Читать книгу Blutrune - Karina Reiß - Страница 6
ОглавлениеKapitel 1
Freitag, 5. September 2014; 15:45 Uhr
»Unsere Zeit ist leider um, für heute müssen wir zum Ende kommen«, sagte Doktor Vogler mit einem Blick auf seine elegante Armbanduhr.
»Wie geht es jetzt weiter?« In ihrem Kopf kreisten die Gedanken unaufhörlich und sie war nicht fähig, die vielen Informationen der vergangenen Stunde zu sortieren. Eine bleierne Müdigkeit erfasste ihre Arme und Beine. Das letzte Mal war sie vor acht Jahren bei einem Psychotherapeuten gewesen und hatte sich damals geschworen, nie wieder zu einem Seelenklempner zu gehen.
Sie trocknete ihre feuchten Hände an der Jeans ab. Obwohl sie in einem bequemen Ledersessel saß, empfand Konstanze die Situation als beklemmend. Sie versuchte zu schlucken, ihr Mund war staubtrocken, als hätte sie tagelang die Wüste durchquert. Der würzige Geruch von Kräutertee lag in der Luft und verstärkte den unstillbaren Durst. Sie erinnerte sich, beim Betreten des Raumes eine Teetasse auf dem Schreibtisch gesehen zu haben. Der Therapeut nahm seine Lesebrille vom Glastisch und setzte sie umständlich auf. Er griff nach dem in dunkelbraunen Leder gebundenen Terminplaner und blätterte darin. Das Rascheln der Seiten erschien Konstanze unnatürlich laut.
»Freitagabend hätte ich noch eine Lücke, um Sie vorerst für einen wöchentlichen Termin unterzubringen.« Er wirkte seltsam verloren in dem voluminösen Sessel.
»Ja, das passt mir.«
»Gut Frau Hartenbach, dann sehe ich Sie am Freitag um neunzehn Uhr. Ich denke, in zwei bis drei Wochen haben wir auch Antwort von Ihrer Krankenkasse. Ich habe jedoch keine Zweifel daran, dass Ihnen die Therapie genehmigt wird.« Er stand auf und streckte ihr seine Hand entgegen. Sein Händedruck war warm und kräftig, voller Energie. Konstanze verabschiedete sich und ging nach draußen ins Wartezimmer, wo ihre Tante geduldig auf sie wartete.
»Lass uns irgendwo eine Kleinigkeit essen gehen«, sagte Konstanze und zog den Mantel über.
»Eine gute Idee.« Mit einem warmherzigen Lächeln im Gesicht erhob sich Heidrun und legte einen Arm um Konstanzes Schulter. Die räumliche Nähe zu ihrer Tante war ein Grund dafür, warum sie die Universität von Bayreuth für ihr Jurastudium gewählt hatte. Natürlich vermisste sie ihre Eltern, und sie hätte genauso gut in deren Umgebung studieren können. Doch wenn sie absolut ehrlich zu sich selbst war, musste sie eingestehen, dass sie bewusst diesen Abstand gesucht hatte. Nur war sie im Moment für solch eine bedingungslose Ehrlichkeit noch nicht bereit.
Die Worte von Doktor Vogler hallten dumpf in Konstanzes Schädel nach. Posttraumatische Belastungsstörung
Daran litten Soldaten, die in einem Kriegsgebiet im Einsatz gewesen waren, oder Menschen, die ein furchtbares Erdbeben überlebt hatten. Frauen, die überfallen und missbraucht worden waren, aber doch nicht sie. Sie hatte heftig gegen diese Diagnose protestiert, schließlich lag ihr traumatisches Erlebnis acht Jahre zurück. Doch der Therapeut hatte ihr versichert, dass die Symptome dieser Erkrankung mitunter erst Jahre nach dem Durchleben der Extremsituation auftauchen können. Er hatte sie hauptsächlich von sich selbst erzählen lassen und zwischendurch einige Fragen gestellt, bevor er sie mit der möglichen Diagnose konfrontiert hatte.
