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ОглавлениеKapitel 6
Donnerstag, 11. September 2014; 13:53 Uhr
Mit quietschenden Reifen bog Nils um die Ecke und parkte seinen titansilbernen BMW Z4 am Rand des Friedhofes. Hastig stieg er aus dem Wagen und stürmte durch das schmiedeeiserne Tor. Er stolperte über einen Ast, strauchelte und fiel auf den nassen Kiesweg. Glücklicherweise konnte er den Sturz mit einer Hand abfangen, sodass sein dunkler Maßanzug verschont blieb. Fluchend stand er auf und rieb sich die Hände. Auf der rechten Handinnenfläche quollen feinste Blutstropfen aus der Haut. Er wischte sie mit einem Taschentuch ab und setzte genervt seinen Weg fort. Der Regen prasselte erbarmungslos auf die Trauergäste herab, die unter einem gewaltigen Dach schwarzer Regenschirme dem Sarg folgten. Der kräftige Wind, beinahe so stark wie ein ausgewachsener Herbststurm, verfing sich unter den zahlreichen Schirmen, zog sie zur Seite und nach oben, sodass die trauernde Menge wenig Schutz vor dem peitschenden Regen fand. Nils holte den Trauerzug ein, kurz bevor dieser das ausgehobene Grab erreichte, nicht ohne einen erzürnten Blick seines Vaters zu ernten. Der schwere Eichensarg wurde vorsichtig auf die Holzlatten, die quer über dem Grab lagen, herabgesenkt. Es dauerte einen Moment bis sich alle Gäste in einem Halbkreis unter den alten Eichen und Hainbuchen versammelt hatten. Während aus den Lautsprechern Over the rainbow ertönte, blickte Nils gedankenverloren auf die opulenten Rosengestecke, die den Sarg dekorierten. Ein imposantes Herz aus roten und weißen Rosen zierte die Vorderseite, gelbe und rote Rosen kombiniert mit weißen Lilien schmückten den Sargdeckel. Rund um das Grab lagen prächtige Kränze und Blumengestecke aufgereiht und bildeten die einzigen Farbtupfer an diesem grauen Tag. Als Judy Garland ihren Gesang beendet hatte, begann der Pastor mit seiner Rede. Hoffentlich braucht er nicht so lange, dachte Nils genervt. Bei diesem Schmuddelwetter wäre er jetzt viel lieber zu Hause in seinem Fitnessraum und würde nach dem Training in der Sauna entspannen. Er absolvierte täglich ein hartes Trainingsprogramm. Sein größter Wunsch war es seit Kindheitstagen, Profi-Basketballer zu werden. Doch mit einer Körpergröße von einem Meter achtzig war er leider zu klein dafür. Dieses Manko versuchte er, mittels eines durchtrainierten Körpers auszugleichen.
Es hätte überhaupt keinen Sinn gehabt, mit seinem Vater über die Teilnahme an dieser Beerdigung zu diskutieren. Karl Schuster war ein langjähriger und guter Freund der Familie Ellerson und somit hatte Nils' Vater das Begräbnis auf seine Kosten organisieren lassen. Außerdem würde sich die örtliche Presse maßlos darüber auslassen, wenn die Familie Ellerson bei einem öffentlichen Ereignis nicht zusammen auftrat. Die Ellersons genossen innerhalb der Bayreuther Gesellschaft ein hohes Ansehen, waren äußerst wohltätig und daher auf Benefizveranstaltungen gern gesehen. Sie galten als eine der reichsten Familien der Stadt. Herr Ellerson war ein renommierter Staranwalt, der von seinem Sohn erwartete, dass dieser selbstverständlich ebenfalls nach erfolgreicher Beendigung des Studiums in die Kanzlei eintrat. Doch das eigentliche Vermögen und Ansehen der Familie hatte Nils Mutter mit in die Ehe gebracht. Sie stammte aus der Bankier-Familie von Otterbach, in deren Besitz sich seit drei Generationen ein angesehenes privates Bankhaus befand.
Nils sah hinüber zu Robert. Er stand gemeinsam mit Julia, etwas abseits von seinen Eltern, die heute Morgen aus Leipzig angereist waren. Entweder konnte er hervorragend Haltung bewahren oder der plötzliche Tod seines Großvaters ging ihm nicht sonderlich nahe. Absolut keine Gefühlsregung war in seinen Gesichtszügen zu erkennen. Seine grauen Augen strahlten eine eisige Kälte aus, anders als Nils ihn in Erinnerung hatte. Zwar hatte er bisher nicht viel mit ihm zu tun gehabt, sie sahen sich jedoch regelmäßig auf den üblichen familiären Treffen wie Geburtstagsfeiern und anderen Anlässen. Seit Robert mit seiner Schwester Julia liiert war, wurden nicht nur Karl Schuster, sondern auch dessen Enkel Robert eingeladen.
Die Beerdigung zog sich qualvoll in die Länge. Vereinzelt drang ein unterdrücktes Schniefen und Schluchzen an Nils Ohr. Er blickte auf seine brennende Handfläche. Feine rote Linien zogen sich längs über den Handballen, die punktförmigen Blutungen waren längst getrocknet.
Nachdem der Pastor eine schier endlose Rede gehalten hatte, folgte nun eine Trauerrede von Nils Großvater, Jasper Ellerson. Er holte weit aus und ging in die gemeinsame Vergangenheit zurück bis nach Schweden, wo sich die beiden Männer kennengelernt hatten. Nils Großvater stammte aus Karlstad. Er erzählte davon, wie er 1939 den jungen Karl Schuster, Sohn des damaligen persönlichen Sekretärs des deutschen Botschafters in Schweden, kennengelernt hatte und wie die beiden jungen Männer eine Freundschaft fürs Leben geschlossen hatten. Es folgte eine Reihe von Erzählungen aus den nächsten zehn Jahren in Schweden, einer Zeit, in der die beiden Freunde viel gemeinsam erlebt hatten. Jasper holte ein weißes Leinentaschentuch aus seiner Hosentasche, schnäuzte sich geräuschvoll und tupfte sich die rotgeränderten Augen ab. Die Rede ging weiter mit der Abberufung der Familie Schuster aus der Botschaft, deren Rückkehr nach Deutschland und endete schließlich mit Jaspers Umzug nach Deutschland, wo er 1975 einen Gastlehrauftrag für internationales Recht an der neu gegründeten Universität Bayreuth angenommen hatte. Er schien ehrlich erschüttert über den Tod seines langjährigen Freundes zu sein, der so plötzlich und unerwartet verstorben war. Als er die Rede beendet hatte, musste er von seiner Schwiegertochter auf der einen und von seiner Enkelin auf der anderen Seite gestützt werden.
Nils hatte jetzt noch eine Rede von Roberts Vater erwartet, die jedoch ausblieb. Richard Schuster blickte ausdruckslos auf den Sarg seines Vaters und machte keine Anstalten, ein paar Worte zu sagen. Nils wunderte sich über dessen Verhalten, atmete jedoch erleichtert auf, als der Sarg endlich hinabgelassen wurde. Er reihte sich hinter seiner Schwester Julia ein, trat an das offene Grab heran und warf eine Handvoll Erde hinein. Anschließend beeilte er sich, das Friedhofsgelände zu verlassen, um nicht mit seinem Vater sprechen zu müssen. Seine Eltern würden noch heute Nachmittag nach Südfrankreich aufbrechen, somit konnte sich Nils in Ruhe auf seine Party für Freitagabend vorbereiten.