, fragte sie sofort, ob sie ›es‹ schon getan hätten. Dann wollte sie wissen, ob sie Präservative benutzten. Claire war zum Weinen, als sie spürte, wie wenig ihre Mutter sie verstand. Sie fand sie nur noch indiskret und aufdringlich.
Immer wieder versuchte Hanna, Claire und Nadine zu beweisen, wie viel sie ihr bedeuteten. Doch alles was sie anpackte, geriet zum Bestechungsversuch, lief auf den Tausch von Geld gegen Liebe hinaus. Sie kaufte Claire zum Abitur ein Auto. Nadine bekam zu ihrem achtzehnten Geburtstag einen Flug um die Welt geschenkt.
»Jetzt wissen wir endlich, wie viel du bereit bist, für unsere Liebe auszugeben«, spöttelte Claire, und Nadine sagte: »Was soll ich um die Welt fahren. Die Kaution für eine Wohnung hätte ich besser gebrauchen können!«
Doch es gab auch Zeiten, in denen die drei sich nahe waren. Jedes Jahr an Jakobs Todestag trafen sie sich in Hannas Wohnung. Sie bereiteten sein Lieblingsessen zu, spielten seine Platten und sprachen über ihn. Dann fielen sie sich weinend um den Hals. Fast schien es, als bedürfe es nur eines Zauberwortes und alle Streitereien würden sich als dumme Missverständnisse in Luft auflösen. In diesen Augenblicken spürte Hanna, wie sehr sich die beiden Mädchen nach ihrer Liebe sehnten. Glücklich schloss sie sie in die Arme. Sie hätte ihnen ihr Leben geben können. Aber solche Augenblicke vergingen schnell.
In Hannas Leben gab es keine Ziele. Ihre Träume hatte sie mit Jakob begraben. Jetzt wollte sie nur genügend Geld haben, um im Alter einigermaßen anständig leben zu können. Dabei hatte sie große Angst davor, diese Zeit mit einer konkreten Zahl festzuschreiben. »Irgendwann«, wischte sie den lästigen Gedanken weg, »wenn ich wirklich alt bin!«
Was ihre Töchter bewegte, davon hatte Hanna keine Ahnung. Sie versuchte sich manchmal ihre eigene Jugendzeit ins Gedächtnis zu rufen. »Was habe ich damals gefühlt, gedacht? Was hätte ich mir von meiner Mutter gewünscht? Wie war das, als ich zum ersten Mal mit einem Jungen geschlafen habe?« Das Ergebnis war kläglich. Die Vergangenheit lag für sie wie hinter einem Schleier. So, als habe sie die Jahre ihres Erwachsenwerdens gar nicht erlebt. Sie erinnerte sich an die ablehnende Haltung ihrer Mutter gegenüber jeder Art von Sexualität. Hanna hatte sich vorgenommen, mit ihren Töchtern nicht dieses Versteckspiel zu treiben. Sie wollte offen mit ihnen über alles reden. Aber sie fand keinen Zugang mehr zu ihnen. Claire und Nadine wurden ihr immer fremder.
Manchmal glaubte sie, so etwas wie Verachtung in ihrem Verhalten zu spüren. Sie verdrängte diese Beobachtung sofort. Warum sollten die Mädchen sie verachten? Sie tat doch alles für sie! Hanna erfuhr nicht, dass Claire Probleme mit Florian hatte. Sie sah nicht, dass Nadine immer mehr abmagerte. In den folgenden Jahren wurde es nicht besser. Manchmal näherten sich die drei einander an, dann wieder gab es Unfrieden, weil eine von ihnen ein falsches Wort gesagt hatte.
Zusammen wurden sie nirgends mehr eingeladen. Alle Freunde und Bekannten spürten die Spannung zwischen ihnen. Und niemand wollte sich Hannas unkontrollierten Zornesausbrüchen aussetzen, wenn sie zu viel getrunken hatte. Jetzt, fünfzehn Jahre nach Jakobs Tod, gab es doch wieder ein Fest, zu dem Hanna und ihre Töchter gebeten wurden: Florians Hochzeit.