Sie sah, in ihre Gedanken versunken, aus dem Autofenster. Die Scheibenwischer kämpften in monotoner Gleichgültigkeit gegen den Regen an. Nach dem, was ihr der Therapeut erklärt hatte, konnte sie mittlerweile ihre Panikattacken und Albträume, die Schlafprobleme sowie die Erinnerungslücken bezüglich der Ereignisse vor acht Jahren besser verstehen.
»Danke«, sagte sie ohne den Blick von der vorbeiziehenden Landschaft zu nehmen. »Wofür?« Heidrun Hartenbach schaute kurz zur Seite.
»Weil du mich überredet hast, deinen Studienkollegen aufzusuchen.«
»Ich habe mir Sorgen um dich gemacht, genauso wie deine Eltern.«
»Hast du Papa was erzählt?«
»Nein, aber er hat mich darum gebeten, mit dir zu reden.«
»Hm.« Konstanze beobachtete einen Regentropfen, der vom Fahrtwind quer über die Windschutzscheibe getrieben wurde.
»Magst du mir erzählen, wie die Sitzung mit Doktor Vogler gelaufen ist?«
»Ganz gut. Ich werde vorerst einmal die Woche zu ihm gehen. Er meinte, ich habe eine posttraumatische Belastungsstörung.« Sie verdrehte gedanklich ihre Augen.
»Das hatte ich bereits vermutet, Liebes. Deshalb wollte ich ja …«
Das Klingeln von Heidruns Handy unterbrach das Gespräch der beiden Frauen.
»Entschuldige, ich muss rangehen, Rufbereitschaft.«
Konstanze nickte. Das war’s dann wohl mit unserem gemeinsamen Restaurantbesuch, dachte sie traurig. Es war nicht ungewöhnlich, dass ihre Tante eine Verabredung nicht einhalten konnte. Sie arbeitete als Ärztin am Institut für Rechtsmedizin der Universität Erlangen und wurde jedes Mal dann an einen Tatort gerufen, wenn der dringende Verdacht auf einen nicht-natürlichen Tod vorlag und ihr Fachwissen zur Rekonstruktion des Tathergangs beitragen konnte.
Nachdem ihre Tante das Telefonat beendet hatte, fragte Konstanze interessiert: »Musst du arbeiten?«
»Ja, es tut mir so leid. Wir müssen das Essen wohl verschieben.«
»Das macht nichts. Was ist denn passiert?«
»Ich muss zu einem Tatort und dort die Spuren sichern, bevor sie durch den Regen verloren gehen.«
»Kannst du mich noch zu Hause absetzen?«
»Ich fürchte, dafür bleibt keine Zeit mehr, aber bleib bitte dort im Auto. Ich möchte unnötigen Ärger vermeiden.«
»Keine Sorge.« Sie nickte ihrer Tante zu. Diese bog auf die Straße zum Gewerbegebiet Bindlach Süd ab und sie fuhren schweigend zu den Kiesgruben im Norden. Aufgrund des starken Dauerregens waren sie fast allein unterwegs.
Als sie am Tatort eintrafen, brachen gerade ein paar Sonnenstrahlen durch einen winzigen Riss in der Wolkendecke und ließen am Horizont einen purpurfarbenen Streifen entstehen. Heidrun parkte ihren Wagen vor einem Polizeifahrzeug, holte ihre Ausrüstung aus dem Kofferraum und stieg dann einen leichten Abhang hinunter. Polizeibeamte waren damit beschäftigt, Scheinwerfer am Ort des Geschehens aufzustellen, andere standen gelangweilt daneben, einen Becher Kaffee in der Hand. Von ihrem Platz im Auto, hatte Konstanze freie Sicht nach unten in die Kiesgrube, wo sie innerhalb des mit rot-weißem Polizeiabsperrband gesicherten Bereichs die schemenhaften Umrisse eines menschlichen Körpers auf dem Erdboden erkennen konnte. Die Leiche war mit einer dunklen Plane abgedeckt. Die Polizeihunde, die zusammen mit ihren Hundeführern neben einem der Einsatzfahrzeuge warteten, spitzten aufmerksam die Ohren.
