Читать книгу Die verriegelte Tür hinter dem Paradies. Ein Roman frei nach Heinrich von Kleist - Karis Ziegler - Страница 7
2. Ballons
ОглавлениеEines spätsommerlich frischen, schönwetterdunstigen Sonntagmorgens konnte man eine Kinderschar, barfüßig, in abgetragenen, nicht immer sehr sauberen Kleidern von hier aus in die nächste Querstraße einbiegen sehen. Manche, besonders die Kleinsten, hatten sichtbar noch den Schlaf in den Augen, andere waren schon hellwach und plapperten durcheinander, und mit ihrem Barfußgetrappel, ihrem Stimmengewirr und dem Bollern und Quietschen eines Leiterwagens, in dem ein Mädchen offenbar ein paar jüngere Geschwister nachzog - übrigens kavalierhaft unterstützt von einem etwa gleichaltrigen Jungen - waren sie die ersten, die die frühe Sonntagsruhe unterbrachen. Ihr Weg führte entlang monotoner Straßenzüge, rechts und links begrenzt von den ewig gleich sich dahinziehenden Außenmauern der Mietskasernen, durch deren Toreinfahrten man in ganze Fluchten von Höfen, Hinter- und Hinterhinterhöfen sehen konnte, und Fabrikgebäuden, die mit ihren schmiedeeisernen Werkstoren, verschnörkelten Schriftzügen des Firmennamens und geschwungenen Gesimsen viel aufwändiger dekoriert waren; vorbei an den aufgerissenen Erdgruben und stehengelassenen Gerätschaften sonntagsruhender Baustellen und an den inkongruent über, zwischen oder gar durch die Häuser sich zwängenden Hochbahnbrücken. Hie und da gesellten sich andere Kinder zu ihnen oder liefen in separaten Gruppen in die gleiche Richtung. Erwachsene waren erst zu sehen, als sie später durch andere, bürgerlichere Viertel zogen. Dort sah man dann saubere Sonntagskinder in Matrosenanzügen, Sonntagskleidchen, glänzend polierten Lackschuhen und bänderwehenden Strohhüten brav zwischen Vater und Mutter oder an der Hand ihrer Kinderfräuleins gehen oder sogar in Droschken vorüberrollen, begleitet von manchem Blick aus der Gruppe der Barfüßler, in dem Neid und Verachtung eine unnachahmliche Verbindung eingingen. Je näher sie dem Stadtzentrum kamen, desto öfter sah man vollbesetzte Omnibusse und Elektrische die Straßen entlang rumpeln. Auch die „Paradieskinder“ hätten sich den weiten Weg sicher gern mit einer Trambahnfahrt erleichtert, aber wer von ihnen überhaupt ein paar Groschen dabei hatte, sparte die lieber für eine Süßigkeit oder Limonade später am Tag auf. Die Größeren waren außerdem längst gewöhnt, weite Strecken zu Fuß zurückzulegen, und die Kleinen mussten eben die Zähne zusammenbeißen und mithalten.
Hier in der Innenstadt konnte man auch überall an Hauswänden und Litfaßsäulen die Ankündigung lesen, die so viele der Stadtbewohner heute in Bewegung versetzt hatte: Ein Internationaler Ballon-Wettbewerb sollte um die Mittagszeit bei der Gasanstalt auf dem Lerchenfeld starten, eine „Große Attraktion, erstmals hierzulande ausgetragen“, ein „unvergessliches Schauspiel“, das man auf keinen Fall versäumen solle. Ein paar der Kinder hatten die Plakate in den letzten Tagen entdeckt und sofort verabredet, dort hinzugehen. Seither hatten sie misstrauisch den Himmel beobachtet und gebetet, dass das Wetter halten möge, denn selbstverständlich hätte bei Sturm oder Regen die Veranstaltung ausfallen müssen.
Aber sie hatten Glück und keine Wolke stand der Vorfreude auf einen erlebnisreichen Tag im Wege, der gleichzeitig ein gebührender Abschluss für die zu Ende gehenden Ferien werden sollte. Ab morgen würden sie wieder zur Schule gehen müssen. Die größeren unter ihnen wussten schon, dass sie einen neuen Lehrer bekommen würden, weil Herr Schultze, der sie seit Jahren unterrichtet hatte, in den Ruhestand gegangen war - endlich! wie die meisten von ihnen seufzten.
„Schlimmer kann es mit dem Neuen jedenfalls nicht werden“, meinte einer der großen Jungs.
„Ich glaub nicht, dass es so was noch mal gibt - gleichzeitig so trottelig und so streng!“, vermutete ein anderer.
„Ich hoffe, der Neue wird nicht auch so tun, als zählten wir Mädchen überhaupt nicht.“
„Genau, als wären wir überhaupt zu doof für alles.“
„Ich hoffe bloß, dass der nicht so fest haut wie der Schultze, dann bin ich schon zufrieden“, ließ sich ein schmächtiger, blasser, grundsätzlich verängstigt wirkender Bub hören.
