Читать книгу Die verriegelte Tür hinter dem Paradies. Ein Roman frei nach Heinrich von Kleist - Karis Ziegler - Страница 10

5. Die blaue Maske

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Einige Wochen später war absehbar, dass auch dieser Winter bald überstanden sein würde; für die armen Leute, für die vor allem ja die Unterschiede zählten, war er insofern gnädig verlaufen, als er keine übertriebene Härte gezeigt hatte: strengen Frost hatte es gegeben, schlammige Wege, Pfützen, Teiche hatten sich mit einer spröden, blättrigen Eisschicht überzogen, ein paar Tage lang steckten sogar Boote und Lastkähne im Kanal fest, aber das war recht bald auch wieder vorbei; ungenügende Kleidung, feuchte, zugige, schlecht heizbare Behausungen hatten die üblichen sich ewig hinziehenden Erkältungen gebracht, aber wenigstens unter den „Paradies“-Kindern und ihren Familien hatte es diesmal auch nichts Schlimmeres gegeben; kalt genug, um Kohlen-Köhler leidlich gute Geschäfte zu bescheren, war es aber doch gewesen, zumal der eine gewinnbringende neue Erfindung eingeführt hatte: Kohlenstaub, ein Abfallprodukt, das bislang um einen ganz geringen Preis fast verschenkt wurde, konnte er nun zu brennbaren Ziegeln pressen, die er vergleichsweise teuer verkaufte, unerschwinglich für die arme Klientel, für die der unverarbeitete Staub das einzig zugängliche Mittel dargestellt hatte, um ihre Wohnungen notdürftig warm zu bekommen. Bitter beschwerte sich diese denn auch über den Wucher, wenn sie nach weiten, zu Fuß zurückgelegten Wegen mit leeren Säcken und Karren wieder abziehen musste, Köhlers mitleidlosen Kommentar im Ohr, zu verschenken habe er nun mal nix, da müssten sie sich schon an die entsprechenden öffentlichen Stellen wenden. Mit den Leuten aus der Straße allerdings hatte er es beim Alten belassen, um sich den Frieden mit der unmittelbaren Nachbarschaft nicht zu verscherzen.

Die Tage wurden wieder merklich länger, das Licht freundlicher, in den Parks karrten die Gärtner altes Laub weg, kiesten die Wege frisch, setzten erste Frühlingspflänzchen; Gartenlokale stellten sich mit frisch grün und rot gestrichenen Tischen und Stühlen auf Ausflügler ein, die schon die ersten noch schwachbrüstigen Sonnenstrahlen nutzen wollten. Überall in der Stadt wurden kleinere und größere private und öffentliche Bälle und Feste veranstaltet, und eines Tages kam Rudolph mit der Nachricht, es werde ein großes Maskenfest im Strauss’schen Palais geben, und es würden noch jede Menge Helfer gesucht, gewiss würde es Arbeit für sie alle geben. Das ließen sie sich nicht zweimal sagen, und richtig wurde die ganze Gruppe, die dank Rudolphs Pfiffigkeit rechtzeitig genug zur Stelle war, angenommen; jeder erhielt, zusammen mit einer Menge anderer Kinder, Jugendlicher und erwachsener Tagelöhner, einfach ein gestempeltes Formular in die Hand gedrückt, um sich am Samstagabend ihren Einsatz bestätigen zu lassen und am Montag darauf die Entlohnung abzuholen.

„Ui, wie siehst du denn aus?!“, wurde Frieda begrüßt, als sie sich am Samstagnachmittag gemeinsam auf den Weg machten.

„Na, immerhin ist es doch ein Ball, da muss man sich doch ein bisschen fein machen!“, verteidigte sie sich, allerdings doch ein wenig errötend. Den Lippenstift ihrer großen Schwester hatte sie sich ungefragt ausgeliehen und ihren Mund damit ziemlich knallig geschminkt.

„Oh, arme Frieda!“, spottete Rudolph, „Deine ganze Schönheit wirst du wohl an Küchenmädchen und Putzlumpen verschwenden müssen!“

„Ja, eben“, pflichtete Agnes ihm bei, „wir werden doch sicher nicht in den Festsälen arbeiten.“

„Sie werden aber doch wohl auch Bedienungen brauchen!“, protestierte Frieda.

„Dafür nehmen sie doch keine Kinder!“

„Na, wir werden ja sehen! Luise kommt jedenfalls auch, und ich seh’ nicht ein, weshalb ich nicht zu meiner Schwester dürfen soll!“

„Bloß dass du dafür bezahlt wirst, die Arbeit zu machen, und Luise, oder ihr Freund, dafür bezahlt hat, sich bedienen zu lassen und sich zu vergnügen“, belehrte sie Karl.

„Also, ich bin dafür, dass wir aufhören zu streiten“, schaltete sich Elsa ein, „Wir werden ja schließlich bald erfahren, wie es ist. Auf jeden Fall ist es mal was anderes und sicher lustig, auch wenn wir jede Menge schuften müssen.“

Und schuften mussten sie allerdings: Gleich als sie am Hintereingang des Festgebäudes ankamen, wurden sie von einer kräftigen, rundlichen Mamsell empfangen, die aussah, als teilten ihre Schürzenbänder sie wie einen Schneemann in zwei übereinandersitzende Kugeln; die gab mit mächtigen roten Armen Schürzen an die eintreffenden Hilfskräfte aus und wies jeden gleich, nach kurzem abschätzendem Blick, einem Arbeitsbereich zu.