Konstanze verkroch sich tiefer in ihren Mantel und ließ die Hände in den Ärmeln verschwinden. Die feinen Härchen auf ihren Armen stellten sich kerzengerade auf. Einen Moment lang beobachtete sie ihre Tante, wie diese mit den Beamten diskutierte und sich mehrfach zur Leiche hinunter beugte.
Um sich die Zeit zu vertreiben, nahm sie ein Buch aus der Tasche und begann zu lesen. Nach wenigen Sätzen schlug sie es jedoch wieder zu. Im Auto war es zu dunkel, um die Buchstaben zu erkennen. Außerdem war sie viel zu aufgekratzt, um sich auf die verzwickten Hinweise in ihrem Spionagethriller zu konzentrieren. Sie schloss die Augen und ließ das Gespräch mit ihrem Therapeuten noch einmal Revue passieren. Er hatte alte Wunden aufgerissen, sie mit schmerzlichen Wahrheiten konfrontiert und ihr in groben Zügen erläutert, wie die Therapie aussehen könnte. Sie war sich absolut nicht sicher, ob sie dies durchstehen würde. Ein undefinierbares Gefühl von Angst beschlich sie. Angst war in der letzten Zeit ständig ihr Begleiter gewesen. Sie hasste diesen Zustand der Ohnmacht.
Konstanze schreckte aus ihren Gedanken auf, als Heidrun die Fahrertür öffnete und in den Wagen stieg.
»Ich bin fertig hier. Lass uns fahren.« Sie startete den Motor und wendete ihr Auto.
»Ich denke, es ist inzwischen auch zu spät, um noch essen zu gehen«, sagte Konstanze geknickt.
»Tut mir leid. Das war so nicht geplant.«
»Das können wir nachholen, mach dir keinen Kopf. Was war mit dem Opfer? Musst du gleich noch ins Institut?«
»Nein. Morgen früh wird obduziert. Es steht jedoch schon sicher fest, dass es sich um einen Mord handelt. Die Frau wurde mit einem großen Kaliber erschossen, ich vermute entweder Kaliber 38 oder neun Millimeter.«
»Wie furchtbar! Wisst ihr schon, wer sie war? Hoffentlich lässt sie keine Kinder zurück.« Konstanze spielte gedankenverloren mit einer Haarsträhne.
»Konny, ich …« Ihre Tante druckste herum und suchte anscheinend nach passenden Worten.
»Was ist los, Tante Heidrun?«
Diese kramte hektisch in ihrer Handtasche, holte ein blaues Päckchen Gauloises hervor und zündete sich eine Zigarette an, bevor sie antwortete. »Schatz, du weißt, dass ich mit dir nicht über die Dinge vom Tatort reden darf, aber bei deiner derzeitigen Verfassung möchte ich nicht, dass du es aus der Zeitung erfährst, während du allein bist. «
Konstanzes Augen weiteten sich. »Was soll ich nicht aus der Zeitung erfahren?« Ihre Stimme klang schwach und vibrierte.
»Die Frau hatte einen Ausweis dabei ...«, sagte Heidrun und stieß geräuschvoll den Zigarettenqualm zwischen ihren Zähnen hindurch, »Sie hieß Gabi Baumann.«
Konstanze schlug eine Hand vor ihren Mund, um einen Aufschrei zu unterdrücken. »Oh mein Gott, so heißt Sabrinas Mutter. War sie von hier?«
»Ja, sie wohnte laut ihrem Personalausweis in Bayreuth.« Nachdem ihre Tante die genaue Adresse genannt hatte, wusste sie mit Gewissheit, dass es sich bei dem Mordopfer um die Mutter ihrer Freundin handelte.