Einer der Jungen hatte sich noch überhaupt nicht am Gespräch beteiligt, er schien mit seinen Gedanken ganz woanders zu sein - was sich auch bestätigte, als er plötzlich sagte: „Ich wüsste nur zu gerne, wie die das überhaupt machen mit dem Fliegen - wie soll das denn eigentlich funktionieren?“
„Na, Johannes, da kannst du ja gleich morgen den neuen Lehrer auf die Probe stellen und ihn danach fragen“, meinte Rudolph, der Kohlenhändlerssohn.
„Mensch, am allerliebsten würde ich sowieso gleich selbst mitfliegen - ihr denn nicht?“
„Nee, nee, ich glaub, ich bleibe lieber bei Mutter Erde, da fühl ich mich sicherer - Gucken ja, das ist bestimmt spannend...“-
„... und wunderschön!“, rief eines der Mädchen dazwischen.
„Na, meinetwegen auch schön, wir werden’s ja sehen.“
„Hoffentlich bekommen wir gute Plätze“ - „Na, wenn die einmal oben sind, können wir ganz sicher gut sehen, da kann einem ja keiner die Sicht verstellen.“ - „Ja, ganz demokratisch!“, grinste einer altklug.
„Ja, schon, aber ich würd halt schon gerne mitkriegen, wie sie starten und so“, insistierte Johannes.
„Na, wir sind ja wirklich früh dran, da werden schon noch genug Bäume und Masten frei sein.“
Unterdessen - der Morgen, der schon einen herbstlichen Biss gehabt hatte, entwickelte sich bereits zu einem der letzten sommerheißen Tage - schienen sie ihrem Ziel endlich nahe zu kommen. Wenn man dies an nichts anderem bemerkt hätte, so aber jedenfalls an den immer kompakter werdenden Strömen von Menschen, die sich der unterschiedlichsten Fortbewegungsmittel bedienten - Fußgänger, von denen ganze Pulks aus den von der nahegelegenen Endhaltestelle der Stadtbahn herführenden Seitenstraßen quollen; Fahrradfahrer schlängelten sich hindurch, hie und da schob sich die Menge träge auseinander, um irgendeiner Art Pferdegespann Platz zu machen, und noch seltener, aber dafür umso effektvoller verschaffte sich auch mal ein Automobil mit herrischem Hupen freie Bahn und ließ die Scharen erschreckt zur Seite spritzen und ihnen erzürnte Beschimpfungen hinterherschicken.
Längst gingen die Füße schon nicht mehr über Straßenpflaster sondern versanken angenehm weich in trockenem, noch kühlem Sand. Nur der Bollerwagen mit den Kleinkindern zog sich hier noch einmal so mühsam, aber zwei der anderen erbarmten sich und schoben von hinten nach. Da hörte man über all das Stimmensummen, das Hupen, Pfeifen, Klingeln und Schreien hinweg, das sich zu einem allgemeinen, die Luft fast sichtbar erfüllenden Brausen vermischte, abgerissene Töne und Melodiefetzen einer Blaskapelle, die sich offenbar irgendwo hinter dem langen Bretterzaun einstimmte, der den Schauplatz des Geschehens umgab. An diesem liefen die Kinder nun entlang, den Einlass mit dem Kassenhäuschen links liegen lassend - man hatte ja nicht vor, den Eintritt zu bezahlen, sondern wollte außen von notfalls zu erkletternden erhöhten Stellen zuschauen -, bis sie um die nächste Ecke biegen konnten. Nur ein paar wenige andere Kinder waren ihnen dort bisher zuvorgekommen. Das Gelände hob sich hier leicht, so dass man schon, wenn man nicht zu den ganz Kleinen zählte und sich auf den Zehenspitzen reckte, einen Blick über den Zaun werfen konnte. Aber damit wollten sie sich natürlich nicht zufrieden geben. Manche reservierten sich ein Stückchen vom Zaun, wo sie nach oben klettern und sich am oberen Brett oder einem Pfosten halten konnten. Ein, zwei andere, darunter Johannes, konnten in den paar Bäumen, die in der Nähe der Umzäunung standen, Stellen finden, wo die Belaubung lückenhaft genug für eine gute Sicht war und wo sie sich auf einem kräftigen Ast durchaus für länger einrichten konnten. Die Mädchen begnügten sich mit einem Lagerplatz auf dem kleinen Hügel, wo sie für die Kleinen aus dem umgestülpten Leiterwagen sogar eine richtige kleine Tribüne machten. Nur Elsa schloss sich Rudolph an, der noch schlauer sein und sich durch irgendeine Lücke im Zaun heimlich in das abgesperrte Gelände stehlen und dort umsonst einen richtig tollen Platz ergattern wollte. Besser gesagt, sie tat es ihm gleich, denn dass sie sich ihm anschlösse, ließ er nicht zu, da er fürchtete, mit einem Mädchen im Schlepptau eher erwischt zu werden. „Nix da, such du dir mal bloß dein eigenes Schlupfloch!“, wies er sie stattdessen zurecht.
Gerade hatten die Kinder sich auf ihren verschiedenen Posten niedergelassen und begonnen, sich einen ersten Überblick über das Areal hinter dem Zaun zu verschaffen, da ertönte ein Tusch und die Militärkapelle begann jetzt im Ernst, zur Unterhaltung der Menge aufzuspielen. Schmissige Märsche, beliebte Tanzstücke und Schlager klangen von der entferntesten Ecke aus einem eigens errichteten Pavillon herüber.
