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1.2Sexualtherapie in einer vielfältigen Welt

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Wenn es um Sex und Sexualität geht, begibt man sich in eine Welt von Unklarheiten und mehrfachen Bedeutungen. Dazu kommt, dass Sex und Geschlechtsidentität heutzutage kontrovers beladene Begriffe sind, was die Arbeit mit dem Thema für manche zu einer kaum zu bewältigenden Aufgabe machen kann (Iasenza 2010). Deswegen ist es wichtig, Therapeuten zusätzliche Fertigkeiten und Kenntnisse anzubieten, die sie in einer systemischen Psychotherapieausbildung nicht unbedingt erhalten haben. Leider ist es aber so, dass in den meisten Literaturlisten von Paartherapiekursen keine Referenzen zur Unterstützung der Behandlung sexueller Probleme aufgeführt sind. Dies kann den Eindruck erwecken, dass die Sexualtherapie ganz von der Paar- und Familientherapie abgetrennt wird. Das Thema Sexualität fehlt sogar vollkommen in der üblichen systemischen Literatur (Markovich 2007) und spiegelbildlich gibt es in der klassischen Sexualtherapie keinen Platz für systemisches Denken. In den klassischen Ausbildungen zur Sexualtherapie lernt man viel über funktionellen sexuellen Kontakt, aber wenig darüber, wie man sexuelle Intimität fördert (Kleinplatz 2012a). Darum funktioniert die klassische Sexualtherapie am besten bei Paaren, die außer ihrer Sexualität sonst keine Probleme miteinander haben (von Sydow u. Seiferth 2015). In allen anderen Fällen machen die Klienten die Hausaufgaben, die man in der klassischen Sexualtherapie mitgibt, einfach nicht oder es kommt zum Therapieabbruch (Ogden 2008).

Erst in jüngerer Zeit haben Sexual- und Paartherapeuten ernsthaft versucht, diese beiden Bereiche zu integrieren und zu erforschen, wie Sexualität und Intimität als anspruchsvolle Systeme funktionieren und interagieren (Schnarch 1997). Deswegen kann man auch argumentieren, dass alle neueren paartherapeutischen Ansätze zur Behandlung von sexuellen Problemen systemisch sind, insofern als sie Regelkreise des Zusammenspiels der Partner analysieren und zu verändern suchen und ressourcenorientiert arbeiten (von Sydow u. Seiferth 2015).

Auf theoretischem Niveau ist es eine Selbstverständlichkeit, das Thema Sex zu behandeln. Eine andere Sache ist es, sich in einer Sitzung aktiv damit zu befassen. Das fühlt sich für viele Therapeuten heikel an, vielleicht ist es sogar ein Thema, das manche überfordert. Wichtig ist zu wissen, dass sexuelle Krisen nicht unbedingt bedeuten, dass eine Beziehung auseinanderfällt – sie können sogar ein entscheidender Impuls für einen Wachstumsprozess des Paares sein. Als Therapeuten fühlen viele sich allerdings schlecht auf das Thema vorbereitet, nicht nur, weil es in den meisten Ausbildungen nicht thematisiert wird, sondern auch, weil zahlreiche Menschen sich immer wieder Gedanken oder Sorgen über die eigene Sexualität machen und die vielen Unsicherheiten, die damit verbunden sein können: ein wichtiger Punkt, sich mit der eigenen Sexualität zu beschäftigen, um als Therapeut gut mit dem Thema arbeiten zu können. Nur so wird einem bewusst, welche Themen einem eher liegen als andere, nur so versteht man die eigenen Werte und Vorstellungen von Sex besser und nur durch Selbstreflexion und den Austausch mit Kollegen sowie dem eigenen Therapeuten bzw. Supervisor kann man empathischer auf Klienten eingehen, denen es schwerfällt, in einer Sitzung offen über das Thema zu sprechen.