»Versprich mir, dass du alles, was ich gerade gesagt habe, für dich behältst, bis die Identität von der Polizei offiziell bestätigt wurde«, redete Heidrun ihrer Nichte eindringlich ins Gewissen.
»Ja, natürlich«, antwortete diese abwesend. »Sie wurde erschossen? Warum?« Fassungslos starrte sie aus dem Fenster in die Dunkelheit.
Sie erinnerte sich an einen schwülen Nachmittag im Sommer. Frau Baumann hatte die beiden Mädchen zum Grillen eingeladen. Obwohl ihre Freundin nie ein besonders gutes Verhältnis zu ihrer Mutter hatte, verbrachten die drei Frauen einen heiteren, ausgelassenen Tag. Sie sah das herzliche Lachen von Gabi Baumann vor sich, die ohne Zweifel auch als die größere Schwester von Sabrina durchgegangen wäre. Die gleichen weichen Gesichtszüge, eingerahmt von dem langen, schwarzen Haar, glänzend wie Seide.
»Einige Aspekte deuten auf einen Serienmörder hin«, unterbrach Heidrun Konstanzes Erinnerungen.
»Wie kommst du darauf?«
»Der Täter hat unter anderem eine Art Signatur hinterlassen.«
»Eine Signatur?« Sie drehte sich zu ihrer Tante um.
»Ja, dem Opfer wurde mit einem Messer ein Symbol auf den Bauch geritzt.«
Plötzlich drehte sich alles um Konstanze herum und ihr wurde übel. »Halt bitte schnell an.«
»Du bist kreidebleich, ist dir schlecht?« Zur Antwort nickte sie leicht, während sie sich mit beiden Händen den Mund zuhielt. Heidrun bremste ab, fuhr auf den Seitenstreifen und stieg sofort aus, um ihrer Nichte aus dem Auto zu helfen.
»Frische Luft wird dir gut tun.«
Mit einer energischen Handbewegung drückte Konstanze ihre Tante von sich weg, beugte sich nach vorn und übergab sich, geschüttelt von heftigen Krämpfen. Heidrun strich sanft über ihren Rücken und versuchte sie zu beruhigen.
»Ich bin vom Tod umgeben, Tante Heidrun«, platzte es unvermittelt aus ihr heraus. »Ich halte das nicht mehr aus. Ich kann das nicht schon wieder.«
Erinnerungen an eine Beerdigung drängten sich jäh in ihr Bewusstsein. Sie stützte ihre beste Freundin, die vor Kummer fast in Ohnmacht fiel. Stumm blickte sie auf die beiden Särge, die vor ihnen aufgebahrt standen. Mit einer fahrigen Geste schob sie die Bilder beiseite.
Heidrun nahm ihre Nichte in den Arm. »Du zitterst ja am ganzen Körper. Lass uns wieder einsteigen.«
Konstanze wehrte sich nicht dagegen und ließ sich teilnahmslos von ihrer Tante auf den Beifahrersitz helfen. Tränen rannen über ihr Gesicht und hinterließen eine schwarze Spur der Wimperntusche auf den Wangen.
»Was ist mit Sabrinas Vater?«, wollte Heidrun wissen.
»Ihre Eltern sind schon lange geschieden. Ihr Dad hat sich vor vielen Jahren nach Frankreich abgesetzt. Näheres weiß ich nicht, sie redet nie über ihn.«
»Ach du meine Güte, dann ist deine Freundin jetzt ganz allein.«
»Ich habe furchtbare Angst, ihr am Montag zu begegnen, Tante Heidrun.«
»Es tut mir sehr leid. Sag mir, wenn ich etwas für dich tun kann.«
»Ich möchte jetzt nach Hause.«
Heidrun startete erneut das Auto und während der restlichen Fahrt sagte keiner mehr ein Wort.