Immer mehr Zuschauer drängten durch den engen Einlass und verteilten sich dann über die Wiesenfläche zwischen dem Zaun und einer Absperrungskette, die einen großen Kreis um das Gebäude der Gasanstalt herum freihielt. Man bummelte auf dem Grasplatz einher, nahm die in der Mitte des Feldes zusammengetragenen Gegenstände und die sich dort entfaltenden Aktivitäten in Augenschein, stand in Gruppen so dicht wie möglich an der Absperrung herum und kommentierte offensichtlich in angeregten Gesprächen das Ereignis. Viele gönnten sich auch noch eine Stärkung oder Erfrischung in einer der Restaurationsbetriebe, die unter den aufsteigenden Zuschauertribünen improvisiert worden waren. Zwischen letzteren hatte man sogar eine getrennte Loge eigens für illustre Persönlichkeiten eingerichtet und mit dicken Girlanden aus Buchsbaumzweigen und den Insignien des Herrscherhauses geschmückt. Über den Platz verstreut waren Sanitätsstationen, um etwa unter der Sonnenhitze und dem Menschenandrang zusammenbrechenden Zuschauern zu Hilfe zu eilen oder gar bei Unfällen mit Verletzungen zur Stelle zu sein. Polizisten patrouillierten zwischen der Menge, um Ordnung und reibungslosen Ablauf zu gewährleisten, schwitzend unter ihren Uniformen und Pickelhauben, aber dennoch steif und aufrecht Haltung bewahrend. Und - besonders faszinierend für die Kinder - waren hier und da Tische aufgestellt und als Post- und Telegraphenstationen ausgerüstet, mit den Titeln ausländischer Zeitungen beschriftet, von wo aus Reporter so unmittelbar wie möglich Bericht an ihre Heimatredaktionen erstatteten. Fliegende Händler schoben sich mit ihren Körben und Bauchläden zwischen all diesen Gruppen hindurch und versuchten, ihre Süßigkeiten, Backwaren oder Tüten mit Obst loszuwerden.
Währenddessen ließ Johannes in seinem Baum die Mitte des Feldes nicht aus den Augen und erstattete den anderen nach unten Bericht, wann immer er im Gewirr von umeinanderlaufenden Menschen und scheinbar durcheinander liegenden Gegenständen einen Sinn zu erkennen vermochte. Als sie angekommen waren, wurden gerade bunte Bündel auf das Feld gebracht, jedes davon hatte wie Schleppenträger vier, fünf Männer hinter sich, die einen großen Korb trugen. Inzwischen waren die Stoffbündel aufgefaltet und am Boden ausgebreitet worden, so dass dieser von weitem wie ein überdimensionaler farbenfroher Flickenteppich aussah, während sich die Leute an den Körben zu schaffen machten, Dinge hineinhoben oder an den Rändern befestigten.
„Jetzt kommen sie mit großen Schläuchen aus dem Gaswerk heraus und machen sie an den Hüllen fest“, rief er nach unten. „Und jetzt drehen sie an so Rädern. Hört ihr das Pfeifen und Zischen? Bestimmt pusten sie jetzt die Ballons auf!“.
Die eben noch flach und schlaff daliegenden Stoffkreise gewannen an Dicke, wuchsen zu unförmig wulstigen Landschaften, rundeten sich langsam zur Halbkugel, Einzelne bäumten sich an einem Ende etwas auf, lupften sich vom Boden, schienen plötzlich selbständige Wesen mit Eigenleben und Bewegungsdrang. Der Eine oder Andere formte sich schon prall und rund, füllte das Netz, in dem er gefangen war, völlig aus, richtete sich auf und begann, an den Seilen zu zerren, mit denen starke Gewichte ihn ringsherum am Boden festhielten. Es war, als würde eine außerweltliche Mannschaft absurder überdimensionaler Kobolde nach und nach aus einem kollektiven Tiefschlaf erwachen und Tatendurst entwickeln. Wo die Vorbereitungen schon am weitesten fortgeschritten waren, ließ man den Ballon vorsichtig so weit hochsteigen, dass man den Korb unterhalb des Netzes befestigen konnte. So entstand schließlich ein Bild von absonderlicher Schönheit aus der Vielzahl an Farben und Mustern der Ballons in den unterschiedlichen Stadien des Aufblasens, sich gegenseitig halb verdeckend, vor-, neben-, hinter-, übereinander, manche noch fast flach am Boden, andere schon ein paar Meter darüber schwebend, im leichten Wind hin und her tanzend und ungeduldig an ihren Fesseln zerrend, fast wie eine Ansammlung bunter Seifenblasen, die sich nach und nach aus der Lauge lösen und aufsteigen.
