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1.1.4Frauen kommen zu kurz

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Die meisten Menschen tun nicht das, wonach sie sexuell verlangen, sondern das, von dem man ihnen beigebracht hat, dass sie es tun sollten (Perel 2016). Ein Mangel an Lust bedeutet z. B. nicht unbedingt einen Mangel an Sexualität: Ein großer Teil der heterosexuellen Frauen hat mehrmals im Monat Sex, ob sie daran interessiert sind oder nicht. Viele Frauen fühlen sich unter Druck gesetzt, Geschlechtsverkehr in ihren intimen Beziehungen zu haben, und der Druck wird durch die Betonung des Sexuellen in unserer Gesellschaft unterstützt (Hall 2004). Hinzu kommt, dass bis heute noch viele Frauen sich damit schwertun, dem Partner Anleitungen für ihre Befriedigung zu geben oder zu signalisieren, dass sie bisher keinen Orgasmus hatten (von Sydow u. Seiferth 2015).

Dies mag auf den ersten Blick vielleicht etwas übertrieben wirken. Aber die Forschung zeigt, dass heterosexuelle Frauen im wahrsten Sinne des Wortes immer noch zu kurz kommen. Während die Kriterien für sexuelle Dysfunktionen zum größten Teil immer noch auf den Geschlechtsverkehr zielen, haben mindestens zwei Generationen von Sexualforschern belegt, dass ungefähr drei Viertel der Frauen durch Geschlechtsverkehr nicht befriedigt werden, sie brauchen klitorale Stimulation und ein sogenanntes Vorspiel (Ogden 2008). Seit dem Kinsey-Report weiß man, dass es beim Koitus große Unterschiede in puncto Häufigkeit des Orgasmus von Frauen (27 %) und Männern (80 %) gibt, wozu sogar Kinsey schon äußerte, dass dies »von erheblicher sozialer Bedeutung ist« (Kinsey 1953, S. 398). Diese »Orgasmuskluft« ist, obwohl sie seit mehr als einem halben Jahrhundert bekannt ist, leider weiterhin sehr prominent: Moderne Studien zeigen immer wieder, dass nur ein Viertel der heterosexuellen Frauen einen Orgasmus beim Geschlechtsverkehr hat, im Gegensatz zu ca. 90–95 % der Männer. Gleichzeitig erleben ungefähr 50 % der Frauen gelegentlich Schmerzen beim koitalen Sex und 10 % jedes Mal (van Lunsen e. Laan 2017). Wenn sie zudem nicht mit der Freude am Orgasmus belohnt werden, lernen sie also nicht, dass Sex etwas Schönes ist. Wie sähe es mit der Lust der Männer aus, wenn die Zahlen umgekehrt wären, d. h., wenn die meisten Frauen beim Geschlechtsverkehr Orgasmen hätten, aber drei Viertel der Männer dabei frustriert und unerfüllt blieben? Vielleicht lässt sich so besser verstehen, wie der Mythos, dass Frauen im Vergleich zu Männern weniger Lust haben, entstehen konnte.

Dementgegen wird die Sexualität von Männern zu einer unaufhaltsamen und unwillkürlichen Kraft reduziert, die vom Kontext unberührt bleibt. Die Daten unterstützen diese Unterscheidung nicht, genauso wenig wie die Erfahrungsberichte aus der klinischen Welt. Außerdem ist die Etablierung einer eigenen Triebtheorie für Männer eine sozial gefährliche. Auch der männliche Sexualtrieb, obwohl er stärker zu sein scheint, wird von sozialen Kräften, Beziehungen und dem Selbstwertgefühl beeinflusst, und der vermeintlich spontane Wunsch der Männer ist keine rein biologische Kraft, die nach einem Ventil sucht. Die Sexualität von Frauen scheint zwar beziehungsorientierter zu sein, verschiedene Untersuchungen stellen diese Annahme jedoch wieder infrage (Meana 2010). Die Botschaft, mit der sehr viele weiter aufwachsen, ist »Richtige Männer landen Treffer« und »Brave Mädchen tun es nicht«, eine Dynamik, die die Leidenschaft bei unzähligen Paaren zerstört (Ogden 2008). Es geht hier nicht darum zu diskutieren, inwieweit die Sexualität von Männern und Frauen gleich ist, es geht darum, die Ungleichheiten der sozialen Kontexte im Auge zu behalten, weil diese einen wesentlichen Teil des Problems darstellen.

Trotzdem liegt bis heute den Abbildungen und Texten im Biologieunterricht eine Vorstellung der Komplementarität von Mann und Frau zugrunde, die weder dem aktuellen Forschungsstand entspricht noch für das sexuelle Erleben der Frau günstig ist (Beck 2016). Es geht um die Vorstellung, dass Penis und Vagina gleichgestellt sind, obwohl es die Klitoris ist, die das eigentliche sexuelle Organ der Frau darstellt. Sie ist übrigens viel größer als der äußerlich sichtbare Teil.

Einführung in die systemische Sexualtherapie

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