Die Jungs schickte sie erst einmal weiter ums Gebäude herum zu einem Lagerraum, wo ein Mann sie anwies, Kästen voller Flaschen ins Innere des Gebäudes zu karren und zu schleppen und an bestimmter Stelle bereitzustellen, damit andere Helfer sie von dort wiederum an die verschiedenen Getränketheken in den Sälen verteilen konnten.

Die Mädchen schubste die rotarmige Chefin in Richtung Küche und übergab sie an ihre dortigen Unteroffiziere. Kartoffeln schälen hieß die Parole, Zwiebeln schneiden, Gemüse putzen, Eier aufschlagen und vieles mehr, alles in unvorstellbaren Mengen. Seufzend ergab Agnes sich in ihr Schicksal - schälte sie nicht weiß Gott schon zuhause genug Kartoffeln? - und reihte sich zusammen mit Elsa und Frieda, die so manchen skeptischen Blick auf ihren roten Mund erntete, in die Schar der Mädchen ein, die die Zutaten für Berge der bei solchen Gelegenheiten üblichen Stärkungen vorbereiteten, in einem Dauergetöse aus Geschirrgeklapper, zischendem Fett, hackenden Messern, plappernden Mädchen und palavernden Frauen, immer wieder durchschnitten von laut ertönenden herrischen Befehlen der Köchinnen, die nach irgendeinem Utensil oder einer Zutat riefen oder zu größerer Eile antrieben.

Das ging so scheinbar Stunden und Stunden, nur Elsa war irgendwann einmal plötzlich verschwunden. Sie hatte mitbekommen, dass man begonnen hatte, Geschirr und Besteck auf rollbaren Gestellen hinauszufahren, und da hatte sie sich eigenmächtig aus der Gemüseputzabteilung abgesetzt und geholfen, Teller zu stapeln, Messer, Gabeln, Löffel in entsprechende Fächer zu sortieren und dann die beladenen Wagen hinauszurollen. Von da an war sie für den Rest des Abends nicht mehr länger an einem festen Einsatzort zu finden sondern irrlichterte, ganz in ihrem Element, von einer selbst gesuchten Aufgabe zur nächsten, tauchte zwischendurch immer wieder einmal auf, verschwitzt und außer Puste, mit verstrubbeltem Haar und verrutschter Schürze, roten Backen und strahlenden Augen, um den anderen schnell und atemlos zu berichten, was sie gesehen und erlebt hatte.

Bald war auch Fritz plötzlich mit rotem Kopf und verlegenem Blick in der Küche aufgetaucht. Bei den Jungen hatte es ein kleines Drama gegeben, als Fritz unter der Kistenschlepperei einen Schwindelanfall bekommen hatte, weil er nicht hatte zugeben wollen, dass es ihm eigentlich viel zu schwer war. Unwirsch und spöttisch hatte Rudolph ihm geraten, er möge doch lieber bei den Mädchen mitmachen, das werde ja wohl nicht über seine Kräfte gehen. Da fing Fritz zu weinen an - „Gott, nun heult er auch noch“, war Rudolphs abfälliger Kommentar, und „Können wir hier dann bald mal weitermachen?“ die ungeduldige Mahnung des Aufsehers -, und Johannes ging, ihn zu trösten. Er solle doch Rudolphs Rat befolgen - warum er sich denn hier herumplagen wolle, wenn es woanders leichtere Aufgaben für ihn gäbe. Es sei doch nicht seine Schuld und auch überhaupt nichts Schlimmes, dass er nicht so kräftig gebaut sei wie andere, und Rudolph solle er doch einfach reden lassen, er kenne ihn doch und solle sich das nicht so zu Herzen nehmen. Er erntete einen dankbaren, aber auch tieftraurigen Blick - Hannes hatte ja gut reden: wo er doch so schrecklich gerne gewesen wäre wie die anderen Jungen und einfach so dazugehört hätte. Als aber der Aufseher erneut und voller Ungeduld rief, ob denn das Kindermädchen endlich abkömmlich sei und langsam wieder mit anpacken und der Mickerling sich eine andere Arbeit suchen könne, da stand Fritz auf und ging beschämt hinüber zu den Mädchen.