Mit einem Mal verstummte die Blaskapelle und über ein Megaphon wurde den Zuschauern irgendetwas angekündigt, was man hier außerhalb des Zaunes nicht mehr verstehen konnte. Da stiegen von irgendwoher eine ganze Anzahl kleiner feuerroter Versuchsballons auf und entschwand rasch im blauen Himmel, und die kleinen Geschwisterkinder kreischten auf vor Vergnügen. „Bestimmt geht es jetzt bald los!“, rief man aufgeregt, und wer gerade sich im Grase ausruhte, sprang schnell auf und kletterte auf seinen Posten. Johannes klopfte das Herz schneller vor Spannung, da plärrte einer von Agnes’ kleinen Brüdern verzweifelt, er könne nichts sehen, und heulte laut los. Schnell stieg er bis zu den unteren Zweigen herunter - „Jetzt aber schnell, komm, Maxe, ich hol dich rauf“. Der Kleine lief zu dem Baum, er zog ihn herauf und wies ihm einen Platz zu, wo er sich gut festhalten konnte; dann kehrte er zu seinem eigenen Ast zurück, hoffend, dass er nicht gerade in dieser Minute Entscheidendes versäumt hätte. Kaum saß er wieder, da legte die Militärkapelle mit doppeltem Elan los, und einer der Ballons löste sich langsam aus dem Gesamtbild, stieg über die anderen hinaus, bald tauchte der Korb mit drei Männern darin auf, die jeder mit einem Sandsack hantierten und dessen Inhalt allmählich über Bord schütteten. Schon sah man bei einem weiteren Korb zwei Männer mit Hilfe einer Strickleiter hineinklettern, während eine Hilfsmannschaft sich an den Fesseln mit den Gewichten zu schaffen machte. Johannes wusste gar nicht, wohin er schauen sollte, aber dann wollte er für diesmal doch den ersten Start nicht aus den Augen verlieren. Da war dieser Ballon bereits über das Startfeld, die Zuschauerreihen und über den Bretterzaun hinweggesegelt und stand groß und mächtig gerade nur ein paar wenige Meter - so schien es doch wenigstens - dicht vor und über ihm, verdeckte ein riesiges rundes Stück Himmel, die amerikanische Flagge, die ihm an der Seite lang herabhing, wedelte im Wind, und fast glaubte er, er müsse nur die Hand ausstrecken, um den Weidenkorb berühren oder die Hände der Insassen schütteln zu können. Das dauerte jedoch nur einen Moment lang, denn schon schwebte das seltsame Gefährt, indem es gleichzeitig immer weiter an Höhe gewann, mit dem Wind davon. Immer kleiner wurde die eben noch so imposante blau-gelb gestreifte Kugel, der Korb und erst recht die Menschen der Besatzung, die gerade noch hörbar fröhlich lachend der jubelnden Menge und den Kindern hier zugewunken und sie gleichzeitig großzügig mit Sand bestreut hatten. Inzwischen war der zweite Ballon startklar und hob zu den Klängen einer anderen Hymne ebenso unaufgeregt, ruhig und um die begeisterten Zuschauerscharen völlig unbekümmert ab, löste sich von der Erdenschwere und trug seine Besatzung über die Köpfe der Menge davon. Nun folgte in ein- bis zweiminütigen Abständen, jeder mit der ersten Strophe seiner eigenen Nationalhymne geehrt und gegrüßt, ein prächtig bunter Ballon auf den anderen. Der Junge schaute und schaute sich fast die Augen aus dem Kopf, wollte noch den letzten stecknadelkopfgroßen Rest jedes einzelnen verfolgen, und fühlte sich dabei ergriffen von einer ganz neuartigen Mischung aus Euphorie, Sehnsucht und einer winzigen Spur Traurigkeit - so einfach davonschweben zu können, dem Himmel nah, und doch gerade die Erde entdeckend, erobernd - was für ein Gefühl der Freiheit und Allmacht musste das sein; neue Horizonte, heraus aus der Enge des Bekannten und Eingeschränkten, erfahren, wie es anderswo wäre, und das in der Ungebundenheit der Lüfte und nicht mühsam auf der Erde dahinkriechend wie ein Wurm; Abenteuerlust, Entdeckerdrang regten sich in ihm, und ohne klar artikulierbare Gedanken entstand in ihm die Sehnsucht, selbst einmal irgendeine Art von Pionier zu werden...
Eine Weile hatte er sich diesen Visionen hingegeben, mit heftig klopfendem Herzen, und nicht mehr auf die Dinge geachtet, die unmittelbar vor seinen Augen sich abspielten. Da erhob sich plötzlich ein tausendkehliger Aufschrei. Erschrocken sah er sich um; aber die Laubkrone seines Baumes verdeckte die Seite, nach der alle schauten. „Was ist denn los?“, rief er nach unten. „Einer ist abgestürzt! - Ein Ballon ist kaputtgegangen!“, rief es aufgeregt durcheinander. Alles Blut wich ihm aus dem Gesicht und seine Hand krampfte sich um den Ast, an dem er sich hielt. „Hast du das nicht gesehen, Hannes? - Zuerst ist er an den Zaun gestoßen, dann haben sie ein paar Säcke hinausgeworfen - Nein, die sind ihnen dabei heruntergefallen - Und er ist pfeilschnell nach oben geschossen - Und dann ist er geplatzt - Und heruntergefallen - Aber ich hab gesehen, dass so was wie ein Fallschirm aufgegangen ist, und er ist ein bisschen langsamer gefallen - Jedenfalls war er ziemlich schnell nicht mehr zu sehen.“
‚Ach, du großer Gott!', dachte Johannes. So etwas konnte also auch passieren. So schön hatte er sich gerade alles ausgemalt, aber, wie es schien, konnte aus der großen Freiheit auch ein großes Unglück werden! Er überlegte schon, ob er hinunterklettern sollte, da ging zunächst ein Raunen durch die Zuschauerreihen und dann doch tatsächlich ein lautes Lachen. Da kam auch schon Elsa über den Zaun gesprungen und rannte auf die Freunde zu: „Stellt euch nur vor, sie sind auf ein Hausdach gestürzt, irgendwo nicht weit von hier, es ist aber nichts weiter passiert - höchstens vielleicht dem Dach - und dann sind sie durchs Dachfenster hineingeklettert und trinken jetzt bestimmt Kaffee bei den Leuten!“ Da lachten sie alle erleichtert mit und waren froh, sich am Rest der Veranstaltung weiter freuen zu können, die jetzt, nachdem man sie natürlich aufgrund der Beinahe-Katastrophe erst einmal unterbrochen hatte, wieder fortgesetzt wurde.
