Читать книгу Florians Hochzeit - Karin Dietl-Wichmann - Страница 8
4 Nadine
ОглавлениеNadine stand nackt vor dem Spiegel. Neugierig betrachtete sie ihren mageren Körper. Die kleinen Brüste mit den kaum wahrnehmbaren Brustwarzen, die knochigen Hüften. Die Oberschenkel ihrer langen dünnen Beine standen weit auseinander. Der dunkle Busch ihrer Schamhaare wirkte fremd auf diesem hageren kindlichen Becken. Nadine drehte sich zur Seite. Sie fand ihre milchweiße Haut ekelhaft. Wie ein Erdwurm, farblos und so weich, dass jede feste Berührung Male hinterließ.
Früher war sie ein dickes Kind gewesen. Rund, fröhlich und immer hungrig. »Speckie« hatten sie die Kinder gerufen. Aber es war ihr egal gewesen. Sie aß nicht aus Frust, sondern weil es ihr schmeckte. Dann starb ihr Vater. Er war achtundvierzig Jahre alt geworden. Das Chaos brach aus. Ihre Mutter verfiel in eine tiefe Depression.
Ein Jahr nach dem Tod ihres Vaters hatte Nadines Mutter einen Freund. Buzz zog in die Wohnung der Familie. Nadine war damals neun Jahre. Ihre Schwester war zwölf. Buzz war Maler.
Die beiden Mädchen interessierten ihn nicht. Buzz kam und ging, wie er Lust hatte. Hanna gefiel das nicht. Aber Buzz ließ sich nichts von ihr sagen. Wenn Buzz sie bestieg, und das tat er jede Nacht, dann hörte Nadine sie stöhnen. Erst hatte sie sich ein Kissen übers Gesicht gezogen, dann verlangte sie von ihrer Mutter ostentativ Ohropax. Nadine verstopfte sich die Ohren – aber von ganz weit her hörte sie noch immer das Seufzen und Stöhnen ihrer Mutter. Manchmal, wenn sie nicht rechtzeitig die Ohren verkleistert hatte, hörte sie, wie Buzz überschwenglich die Formen der Mutter lobte. Sie ekelte sich. Ekelte sich so sehr, dass sie beschloss, alle weiblichen Attribute, die sich bei ihr zu zeigen begannen, zu eliminieren. Nadine wurde magersüchtig. Sie aß kaum mehr etwas und tat sie es doch, hing sie kurz darauf über der Kloschüssel und erbrach sich. Nur nicht wie Hanna werden, dachte sie. Nach einem Jahr war Buzz verschwunden und ein Jürgen wurde der Gespiele ihrer Mutter. Das Schauspiel blieb das Gleiche. Mit dem einzigen Unterschied, dass Nadine und Claire an den Wochenenden nicht mehr nach Hause kamen.
In den kommenden Jahren entfernten sich Nadine und ihre Schwester immer mehr von ihrer Mutter. Beide glaubten, dass Hanna nur noch ihren Job und die Kerle im Kopf hatte.
Nadine war mittlerweile siebzehn Jahre alt und hatte auf nichts Lust. Nicht auf die Schule und auch nicht auf Jungs. Claire war inzwischen nach Berlin gegangen und machte eine Lehre als Kostümbildnerin; Nadine wollte am Ende des Schuljahres zu ihr ziehen. Ganz gleich, was Hanna dazu meinte.
»Sie wird nicht einmal bemerken, dass ich nicht mehr im Internat bin«, sagte Nadine und fügte trotzig hinzu: »Ob sie überhaupt noch weiß, wie wir aussehen?«
Hannas Bank überwies ein halbes Jahr lang den Internatsbeitrag für Nadine. Dann rief der Direktor an und teilte Hanna mit, dass Nadine sich abgemeldet hatte. Sie hatte auch eine von der Mutter unterschriebene Einverständniserklärung abgegeben. Hanna wütete schrecklich. Sie rief Claire an und erfuhr, dass Nadine bei ihr in Berlin lebte.
»Irgendwann werdet ihr angekrochen kommen! So gut wie zu Hause habt ihr es doch nirgends sonst!«, prophezeite sie Nadine, als sie diese endlich ans Telefon bekam.
»Das glaubst du wirklich?«, fragte Nadine. »Du tickst ja nicht mehr richtig!«
Auch wenn ihr Hanna irgendwie fast Leid tat, fand sie andererseits, dass ihre Mutter an allem schuld war, was bei ihr schief lief. Und es lief einiges schief.
Nadine wusste, dass etwas mit ihr nicht stimmte. Claire war ganz anders. Sie hatte Ziele, Wünsche und Affären. Vielleicht war es das, was ihr selbst fehlte. Einmal hatte sich Nadine in einer Diskothek einen Typen aufgerissen. Bis dahin hatte sie noch mit keinem Jungen geschlafen. Sie brachte ihn in ihre Wohnung. Nick war angetrunken und roch nach Pommes und Currywurst. Nadine zog nur ihre Jeans und den Slip aus. Nick arbeitete sich aus seinen Kleidern und fummelte an ihr herum. Es tat weh, als er in sie eindrang. Er merkte nicht einmal, dass sie noch Jungfrau war. Als er fertig war, stieß ihn Nadine von sich. Er drehte sich um und wollte einschlafen. Nadine stand auf, warf ihm seine Kleider zu.