Vor einiger Zeit hatte der Einlass für die Festbesucher begonnen, und zuerst zögerlich, dann immer stärker waren die Gäste hinzugeströmt und füllten Eingangshalle, Treppenhäuser und Säle. In den Wirtschaftsräumen bekam man das allerdings nur anhand eines stetig anschwellenden Summens und Vibrierens mit, in das sich vereinzelt und ahnungsweise auch melodiösere Frequenzen mischten - die Tanzkapellen hatten aufzuspielen begonnen. Auch die Aufgaben, die die Kinder zu verrichten hatten, verschoben sich allmählich weg von der Nahrungsmittelzubereitung hin zu Aufräum- und Reinigungsarbeiten. Nach und nach hatten fast alle eine Gelegenheit gefunden, sich draußen am eigentlichen Ort des Geschehens nützlich zu machen. Da mussten Tische abgeräumt und saubergewischt, leere Flaschen eingesammelt, Nachschub an sauberem Geschirr an den Büffets bereitgestellt werden. Auch bei den Garderoben gab es zu tun: eintreffende oder aufbrechende Gäste wollten sich nicht in die Schlangen stellen und warten, bis sie an der Reihe wären, und waren froh, wenn eins der Kinder ihre Mäntel für sie abgaben oder holten. Rudolph und Elsa fanden hier für einige Zeit ihr Betätigungsfeld, und Elster hatte mehr als einmal ihre liebe Not, zehn begehrlich zuckende Finger im Zaum zu halten. Die Versuchung war immer wieder fast zu groß - so sehr in Reichweite und so leicht zu erwischen waren schöne und teils auch kostbare Dinge selten! Sogar eine goldene Uhrenkette lugte aus der Brusttasche einer Herrenjacke hervor - die hatte der Besitzer sicherlich nicht mit Absicht dort stecken lassen. Elsas Augen leuchteten auf, und einen Moment zögerte sie in der Bewegung, das Kleidungsstück aufzuhängen. Aber sie beherrschte sich schließlich doch - gar zu schade wäre es doch gewesen, das schöne Abenteuer dieses Festes durch ein peinliches Erwischtwerden und darauf folgende hässliche Auftritte zu verderben. Da traf ihr Blick sich mit dem Rudolphs, der sie nicht aus den Augen gelassen hatte und sie sehr amüsiert und provokant angrinste. Dem streckte sie rasch und diskret die Zunge heraus und schüttelte den Kopf.

Frieda war, seit sie hinzugesprungen war, um Inhalt und Scherben eines zu Boden gefallenen Getränketabletts mit Lappen, Schippe und Besen zu beseitigen, glücklich damit beschäftigt, abwechselnd gebrauchtes Geschirr wegzuräumen und für Gäste, die keine Lust hatten, selbst zu den Büffets zu laufen, Nachschläge an Bratkartoffeln oder Kartoffelsalat herbeizuholen. Innerlich triumphierte sie dabei, hatte sie doch ihr Ziel erreicht und durfte im Saal bedienen, und war so also ihr Aufwand, sich „fein“ zu machen, doch nicht verschwendet gewesen.

Nur Agnes gehörte zu denen, die Pech gehabt hatten, indem sie vom Kartoffelschälen direkt zum Spüldienst beordert worden war und wohl gar nicht mehr von der Küche loskommen sollte. Irgendwann jedoch erschien Karl bei ihr und rief: „Ach, hier bist du ja immer noch, Agnes! Jetzt musst du aber auch mal rauskommen, das musst du einfach gesehen haben!“ Er nahm sie kurz entschlossen bei der Hand und zog sie, die in der anderen immer noch ein ziemlich durchfeuchtetes, fleckiges Geschirrtuch hielt, mit sich fort. Er, Fritz und Johannes waren die ganze letzte Zeit in den Sälen umhergelaufen und hatten nur allmählich, eigentlich erst, nachdem sie von Johannes einmal darauf aufmerksam gemacht worden waren, von ihren jeweiligen Arbeiten absehend einen Blick dafür gehabt, wie wunderbar die Szenerie war, in der sie sich bewegten. Da dachte Karl an Agnes und war sich sicher, wie er sie kannte, würde sie von alldem gar nichts bemerken. Sie war schließlich auch zuhause immer die Letzte, die zum Spielen herauskam, wenn sie überhaupt Zeit dazu fand.

Der Durchgang von den Wirtschaftsräumen zum öffentlichen Bereich war noch einmal abgeschirmt mit einem bunt bemalten Paravent, und hinter diesem lugte Agnes nun, ihren schmutzigen Küchenlappen noch zusätzlich hinter ihrem Rücken versteckend, hervor: auf das, was sie da zwischen den Blättern einer großen Zimmerpalme hindurch erspähte, konnte sie sich gar nicht so schnell umstellen. Es kam ihr vor, als sei sie aus dem wirklichen Leben in einen Traum geraten, und noch dazu in einen, den sie nicht einmal selbst träumte, sondern als sehe sie jemand anderem beim Träumen zu, so fremd und fern von allem, was in ihrem Alltag eine Rolle spielte, war ihr das alles: skurril verkleidete menschliche Figuren bewegten sich zwischen exotischen Requisiten, alles in ein unwahrscheinliches, vielfarbig schimmerndes Licht aus Hunderten von Lampen getaucht und das Ganze wiederum von einem dichten, fast berührbaren Gewebe aus Tönen - sanften Geigen- und Holzbläserklängen und festlich-angeregtem und zufriedenem Stimmengewirr - umgeben. Sie schaute Karl ratlos an, der fragte: „Na, was sagst du? Ist das nicht prächtig? Gib zu, wenn ich nicht gekommen wäre, hättest du von dem allen gar nichts mitgekriegt, oder?“ - „Ja, sehr schön“, sie warf noch einmal einen Blick hinaus. „Jetzt muss ich aber wieder zurück zur Arbeit. Danke für’s Zeigen, Karl!“ Und damit schlüpfte sie wieder zurück in den Gang zur Küche, wo Töpfegetöse und Besteckgerassel die Festmusik sogleich wieder erschlugen.

Johannes hatte indessen Gelegenheit gefunden, sich überall gründlich umzuschauen. In jedem der Säle gab es ja genug zu tun, und im Wandern von einem Einsatzort zum nächsten nahm er sich einfach etwas Zeit für kleine Umwege und Erkundungsgänge.