Nun dauerte es nicht mehr lange, bis alle Luftschiffe gestartet waren und die Menge begann, in Richtung Ausgang zu drängen und allmählich sich zu verlaufen. Aber erst, als von dem letzten Ballon nicht einmal der kleinste Punkt mehr zu erahnen war, stieg Johannes von seinem Baum, half dem kleinen Max auch hinunter, und die Freunde kamen bei Agnes’ Leiterwagen wieder zusammen, um den Rückweg anzutreten.
„War das nicht wirklich einfach toll?“ rief Elsa begeistert. „Ja!“, seufzte Johannes nur. „Schön sah es schon aus, mit den vielen bunten Farben“, gab Agnes zu. „Aber wie man sieht, können sie auch abstürzen, das fand ich weniger nett.“ - „Ach was, die hatten doch einfach nur Pech. Und dann ja sogar noch Glück im Unglück. Schließlich kann einem hier unten am Boden auch so allerhand passieren.“ - „Wohin man nicht alles fliegen könnte!“, sinnierte Frieda, sichtbar mit lebhaften inneren Bildern beschäftigt. „Na, wohin wirst du denn wohl fliegen wollen, Frieda?“, spottete Rudolph. “Jedenfalls könnte man selbst nicht groß bestimmen, wohin die Reise geht, die Dinger kann man ja nicht mal lenken!“, krittelte er noch pragmatisch. „Ist doch egal! Hauptsache fliegen, Hauptsache reisen und sehen, wie es anderswo ist!“, rief Johannes. „Ah pah! Du würdest doch nie wegfahren und deine Mutter allein lassen, das glaubst du doch selber nicht!“, versetzte Rudolph. „Aber warum müsste es denn gleich weit weg sein?“, fragte Karl. „Man könnte doch jedenfalls wenigstens hier in der Gegend ein bisschen spazieren fahren. Wir würden die Kleinen in den Korb packen und einen tollen Ausflug zum Badesee machen, nicht wahr, Agnes? Und bräuchten uns schon nicht die Füße wund zu laufen.“ (Hier tauschte der Rest der Gruppe ein heimliches Grinsen aus). „Ja, oder wir könnten übers Schloss fahren und der Kaiserin ins Schlafzimmer gucken“, meinte Frieda. „Oder vielleicht“, ließ sich der stille, blasse Fritz hören und schaute dabei um Anerkennung buhlend zu Johannes hinüber, „vielleicht könnten wir wenigstens über unsere Mauer fliegen und endlich sehen, was dahinter ist.“ - „Ja, genau, das wär’s doch!“ rief der lachend, „so hoch würde man bestimmt damit kommen.“ - „Was auch immer“, sagte Agnes ganz realistisch, „sicher ist ja jedenfalls, dass wir mit so einem Ding nie fahren werden, da brauchen wir uns eigentlich auch keine Gedanken darüber zu machen, wohin wir damit wollten, oder?“
„Ja, was machen wir aber jetzt noch mit dem angefangenen Nachmittag? Wollt ihr etwa schon heim?“ fragte Rudolph unternehmungslustig. „Also, ich muss mit den Kleinen zuhause sein, wenn Vater zurückkommt, sonst kriege ich Ärger. Ich muss ja noch beim Abendbrot helfen“, sagte Agnes. „Dann begleite ich dich und helf’ dir mit der Karre“, sagte Karl schnell, was wieder von einem amüsierten Augenzwinkern der anderen kommentiert wurde.
„Kommt denn niemand mit? Ich will noch in die Innenstadt, ins Panoptikum. Ich hab auch genug Geld, ich kann jemandem den Eintritt spendieren“, plusterte sich Rudolph ein wenig großspurig, schaute aber gleichzeitig so drein, als wäre es ihm lieber, nicht beim Wort genommen zu werden. „Danke, die paar Kröten habe ich selber“, sagte Johannes, „ich muss aber noch die Wäsche für meine Mutter austragen.“ - „Ach was, dafür ist doch noch genug Zeit“, widersprach Rudolph. „Ich geh hinterher doch auch noch zu meiner Sonntagsarbeit. - „Zu deinem reichen Kaufmann, nicht?“ - „Ja, genau, Schuhe putzen für die ganze Familie - und ich kann euch sagen, die haben aber Schuhe! Wenn die wollten, könnte jeder von denen jeden Tag ein anderes Paar anziehen und hätten sie nicht mal alle durch, bis ich wiederkomme. Na ja, sie zahlen aber ganz ordentlich, und irgendwas Feines zum Abendbrot kann ich auch immer noch abstauben.“ - „Also gut, ich komme mit“, gab Johannes nach - das eben frisch erweckte Fernweh machte ihm schon Lust, sich die exotischen Sehenswürdigkeiten und die Illusionsbilder ferner Landschaften anzusehen.