»Mein Freund kommt gleich«, behauptete sie. »Zieh Leine!«
Danach duschte sie, überzog das Bett neu und überlegte, ob es das nun gewesen war.
Nadine holte sich noch viele Typen ins Bett. Sie sah ihnen dabei immer direkt ins Gesicht. Beobachtend und verächtlich. Sie registrierte die Röte, die sich bei wachsender Erregung über den Hals ins Gesicht ausdehnte. Wie sie alle keuchten, den Mund halb geöffnet. Manche waren danach ganz lieb. Sie versuchten, sie zu streicheln und flüsterten dumme Sachen. Für Nadine waren sie alle Studienobjekte. Denen, die sie gar nicht leiden konnte, sagte sie zum Abschied: »Du siehst beim Ficken einfach zu blöd aus!«
Ganz kurze Zeit fühlte sie sich gut. Sie war diesen Kerlen überlegen. Sie war im Gegensatz zu ihrer Mutter nicht abhängig vom Sex, auch war sie nie verliebt.
Nadine wusste, dass sie keine tiefen Gefühle für andere Menschen aufbringen konnte. Sie sah Claire, die fröhlich oder traurig war. Die sich verliebte, sich von ihren Männern trennte oder verlassen wurde. Nadine beneidete sie um diese Erlebnisse. Hin und wieder traf sie jemanden, der sie interessierte.
Manchmal gab es auch gute Gespräche, gemeinsame Unternehmungen oder einen flüchtigen Kuss. Aber dann hatte Nadine Angst, wieder ein froschäugiges Ungeheuer über sich zu haben. Sie zog sich zurück.
Nadine taumelte durchs Leben. Sie hatte keine Pläne, sie war weder glücklich noch unglücklich. »Ich fühle nichts!«, sagte sie zu ihrer Schwester. »Manchmal glaube ich, dass es mich gar nicht gibt!«
Um wenigstens irgendetwas zu spüren, fügte sie sich selbst Schmerz zu. Zuerst mit einer Nadel, die sie sich in die Finger stach. Dann mit einer Rasierklinge. Es war, als wolle sie den Schmerz ihrer Seele sichtbar machen. Wenn das Blut aus den Wunden tropfte, verspürte sie eine Art Befriedigung. Der Druck, von dem Nadine nicht wusste, woher er kam, wich für kurze Zeit von ihr.
Seitdem nahm Nadine immer, wenn ihr das Leben unerträglich war, eine Rasierklinge und schnitt an ihrem Körper herum. Nach dem Bauch kamen die Beine dran. Später, wenn das allererste Gefühl der Befreiung vergangen war, schämte sie sich. Ihre Narben versteckte sie vor Claire. Die Sucht, sich selbst zu verletzen, wurde immer schlimmer. Kein Tag, an dem sie nicht zur Rasierklinge griff. Es kam der Zeitpunkt, an dem Nadine sich auf der Suche nach einer nicht verletzten Stelle ihres Körpers die Pulsschlagader der linken Hand aufschnitt. Sie tat es gekonnt. Sie schnitt senkrecht, damit sie ganz viel Blut sehen konnte. Nadine empfand Müdigkeit und Zufriedenheit wie ein warmes Bad. Sie war zufrieden.
Claire fand ihre Schwester halb verblutet im Bett. Vergeblich versuchte Nadine ihr zu erklären, dass sie sich nicht hatte umbringen wollen.
Im Krankenhaus bekam sie Besuch von einer Psychologin. Die fragte Nadine, ob sie aus Liebeskummer hatte sterben wollen.
»Ich kenne keinen Liebeskummer«, antwortete Nadine erstaunt. »Ich war noch nicht einmal verliebt!«
Die Frau schüttelte ärgerlich den Kopf. »Dann klappt es in der Schule nicht?«, fragte sie.
»Ich gehe schon lange nicht mehr in die Schule!«, sagte Nadine.
Ungeduldig wollte die Psychologin wissen: »Oder im Job!«
»Ich jobbe auch nicht!«
Jetzt hatte sie genug. »Wenn Sie nicht mitarbeiten wollen, kann ich Ihr Problem auch nicht lösen!«, fuhr sie Nadine an.
»Wer sagt denn, dass ich ein Problem habe?« Nadine machte dieses Frage-und-Antwort-Spiel langsam Spaß.
»Warum wollten Sie sich denn sonst umbringen?«, fragte die Psychologin genervt.
»Ich wollte mich nicht umbringen! Ich habe einfach nur gespielt. Mein Körper gehört mir, oder etwa nicht?«
»Unsere Zeit ist um«, sagte die Psychologin sichtlich verstimmt. »Ich sollte Ihnen vielleicht einen anderen Kollegen schicken!« Sie stand auf und verschwand.