Wie viel Aufwand man doch getrieben hatte, das Palais für diesen Anlass auszuschmücken, keine Kosten und Mühen hatten die Veranstalter gescheut. Man hatte für das Ganze das Sehnsuchtsthema - noch war ja nicht einmal der Winter recht vorbei - „Sommer und Süden“ gewählt und die Räume mit allem ausgestattet, was diese Vorstellungen wecken konnte: unzählige große Pflanzen in Kübeln und Blumen in Töpfen und Ampeln hatte man aus sämtlichen Gewächshäusern der Stadt beschafft, sogar richtige Springbrunnen hatte man herbeigeschleppt und irgendwie zum Funktionieren gebracht.

Die Säle waren alle nach dem gleichen Muster eingerichtet: in einer Ecke das Podium für die Tanzkapelle, in einer anderen das Büffet, in der Mitte eine großzügige Tanzfläche, hell und festlich beleuchtet; darum herum ein Wandelgang, gebildet mit Hilfe der Pflanzen, die sich fast zu einem grünen, lichten Baldachin darüber berührten und ihn von dem Mittelteil abgrenzten; dabei ließ er genug Lücken, um zur Tanzfläche durchzugehen oder wenigstens den Tänzern zuzusehen, aber gab denen, die das lieber mochten, das Gefühl, ein wenig abgesondert vom Geschehen zu flanieren; von dort aus konnte man sich aber auch vollends zurückziehen in kleinere oder größere laubenähnliche Nischen, die zu den Wänden hin eingerichtet waren, und wo Gartentische, -stühle oder -bänke zum Ausruhen, Plaudern oder Essen und Trinken einluden. Bei dieser immer wiederkehrenden Raumaufteilung aber hatte man jedem Saal sein eigenes südlich-sommerliches Lokalkolorit zugeordnet und in dem einen „Südeuropa und Mittelmeer“, dem anderen „Asien“, einem dritten „Afrika“ zu reproduzieren versucht.

In schierem Staunen wurde Johannes gleichsam hineingesogen in diese Märchenwelt, ließ sich treiben auf einer Phantasiereise durch die verschiedenen dargestellten Länder. Da fand er sich in toskanischen Sommergärten wieder: zwischen Orangenlaub leuchteten Gipsimitate von Marmorstatuen hervor, und das setzte sich fort in eine gemalte Landschaftskulisse hinein, mit einem von Zypressen umgebenen italienischen Palazzo im Hintergrund; in den Zweigen der Kübelpflanzen waren hübsche Vogelkäfige aufgehängt, die wie kleine luftige Pavillons aussahen und aus denen Singvögel ihre schrillen Melodien unter die Klänge der Tanzmusik und das leise Sprudeln der Springbrunnen mischten; in einer anderen Nische war „Venedig“, und vor einem Wandbild vom Canal Grande waren die Sitzgruppen als Gondeln verkleidet. Der nächste Saal war Afrika gewidmet: das Wandbild der ägyptischen Nische zeigte die berühmten Pyramiden, die Sphinx und Kamele unter brennender Sonne, und davor hatte man Wasserpfeifen zur Dekoration und Kamelsättel und runde Lederpuffs zum Sitzen aufgestellt; schwarzafrikanische Szenerie hatte man mittels Palmen in Kübeln, einer Savannenlandschaft mit Löwen und Zebras an der Wand, Elefantenzähnen, afrikanischen Trommeln, Figuren aus glänzend schwarzem Ebenholz und federgeschmückten Speeren als Dekoration angedeutet, und Tische und Stühle hatte man in eine halbe grasgedeckte Rundhütte gestellt, die man einer Fotovorlage aus den Kolonien nachgebaut hatte.

Vollends unwahrscheinlich wurde das Ambiente jedoch durch die verkleideten Besucher. Noch nie hatte er dergleichen gesehen und bemerkte daher auch nicht, dass die meisten kaum Ehrgeiz darauf verwendet hatten, besonders originell zu sein. Für ihn war das alles auf völlig verrückte Weise neu. Damen wie Herren hatten mindestens eine Augenmaske angelegt, dazu vielleicht noch einen ungebräuchlichen Hut wie Dreispitz oder Barett die einen, aufwändigen blumen- oder federgeschmückten Kopfputz die anderen aufgesetzt. Es gab jede Menge Dominos, die einfach über ihre eleganten Abendgarderoben weite, wadenlange schwarze Umhänge und die Kapuzen über den Kopf gezogen hatten. Andere hatten aber auch etwas mehr Aufwand getrieben und sich in richtige traditionelle Karnevalskostüme gehüllt oder sich als Figuren aus anderen Zeiten und Sphären verkleidet. Da tanzten dann Harlekins in buntscheckigen Gewändern und glöckchenbehängten Narrenkappen mit Damen in ausladenden Reifröcken und Puderperücken, oder Pierrots in weißen Hosen, Kitteln mit farbigen Bommeln und weißgeschminkten Gesichtern mit Gärtnerinnen in buntgestreiften Kleidern und bändergeschmückten Strohhüten, kleine Körbe mit Blumen am Arm schwenkend; und Edelmänner aus der Renaissance in weißen Strumpfhosen, samtenen Wämsern und halblangen Capes, degenbewehrt, holten Getränke für orientalische Prinzessinnen, die in farbenfrohen Pluderhosen, Stirnbändern und duftigen Schleiern anmutig dahertänzelten.