Also gingen die Kinder noch ein Stück Wegs gemeinsam, bis sie sich, teils lachend, teils seufzend „Bis morgen!“ verabschiedeten und in verschiedene Richtungen auseinander liefen.
Rudolph und Johannes stürzten sich in das Gewimmel der Hauptstraßen, dem man den Unterschied zur werktäglichen Geschäftigkeit anmerkte: Pferdebusse, Elektrische, Automobile und Droschken klingelten, hupten, schrien sich den Weg frei wie sonst, und doch wohl eine Spur gelassener, und die Fußgänger hatten meistenteils kein eilig angestrebtes Ziel sondern nur den Wunsch zu flanieren, zu schauen, sich zu zeigen, aus der Entfernung die Hüte vor einander zu ziehen, die freie Zeit unter Leuten und doch in nur lockerem, unverbindlichem Kontakt mit ihnen zu genießen. Nur da und dort mischten sich solche Menschen dazwischen, die so etwas wie Freizeit und Müßiggang an keinem Tag der Woche kennen durften - Straßenverkäufer, fliegende Händler, Werbeläufer, Boten zu Fahrrad oder zu Fuß und Bettler schoben sich durch die Menge und versuchten, noch ein paar Feiertagsgeschäfte zu machen.
Nach einer Weile waren die beiden Jungen vor der Ladenpassage angekommen, in der sich das Panoptikum befand, das in prangenden schnörkeligen Lettern unter all den anderen Schildern an der Häuserfassade auf sich aufmerksam machte. Da sie dem Kassierer umstandslos den verlangten Eintritt hinstreckten, begnügte sich der mit einem abschätzigen Blick auf schmutzige Barfüße und schäbige Kleider und ließ sie wortlos hinein. Sie verschwanden in den kühlen, labyrinthischen Gängen, um vor Wachsfiguren bekannter Persönlichkeiten, seltsamen Gebrauchsgegenständen fremder Völker, ausgestopften Tieren und Guckkastenpanoramabildern von historischen Schlachten den Attraktionen dieses erlebnisreichen Tages noch einige hinzuzufügen.
Agnes kam heim mit ihrer Karre voller Geschwister, heim zu einer überforderten, kränkelnden Mutter, die den kinderfreien Tag zu ausgiebiger Bettruhe genutzt hatte. Sie kam mit den Kleinen zur Tür herein direkt in die nicht eben wohnliche Wohnküche, in der sie mit ihren zwölf Jahren schon mehr ihre Hauptwirkungsstätte hatte als die Mutter, und, ohne auf die schwächlich-quengelnden Vorwürfe zu reagieren, mit der diese sie vom Nebenzimmer aus begrüßte - spät sei es, wo sie so lange geblieben sei, das Abendessen müsse doch noch gekocht werden, und sie selbst sei heute wirklich zu unwohl dafür -, ging sie wortlos in die Ecke, wo Herd und Kochutensilien sich befanden und machte sich daran, einen Eimer voll Kartoffeln zu schälen. Kein Wort, keine Frage, keine Neugier für ihren Tag konnte sie erwarten, und so saß sie still und konzentriert an ihrer Arbeit, beflissen, das Essen rechtzeitig zur Heimkehr des Vaters fertig zu haben, um dessen Zorn nicht auf sich zu ziehen. Den hatte man nur zu leicht angefacht, glomm er doch eigentlich beständig unterschwellig vor sich hin, genährt vom Gefühl des Versagens, der Resignation, von alkoholgetränkten Kneipenstunden gemeinsam mit anderen ebenso unnützen und unzufriedenen Männern, bestärkt von dem Bewusstsein, ein gesetzlich verbrieftes Recht darauf zu haben, zum Ausgleich für dieses Scheitern eine gnadenlose Willkür- und Gewaltherrschaft über sein persönliches kleines Privatreich auszuüben. Nur hier und da kamen vor ihr inneres Auge noch Reste der heutigen Eindrücke - ein frei und hell wehender Sonnenwind, fröhliche Menschen, ein paar Stunden annähernder Sorglosigkeit, ein blauer Himmel voller lustig bunt dahinschwebender Ballons -; doch verblassten diese Erinnerungen unter dem freudlosen Realismus ihres Alltags sehr rasch, und als sie später müde in ihrem Bett lag, eng an die Schwester geschmiegt, mit der sie es teilte, konnte sie nur froh sein, dass der Abend einigermaßen glimpflich überstanden war - einer ihrer weniger schlimmen Sonntage lag hinter ihr.
