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1.3Die vorherrschende Tendenz

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Begriffe wie »gesund« und »normal« werden in der Sexualwissenschaft ständig benutzt und kommunizieren auf diese Art einen verengten Blick auf eine Sexualwissenschaft, in der die nicht biologischen Aspekte fast komplett ausgegrenzt werden (Meana 2010). Eine ähnliche Tendenz, die man sowohl bei Laien als auch Forschern beobachten kann, ist, dass sehr viele davon ausgehen, dass Menschen Sex haben möchten. Das heißt, wenn jemand mit nur geringer Lust in eine Sexualtherapiesitzung kommt, ist das Ziel für viele Therapeuten, die Lust zu erhöhen. Wer würde schließlich keinen Sex mögen? Also wird die Sitzung bestimmt von dem Ziel, herauszufinden, was die geringe Lust verursacht. Keiner fragt, warum der andere Partner mit dem höheren Lustlevel Sex haben will. Es wird einfach davon ausgegangen, dass Lust auf Sex angeboren und gesund ist (Hall 2004). Aber die Sichtweise, dass eine Störung des sexuellen Verlangens bei dem Individuum bestehen muss, das ein geringeres Bedürfnis zeigt, ist zu eingeschränkt. Es ist hilfreicher, das Symptom als Hinweis auf eine Diskrepanz zwischen dem sexuellen Verlangen beider Partner zu verstehen. Dieses alternative Verständnis lenkt den Therapeuten auf eine zwischenmenschliche Betrachtung des sexuellen Begehrens und weg von einer linearen Sichtweise, dass etwas innerhalb des Individuums »defekt« sei (Sanders 2003).

Mittendrin in Beziehungsproblemen haben nur wenige den Mut anzunehmen, dass die Überzeugungen, die wir mit vielen Paaren teilen, die Quelle unserer Probleme sind. Beispiele solcher Auffassungen sind, dass Lust spontan entstehen soll oder dass Sex immer Spaß macht. Wir denken, dass Probleme mit der Sexualität dadurch verursacht werden, dass wir fehlerhaft oder unnormal sind. Aber Probleme können gerade normale Reaktionen auf unrealistische Überzeugungen sein, die unsere Gesellschaft durchdringen. Letztendlich weichen wir alle ab von der Norm, aber nur in Bezug auf stark verzerrte Vorstellungen von Normalität (de Botton 2012).

Das Auftreten von Beziehungsschwierigkeiten generell ist allerdings kein Problem, das »gelöst« werden kann. Probleme sind ein fester Bestandteil einer Beziehung, die alle Paare irgendwann erleben, wenn sie lange genug zusammen sind. Es sind die unrealistischen Überzeugungen und Bilder von glücklichen Paaren, die uns nicht darauf vorbereiten, effektiv mit diesen Herausforderungen umzugehen. Die »Lösung« sexueller Schwierigkeiten kann eine persönliche Entwicklung erfordern, wie erotisches Wachstum und Reife, anstatt neue Techniken und Fähigkeiten zu erlernen (Schnarch 1997).

In diesem Sinne denken nicht viele daran, dass zum Beispiel ein Mann, der in Panik gerät, wenn er keine Erektion bekommt und so seine »Aufgabe« nicht erfüllen kann, bereits unter den Anforderungen von »normalem« Sex leidet, d. h. unter dem Paradigma, Leistung zeigen zu müssen (Apfelbaum 2012). Damit ist natürlich gemeint, dass sein Glied steif sein muss und zu funktionieren hat, wodurch Ängste entstehen können. Sowohl junge als auch ältere Menschen stellen heutzutage eine Abnahme ihrer Lust fest und suchen deswegen Hilfe. Männer mit niedrigem Lustniveau haben oft sekundäre Erektionsstörungen und glauben deswegen, keinen Sex »liefern« zu können (Leiblum 2010).

Eine schwache oder ausbleibende Lust ist eine der häufigsten Herausforderungen in der heutigen Sexualtherapie. Aus klinischer Sicht sehen wir viele Menschen, die ihren verminderten Wunsch bedauern und ihre sexuelle Leidenschaft wiederherstellen oder wieder entfachen wollen. Mehr und mehr Klienten beschreiben ihre sexuellen Probleme weniger entlang der Erzählstruktur »Es klappt nicht«, sondern eher als »Ich habe keine Lust mehr«. Damit ist die Bedeutung des Funktionierens in den Hintergrund gerückt, möglicherweise auch für diejenigen, die objektive sexuelle »Störungen« haben. Die damit verbundene Beeinträchtigung ihrer Lust wird eher als das zentrale Problem erlebt, unabhängig von der Funktion (Clement 2004).

Einführung in die systemische Sexualtherapie

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