Johannes konnte seine Augen nicht von den Leuten lassen - waren das überhaupt wirklich Leute und nicht vielmehr befremdliche Fabelwesen? - und erntete verstörend unheimliche Blicke aus starren Masken, die man sich wie Lorgnette an Stielen vor die Gesichter hielt, als er an einem Tisch vor lauter Faszination beinahe ein halbvolles Sektglas umgestoßen hätte. Verlegen wischte er die verschütteten Spritzer auf und ging rasch seiner Wege.

Er schob und schlängelte sich durch das Gedränge in einer der Galerien, die die Säle umliefen, als er eine hauchzarte Berührung an der Hand spürte und, nach dieser Seite aufblickend, eigentlich nur ein blaues Leuchten aufschimmern sah, bevor es schon wieder von der Menge im angrenzenden Saal verdeckt war. Etwas fesselte ihn und gefiel ihm so ausnehmend an diesem kurzen Eindruck - es schien ihm, als könne es diese Farbe in Wirklichkeit gar nicht gegeben haben -, dass er ihm durch den weiten Türbogen folgte und ihn zwischen all den unzähligen Figuren wiederzufinden suchte. Immer jedoch, wenn er gerade dachte, er habe ihn entdeckt, schoben sich andere Gäste dazwischen, und wieder hatte er ihn verloren. Irgendwann wurde er an einen der Tische gerufen, damit er dort Ordnung schaffe und abräumen helfe, da musste er seine Suche aufgeben.

An dem Tisch saßen etliche Herren beisammen, die offenkundig, trotz der scheinbaren maskierten Anonymität, miteinander bekannt waren und sich angeregt unterhielten. Es waren wohl alles teils Kauf-, teils Bankleute, die sich gerade über den Gang der jeweiligen Geschäfte austauschten, und ihren zufriedenen Stimmen war anzumerken, dass in dieser Hinsicht wohl alles zum Besten bestellt sein musste. Einer baute gerade ein neues Haus und berichtete von Streitereien mit dem Architekten, der seine Vorstellung von Standesgemäßheit als zu protzig und vulgär bremsen zu wollen sich herausnahm. Ein anderer war im Begriffe, sich ein Auto anzuschaffen und war hochzufrieden über diesen Schritt, den er mit der neuen Zeit ging. Über Vereinsversammlungen, wo sie den Vorsitz hatten, Wohltätigkeitskomitees, in denen sie Entscheidungen trafen, wurde gesprochen, und Johannes machte seine Arbeit absichtlich langsam und spitzte interessiert die Ohren - das betraf ja im weitesten Sinne ihn selbst, und im Leben nicht hätte er doch je wieder Gelegenheit, so dicht an solche Leute heranzukommen, die Wohl und Wehe von seinesgleichen so sehr bestimmen konnten.

Zwei Herrschaften saßen wohl im Stadtrat und wussten von Projekten zur Milderung der Wohnungsnot zu berichten, die gleichzeitig ihnen selbst und womöglich noch anderen unternehmungs-lustigen Herren aus der Runde beträchtlichen Gewinn eintragen könnten.

„He, du da, Junge!“ unterbrach einer die Unterhaltung, „Wenn du schon da bist, geh doch bitte mal noch ein Bier für mich holen!“ - „Ach ja, mir kannst du auch gleich eins mitbringen, und eine Salzbrezel dazu!“

Als er zurückkam mit den Getränken, hatte das Thema am Tisch gewechselt - man sprach über den Nachwuchs. „Mir macht bloß mein Ältester Kummer“, beklagte sich einer der Herren. „Statt ins Geschäft einzusteigen, das er doch sowieso später einmal übernehmen wird, will er studieren!“ - „Seien Sie doch froh, dass der Junge Ehrgeiz hat! Meiner würde sich am liebsten gleich auf den Lorbeeren ausruhen, die ich im Schweiße meines Angesichts erworben habe.“ - „Na, Ehrgeiz - ich weiß ja nicht! Spinnereien würd’ ich das eher nennen. Philosophie und Griechisch will er studieren - Hungerleiderkünste eben. Und die Firma ist ihm dabei herzlich gleich!“ - „Lassen Sie ihn doch Jura studieren. Das hab’ ich für meinen auch beschlossen. Einen guten Juristen kann jede Firma brauchen, und wenn sich später der Chef selber da auskennt, umso besser.“ - „Also, ich bin bisher auch ganz gut ausgekommen, ohne ein Studierter zu sein.“ - „Mir wär auch lieber, der meine würde die Rechte studieren. Er hat sich in den Kopf gesetzt, Medizin soll es sein! Ich will doch keinen Quacksalber großgezogen haben, der den Leuten in den Rachen guckt und Salbe gegen das Rheuma verschreibt!“ - „Na, so muss das ja nicht enden. Mit dem rechten Geschick kann er doch auch als Arzt Bedeutendes erreichen.“ - „Gott, bin ich froh, dass ich diese Sorgen hinter mir habe! Mein Richard ist ja schon ein paar Jahre älter als Ihre Buben; jetzt ist er endlich untergekommen, und sehr gut sogar: Er hatte ja ein exzellentes Examen hingelegt, aber dann hing er eine ganze Weile in der Luft. Jetzt haben wir ihn aber glücklich im diplomatischen Dienst untergebracht; nächsten Monat geht er ab ins Reich der Mitte, als Sekretär des Botschafters in China.“ - „Na, der ist ja wohl ein gemachter Mann, von dem werden wir dann sicher noch hören!“ - „Ja, mit so einer Laufbahn, kann gut sein, dass er mal zu denen gehört, die mitreden. Dumm ist er ja weiß Gott nicht.“