Auch Frieda fand zuhause nicht viel Interesse an ihren Erlebnissen. Der Vater ließ sich verächtlich über das „unnütze Zeug, Zeit- und Geldverschwendung, Spielkram reicher Leute“ vernehmen, die Mutter und die große Schwester waren vertieft in die viel wichtigeren Vorbereitungen der letzteren für ein Tanzvergnügen, das sie an diesem Abend noch besuchen wollte, und von dem man sich, besonders im Hinblick auf einen neuen Verehrer, der sie dorthin ausführen wollte, einiges versprach. Die Mutter hörte gar nicht zu, als Frieda zu erzählen begann, sie hatte den Mund voller Stecknadeln und maß und steckte an Luises Kleid herum, während diese nur die Nase rümpfte und sich wieder Federn, Glitzerschmuck und Lippenrouge zuwandte. „Du solltest dich lieber langsam mit ernsthaften Sachen beschäftigen“, riet sie der kleinen Schwester weise. „Du bist ja schließlich auch schon bald groß genug... („Nu aber mal halblang!“, zwängte die Mutter da zwischen den Nadeln hervor) ...na, stimmt doch, nur ein, zwei Jährchen noch, und ein bisschen Übung braucht’s immerhin doch dafür. Schau, das ist schließlich immer noch die einfachste und beste Art, wie wir’s zu was bringen können, wenn wir nicht zu den ganz Hässlichen gehören...“ Frieda wurde rot und lächelte teils peinlich berührt, teils geschmeichelt, und hatte bald selbst nichts anderes mehr im Kopf als schöne Kleider, Schmuck und Schminke. Und statt von den Erlebnissen des Tages träumte sie von ihrem zukünftigen ersten Ausgang, wo sie Bewunderung auf sich ziehen wollte, und von einem reichen Verehrer, der sie auf Händen tragen und verwöhnen sollte, und der natürlich noch viel mehr hermachen würde als Luises neuer Freund, mit dem sie sich so dicke tat.
Als der kleine Fritz zuhause ankam, schob er sich mit panisch klopfendem Herzen und kreidebleichem Gesicht durch die kaum ausreichend geöffnete Tür und hoffte, sich unbemerkt irgendwie in eine Ecke drücken oder gleich im Hinterzimmer verschwinden zu können. Auf den letzten Metern vor der Haustür erst hatte er festgestellt, dass seine Hosentasche ein Loch hatte und das Geld, das ihm seine Eltern in ungewohnter Großzügigkeit mitgegeben hatten, dort herausgefallen sein musste. Viel war es nicht gewesen - er hätte dem Vater davon Tabak und Zigarettenpapier mitbringen sollen und für sich selbst ein paar Bonbons oder ein süßes Gebäck kaufen dürfen, musste aber auf Heller und Pfennig Rechenschaft über die Verwendung ablegen und den Rest zurückgeben. Die Besorgung für den Vater hatte er vollkommen vergessen, und nun musste er den Eltern auch noch gestehen, dass das ganze Geld weg war! - Warum passierten auch immer ihm solche Sachen? Die anderen, besonders sein größerer Bruder, schienen immer alle Situationen ohne irgendwelche unverzeihlichen Nachlässigkeiten zu meistern. In Wirklichkeit war es wohl eher so, dass auch sein Bruder Versäumnisse beging oder ihm Missgeschicke zustießen, er aber mit einer selbstbewussten Souveränität lachend darüber und über die ihnen folgenden Strafen hinwegging. Die kleine Schwester aber, das Nesthäkchen, konnte gar nichts falsch genug machen, um in den Augen der Eltern einmal Strafe verdient zu haben. Er, Fritz, dagegen, blass, kränklich, ängstlich, lebte beständig in vorauseilender Furcht vor dem strafenden Zorn des Vaters und zog das Unheil scheinbar magisch auf sich. In den Zeiten zwischen den tatsächlichen Vorfällen lebte er in stummer, resignierter Hinnahme seiner Rolle und in leidenschaftlicher, wenn auch mehr oder weniger versteckter Bewunderung solcher Jungen, die sichtbar besser mit dem Leben und seinen Tücken zurechtkamen als er. Unter denen hatte er zuletzt speziell Johannes zu seinem Idol erkoren, ihn liebte und verehrte er weit mehr noch als seinen Bruder, wünschte sich sehnlichst, ihm gleich zu sein, oder, da dies ja wohl nicht möglich war, ihn zu seinem besonderen Beschützer zu haben. Der hatte begonnen, etwas davon zu ahnen und hatte die Aufgabe, nur halb bewusst, sich ein wenig zu eigen gemacht. Mindestens bei Auseinandersetzungen oder Hänseleien unter den Straßenkindern nahm er ihn öfter in Schutz - vor den Leiden in der Familie konnte er ihn selbstverständlich nicht behüten.