Die Sexualtherapie ist bei sexuellen Problemen auch von daher besonders effektiv, da andere Therapieformen diese nur als Symptome tieferer emotionaler Probleme betrachten. Bis zum Aufkommen der Sexualtherapie konnten Menschen Jahre auf der sprichwörtlichen Couch verbringen, ohne jemals ihre sexuellen Probleme direkt zu thematisieren (Hall 2004). Allerdings besteht ein großes Defizit an Ausbildungsmöglichkeiten in der Sexualtherapie und es ist äußerst selten, dass sie interdisziplinär angeboten wird (Kleinplatz 2012a). Dies kann mit der Vorstellung zu tun haben, dass, wenn man die Beziehungsdynamik verbessert, der Sex von alleine wieder funktioniert. Das kann durchaus passieren, wenn Paarkonflikte mit im Spiel sind. Allerdings geschieht es auch oft, dass sich zwar die Beziehungsdynamik verändert hat, der Sex aber trotzdem nicht besser wird. Veränderungen im Leben oder in der Beziehung vorzunehmen, um das zu korrigieren, was aus dem Gleichgewicht gekommen ist, führt nicht automatisch zu einem Wiederaufleben der sexuellen Lust. Außerdem kann man in Verhaltensmustern stecken und steckenbleiben, die das sexuelle Erleben auf einem sehr niedrigen Lustniveau aufrechterhalten.

Die Sexualwissenschaft würde den Menschen besser dienen, wenn sie sich mehr auf das sexuelle Vergnügen anstatt nur auf »genug Sex« konzentrieren würde. Erotik passt nicht gut zur Medikalisierung der Sexualität und der Betonung von Tumeszenz, Lubrikation, Orgasmus und »sexueller Gesundheit«. Die erotische Landschaft ist wesentlich größer, reicher und komplizierter als die Physiologie des Geschlechts oder ein Repertoire an Sexualtechniken. Paare in langjährigen Beziehungen, die einen erotischen Funken beibehalten haben, wissen, wie man auf lange Sicht ein Gefühl von Lebendigkeit, Lebensfreude und Vitalität pflegt. Sie verstehen, dass ein zentraler Akteur der Erotik die Fantasie ist. Nicht unbedingt Fantasien, die sich auf die Vielfalt neuer sexueller Positionen konzentrieren, sondern solche, die dazu beitragen, dass wir uns und unseren Partner weiterhin mit einer faszinierenden Neugierde betrachten und interessant und attraktiv für uns selbst bleiben (Perel 2010).

Die Forschung und klinische Untersuchungen können einen großen Beitrag zur Förderung der Inklusivität und zur Berücksichtigung der Vielfalt des gesamten Spektrums sexuellen Verlangens leisten (Meana 2010). Das menschliche Begehren gedeiht nicht, indem erklärt wird, was eine »richtige« oder eine »gute« Sexualität ist – Sexualität ist vielfältig. Und das Begehren will nicht in Kategorien eingeengt werden. Dafür ist Erotik zu anarchistisch.

Der systemische Grundgedanke, dass die sexuelle Funktion eines Partners immer einen Einfluss hat auf den anderen Partner, ist offensichtlich wichtig. Die systemische Sichtweise ist auch dann hilfreich, wenn man mit Menschen arbeitet, die Beziehungen außerhalb des traditionellen Verständnisses von Monogamie führen. Eine mittlerweile substanzielle Anzahl an Menschen lässt Ausnahmen davon zu. Manche Paare haben Verabredungen, dass man auf Geschäftsreisen mit anderen schlafen darf, andere haben die Regel, nur einmal mit dem gleichen und nur außerhalb des Freundeskreises Sex haben zu dürfen. Wieder andere haben eine feste Beziehung mit einem Dritten, der auf viele Weise in den Alltag mit einbezogen werden kann. Noch andere führen offene Beziehungen mit einem primären Partner und weiteren Liebespartnern. Und schließlich gibt es diejenigen, die polyamorös leben, wenn mehrere Partner gleichgestellt sind. Anders-gesagt: es gibt eine Vielzahl an Möglichkeiten, wie Beziehungen geführt werden, und es ist gut, sich zu vergegenwärtigen, dass Monogamie eher an eine Kultur gebunden ist, als dass sie einen universellen natürlichen Zustand darstellen würde (Weeks, Gambescia a. Hertlein 2016).

Einführung in die systemische Sexualtherapie

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