Nun fand Johannes beim besten Willen keinen Vorwand mehr, sich länger hier aufzuhalten und ging langsam und nachdenklich weiter. Was er da alles zu hören bekommen hatte! - als hätte das Seitenfenster eines Schlosses einen Spalt breit offen gestanden und er auf Zehenspitzen einen Blick in Zimmerfluchten prächtiger Salons stibitzt, so hatte er ein paar Momentaufnahmen erhascht, kurze Einblicke in eine fremde Welt, von der er so vollständig abgetrennt war, als lebten diese Menschen jenseits des Ozeans oder auf dem Mond und nicht in derselben Stadt; dennoch spürte er, dass diese Welten miteinander verwoben und voneinander abhängig waren, jedoch auf eine Art, die ihn sich unangenehm hilflos in einer schwachen und ausgelieferten Position fühlen ließ. Wie sie da so selbstverständlich und alltäglich von Riesenprojekten plauderten beim Bier oder Champagner, von Entscheidungen, mit denen sie das Leben hunderter, wenn nicht gar tausender Menschen mitbestimmten! Und während sich die Erwachsenen seiner Welt immer nur den Kopf zerbrachen, woher sie in nächster Zeit die Mittel nehmen sollten, die Bäuche ihrer Familien halbwegs zu füllen und die elementarsten Bedürfnisse an Kleidung und Obdach zu befriedigen, machten die hier sich Gedanken, ob die Erker ihrer neuen Villen von antiken Figuren oder schlichten Säulen gestützt werden sollten und ob sie das Wohnzimmer lieber im Jugend- oder im Empirestil einrichten wollten. Und ihre Söhne: was hatten die nicht für Möglichkeiten! Nicht nur, dass sie ganz von selbst in die einflussreichen Positionen ihrer Väter rücken würden, sie würden auch studieren können, Dinge lernen, Bereiche sich erschließen, die nicht einmal ihren Vätern zu Gebote gestanden hatten; würde nicht der eine schon bald - das musste man sich mal vorstellen! - nach China aufbrechen? Die ganze Welt schien denen offen zu stehen!

Ob wohl nicht doch, allen Widrigkeiten zum Trotz, auch einer wie er wenigstens eine ganz kleine Chance haben könnte, Ähnliches zu erreichen? Wenn er nur fleißig genug lernte - hatte nicht sein Vater immer gesagt, man könne alles schaffen, wenn man es nur stark genug wolle? Zwischen dem Ehrgeiz, dereinst auch zu denen zu gehören, „die mitredeten“ - was immer er sich auch genau darunter vorstellen sollte, aber es klang so wünschenswert - und dem, sein Leben einem packenden Thema widmen zu dürfen, pendelte der innere Aufruhr, den das mitgehörte Gespräch der Honoratioren in Bewegung gesetzt hatte, und unter solchen Gedanken war er die Galerie entlang bis in den Wintergarten an der Rückseite des Gebäudes gelangt, den er bis jetzt noch nicht betreten hatte.

Wie schön es hier war! All die Pracht und beinahe schwülstige Fülle, die in den übrigen Festräumen herrschte, auch die akustische, war hier zurückgenommen, gedämpft und beruhigt: In einer Ecke spielte nur ein Streichtrio ganz leise, zärtliche Hintergrundmusik. Hier war nun keine besondere exotische Kulisse mehr, lediglich eine sommerlich-luftige Atmosphäre gestaltet. Schlanke, sparsam verschnörkelte weiße Säulen und Streben trugen die gläserne Decke; daran hingen mit zarten Blütenkaskaden bepflanzte Ampeln. Auf flachen, von gedrechselten Geländern umgebenen Estraden aus Schiffsholz waren weiß lackierte Gartentische und -stühle mithilfe blühender Stauden in blau-weiß gemusterten Kübeln zu fast intim wirkenden Laubenplätzen arrangiert. Das Schönste aber war sicherlich die Beleuchtung, die mit Hilfe zwischen die Pflanzen und an die Deckenstreben gehängter Lampions den Raum zwar nicht richtig hell machte, ihn dafür aber in eine wunderbar verwunschene Atmosphäre tauchte; aus dem vorherrschenden Dämmer hob sie Lichtinseln heraus, wo maskierte Gesichter, Teile farbenfroher Kostüme und ein paar blütenbesetzte Zweige sich zu hübschen Tableaus zusammenfanden. Hier unterhielten sich die Gäste in zurückhaltendem Ton miteinander; wo hie und da nur zwei beisammen waren, wurde auch wohl gar nicht geredet sondern bloß still und eng aneinandergeschmiegt dagesessen.

Fenster und Terrassentüren, deren weiße Sprossen vom Boden bis zur Decke reichten, schlossen den Raum zum Park hin ab. Hier war Johannes stehen geblieben und schaute hinaus in den Park; auch hier draußen, verteilt in den Zweigen der am nächsten stehenden Bäume, hingen Laternen; so hatte man den Lichtzauber des Interieurs noch ins Freie hinein fortzusetzen und den Übergang zur Wirklichkeit der kalten Winternacht sanft abzufedern gewusst. Sein Blick folgte von Lampion zu Lampion, bis er sich an der undurchdringlichen Schwärze im Hintergrund stieß. Er seufzte tief auf und wollte sich losreißen und umwenden, da zuckte er zusammen: keine fünf Schritte von ihm entfernt, ebenfalls vor einem der Fenster mit dem Blick nach draußen, stand die blaue Gestalt, die er vorhin so gesucht hatte.

Ein Vogelkopf, ein langer weißer, schmal und spitzer Schnabel statt der Menschennase, unbewegt dem Fenster zugewandt, ins Freie starrend. Und ja - oder nein - getäuscht hatte er sich da nicht: dieses Blau gab es nicht, konnte es nicht geben, war völlig ausgeschlossen. Das war ja goldenes Nachtblau! Ein tief dunkles Blau, in dem der Blick hängen blieb wie dort draußen hinter den ferneren Bäumen des Parks; und doch aus Falten und Bauschungen einen warmen samtig-seidigen Glanz sendend - es war wie eine Sommernacht, die alles Licht des Universums oder das Leuchten der Sonne von der anderen Seite der Erde vollständig in sich aufgenommen hatte und nun hier verhalten und geheimnisvoll ausgab. In diesen unwirklichen Farbton war die Gestalt von Kopf bis Fuß gekleidet; ein stoffreiches Cape mit großzügigem Faltenwurf verhüllte den Körper und machte Umfang und Konturen und damit auch das Geschlecht des darunter verborgenen Menschen völlig unkenntlich; das Vogelgesicht war eingefasst von einer ausladenden turbanähnlichen Draperie; und, um dem Ganzen die bizarre Krone aufzusetzen, überragte diese noch eine Art Diadem mit einem Fächer aus prächtigen, zwischen Blau, Grün und Gold changierenden Pfauenfedern, die im leichten Luftzug nickten.

Unvermittelt wandte sich das eindrucksvolle Wesen um, nahm dabei gleichzeitig die Vogelmaske ab, die es, wie sich jetzt erst zeigte, nur an einem Stiel sich vorgehalten hatte, und brachte darunter ein weiteres Maskenantlitz zu Tage: ein makelloses weißes Oval, das Abstraktum eines Menschengesichts, sah den Jungen an - wie ihm schien, mit nur eben der Andeutung eines unveränderlich auf dem Gesicht eingefrorenen Ausdrucks seltsamster Freundlichkeit - ein fein lächelndes Verziehen der Lippen, eine bestimmte Wangenwölbung... Sicher war es ein bloßes Spiel des schwachen Kerzenlichts, wenn sich dies lächelnde Wohlwollen noch flüchtig zu vertiefen schien, als sich die Gestalt nun vollends umwandte und zügig, aber ohne Eile in Richtung des Ausgangs zur Galerie schritt.

Als Johannes wenig später in die Küche zurückkam, standen die Kinder ratlos und betreten um eine vollkommen hysterische Frieda herum. Die rieb und wischte unter Schluchzen und unverständlichem Schimpfen mit einem Lappen von zweifelhafter Reinheit in ihrem Gesicht herum, das von rotgeheulten Augen, rotgerubbelten Backen und roter Lippenstiftschmiere, die sich hartnäckig eher verteilte als wegwischen ließ, schlimm verunstaltet war.

„So eine Gemeinheit!“ und „Ekelhafter, widerlicher Kerl!“ hörte man sie fluchen.

Nach und nach erfuhren die anderen, was geschehen war: Irgendwann hatte Frieda doch noch unter all den Besuchern ihre Schwester entdeckt in einer größeren Gesellschaft aus maskierten und verkleideten Damen und Herren, zu dieser vorgerückten Stunde in ausgelassenster Laune. Trotzdem war Luise nicht entgangen, dass Frieda unerlaubterweise sich an ihrem Lippenrouge vergriffen hatte, und sie hatte sie entsprechend scharf zurechtgewiesen. Das hatte aber die Aufmerksamkeit der ganzen Tischrunde auf Frieda und ihren ungeschickten Versuch gezogen, sich ebenfalls „fein“ zu machen, und die Arme war umgehend das Ziel von Spottreden und Gelächter geworden. Das war zwar schlimm genug und setzte ihrem Selbstbewusstsein schon gehörig zu. Dann aber stand einer der Freunde von Luises Begleiter auf und nahm sie laut und mit verschusselter Aussprache vermeintlich in Schutz: „Lasstse doch, die Kleine! Sie haddoch recht. Je f...f...früher se zu üben anfängt, um so bälder sitse s...s...selber hier und amüsiert sich, anstatt euch die Sachen beizusch...sch...leppen undsu schuften. Un ich... übrigens, ich will mich dann schoma auf die Liste sch...sch...reiben, hihihi. Gell, meine Hübsche, ich darf der Erste sein?“ Und mit diesen Worten zog er das erschrockene Mädchen an sich, schob ein rotes, verschwitztes, unrasiertes Gesicht dicht vor ihres und drückte ihr einen lauten, scheußlich nach Schnaps, Bier und Bratfett riechenden Kuss mitten auf den Mund. Helles Gelächter erntete die Tat am ganzen Tisch, in das der Kerl selbst am grölendsten einstimmte. Frieda aber rannte heulend, voller Ekel und Entsetzen weg, um sich den abstoßenden Geschmack nach Suff und Ausschweifung aus dem Mund zu spülen und endlich die leidige Schminke, die ihr das alles überhaupt erst eingebrockt hatte, wie besessen abzuwischen.

Das Mädchen schluchzte immer noch, als die schneemannförmige Einsatzleiterin hereinkam und befahl: „So, Schluss jetzt, alles was unter sechzehn ist, geht heim!“ Von manchen Seiten hörte man Protest, aber sie war unerbittlich. „Nix da, keine Widerrede. Ihr seid lang genug da gewesen, habt eure Sache auch anständig gemacht, aber jetzt ist Feierabend. Wir wollen schließlich nicht mit dem Gesetz in Konflikt geraten.“ Und wenn sie ehrlich waren, kam ihnen das auch nicht ganz so ungelegen. Manche konnten die Augen kaum noch offen halten, bewegten sich mehr wie in Trance, ein Mädchen hatte sich vor lauter müder Unkonzentriertheit sogar übel geschnitten, kurz, man wehrte sich nicht lange, stand an, um seine Arbeitsbescheinigung zu erhalten, gab seine Schürze ab und trat durch den Hintereingang in die wohltuend kalte Nachtluft hinaus. Nur Rudolph fehlte noch, aber Fritz hatte gesehen, dass er inzwischen vorne am Haupteingang einer trinkgeldträchtigen Aufgabe nachging: er besorgte Gästen, die das Fest verlassen wollten, Droschken und Taxen, half ihnen mit ihren Sachen hinein und bekam so einen ordentlichen Zusatzverdienst zusammen. Nur widerstrebend und erst aufgrund der Drohung, dass man ihm später seinen Einsatzschein nicht mehr abzeichnen würde, ließ er sich überzeugen, das lukrative Geschäft aufzugeben und sich den Gefährten anzuschließen.

„Eins sag’ ich euch“, verkündete er entschieden, als sie durch die im Tiefschlaf liegenden Straßen gingen, „wenn ich groß bin, gehör ich mal zu denen, die hier im feinen Anzug und Zylinderhut Champagner bestellen, im Pelzmantel rauskommen und Trinkgelder verteilen. Das hab ich mir heute Abend fest vorgenommen. Jetzt - gut und schön, brav Diener machen und fleißig zutragen und wegtragen und hoffen, dass der Herr sich großzügig zeigt, von mir aus. Aber das mach ich nicht das ganze Leben lang mit!“

„Wisst ihr denn schon, was ihr mit dem Geld macht, das ihr heute Abend verdient habt?“ fragte Elsa.

„Kann eigentlich ein Kind ein Konto haben?“ erkundigte sich Agnes. „Ich würde mein Geld am liebsten auf die Bank bringen, damit der Vater es nicht findet und mir abnimmt.“

„Warum kaufst du nicht einfach Sachen dafür, dann kann er’s dir schon nicht mehr wegnehmen. Bei mir ist bestimmt nichts mehr übrig für die Bank, wenn ich erst mal einkaufen war! - Vielleicht reicht’s ja für ein Grammophon mit ein paar Platten, das wär’ so klasse! Und Suse wünscht sich so sehr einen Gürtel, den sie im Laden gesehen hat, Otto ein Taschenmesser, Hänschen braucht neue Schuhe, für Mutter und Vater will ich natürlich auch was...“ - „Ja, und für dich selbst? Du hast doch die ganzen Stunden geschafft, willst du für dich denn gar nichts?“ fragte Karl ganz erstaunt. „Klar, für mich find ich sicher auch was, keine Bange!“ grinste Elsa.

„Also, ich möchte meins am liebsten nicht gleich ausgeben“, meinte Agnes, „man weiß doch nicht, was noch alles passiert...“

„Aber das Fest! - Das war doch wirklich eine tolle Sache, findet ihr nicht?“ wechselte Elsa das Thema. „So schön war alles hergerichtet; und was für Kostüme die Leute anhatten, ich konnte mich gar nicht satt sehen!“

„Ja, aber schon auch bisschen komisch, oder?“, meinte Karl, „wenn erwachsene Leute Verkleiden spielen.“

Die einzigen, die sich gar nicht am Gespräch beteiligten, waren Frieda und Johannes. Die eine hatte zu sehr noch zu knabbern an dem verstörenden Erlebnis, mit dem das Fest für sie zu Ende gegangen war; der andere war ganz in seine Gedanken versunken, in denen der Blick in das Schloss, in dem Reichtum und Einfluss wohnten, der ehrgeizige Wunsch, dereinst „mitreden zu können“, die vielfältigen bunten und exotischen Eindrücke aus den vergangenen Stunden, der Nachhall der Musik, zu dem sich all diese Bilder in beschwingten Kreisen drehten, und dazwischen immer wieder das Aufscheinen eines unmöglichen Blaus, eines unheimlich-aufmunternden, weißen Lächelns und die Vision, von der phantastischen, geheimnisvollen Gestalt bei der Hand genommen und sanft entführt zu werden - „He, Johannes!“ riss Rudolphs Stimme ihn aus diesem Reigen. „Schläfst du schon im Gehen? Oder bist du auch geküsst worden wie Frieda hier, die sich, scheint’s, ja gar nicht mehr von dem Schrecken erholen kann? Dabei wird sie das ja wohl noch öfter erleben, bevor sie alt und runzelig ist.“

Die verriegelte Tür hinter dem Paradies. Ein Roman frei nach Heinrich von Kleist

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