Natürlich gelang es Fritz nicht, unbemerkt ins Haus zu kommen. Als die Eltern ihn erblickten und ihn ansprechen wollten, dabei seine vor Schreck aufgerissenen Augen sahen, aus denen schon die ersten Tränen traten, verlor der Vater schon gleich die Geduld, und Mutters Brauen zogen sich in unwilliger Furcht düster zusammen. „Was ist denn nun schon wieder? Wie kommst du denn daher? Da denkt man, der Junge muss doch wohl einen schönen Tag gehabt haben, und man hat doch schließlich das Seine dazu getan, da kommt er hier hereingeschlichen wie die arme Sünde selbst. Also, was gibt’s?“ Inzwischen stand Fritz längst schon mit hängenden Schultern, abgewandtem Gesicht und tropfenden Augen da. „Jetzt wollen wir dann erst mal das Taschengeld abrechnen - wie viel hast du ausgegeben?“ Keine Antwort, nur ein tieferes Senken des Kopfes. „Antworte endlich! Steh nicht hier rum wie ein begossener Pudel! Was ist mit dem Geld, und wo ist mein Tabak?“, fuhr der Vater ihn an. Ein unverständliches Murmeln ließ sich hören, und der Junge zuckte unwillkürlich weiter vom Vater weg. Der packte ihn bei den Schultern, schüttelte ihn roh und schrie ihn an: „Wirst du mich wohl ansehen, wenn ich mit dir rede, und laut und deutlich antworten wie ein Mann??!“ - „Ich hab’s verloren“, flüsterte Fritz mit gesenkten Augen und konnte vor Angst sich schon kaum mehr auf den Beinen halten. „Wie?! Ich versteh’ wohl nicht gut? Verloren??!“ Und schon schallten die Ohrfeigen, griff der Vater sich die Rute, die handlich in einer Nische bereit steckte, und drosch schimpfend und fluchend auf das schluchzende Kind ein, das vor Schmerz, Reue und Verzweiflung außer sich war und, den Kopf zwischen den beiden Armen vergraben, vergeblich wenigstens den schlimmsten Schlägen auszuweichen suchte. Die Mutter ließ das alles mit abgewandtem Kopf und zusammengekniffenem Mund geschehen, die kleine Schwester stand gegen die Knie der Mutter gedrückt, ein Stückchen von deren Rock fest umklammernd, und schaute mit großen, ernsten Augen zu. Keiner der Beteiligten ahnte, dass es viel mehr Fritzens schwächliche Furcht war, der unruhig ausweichende, angsterfüllte Blick, der gar nichts anderes als rohe Gewalt zu erwarten schien, was den Vater zu solch ungezügeltem Zorn provozierte. Ralph, der Bruder, hätte einfach dagestanden und mutig gesagt „Loch in der Hose, Geld verloren, ’tschuldigung“, hätte eine Ohrfeige kassiert und wäre schulterzuckend seiner Wege gegangen.
Als der Vater endlich seine Wut abreagiert hatte, schob er den Jungen unsanft in das Hinterzimmer, wo die Betten standen, und verbot ihm, sich heute noch einmal zu zeigen. „Abendbrot gibt’s keines, klar?!“ Da lag er über eines der Betten geworfen, von wilden Schluchzkrämpfen durchschüttelt, mit brennenden Gliedern, aber des körperlichen Schmerzes kaum bewusst: In unaufhaltsamem Fall war er abgestürzt, in eine tiefe Nacht aus grenzenloser Selbstverachtung und bitterstem Überdruss, die nicht nur sein Inneres sondern das ganze ihn umgebende Universum restlos ausfüllte, und worin er so vollständig versank und sich auflöste, dass diese schwarze Finsternis ihm fast schon wieder eine paradox tröstliche Betäubung bescherte. Als nach einer ganzen Weile, während derer er so gelegen hatte und seine Schluchzer seltener und schwächer geworden waren, die Mutter leise hereinkam, sich zu ihm setzte, ihm wortlos ein Stück Brot in die Hand schob und die ihre auf seine Schulter legte, reichte der halbherzige Tröstungsversuch gerade aus, um den Schmerz mit einem leisen Wimmern neu aufleben zu lassen. Bald ging die Mutter hilflos seufzend wieder hinaus. Mit dem Stück Brot in der Hand schlief er dann endlich ein, und so ging für Fritz der Tag der bunten Ballons und schwebenden Verheißung zu Ende, indem er nur gerade eben in einer wenigstens vorübergehend heilsamen Bewusstlosigkeit erlittene Schmach und Schmerzen, seine Angst vor dem neuen Tag, dem neuen Schulzyklus, dem Rohrstock des neuen Lehrers und den mitleidlos überlegenen Altersgenossen vergessen durfte.
Ein lautes und kunterbuntes Hallo begrüßte Elsa, als sie zur Tür hereingesprungen kam und sogleich begann, fröhlich schwatzend zu erzählen. Von dem Chaos aus Gegenfragen, Widersprüchen der Brüder, die selbst dort gewesen waren, Unterbrechungen aus Geschwisterneckereien und -zankereien und elterlichen Zurechtweisungen, gegen das sie anreden musste, ließ sie sich nicht im Geringsten aufhalten. Wer nicht zuhörte, verpasste eben ihren Bericht, selber schuld, und so beschrieb sie mal den einen, mal den anderen Mitgliedern ihrer großen Familie, was sie gesehen, getan, aber auch, was sie nicht gesehen hatte - wo ihr eigene Anschauung fehlte, ließ ihre Phantasie sie so schnell nicht im Stich. Die Eltern waren auf gutmütig zerstreute Art selbst fast kindlich interessiert, und während die Mutter in dem Durcheinander, das hier herrschte, die nötigen Sachen zum Richten des Abendbrotes zusammensuchte und der Vater nebenher in einer alten Zeitung blätterte, gaben sie beeindruckte oder ungläubige Kommentare ab - „nein, wie ist das nur möglich! - Da würden mich ja keine zehn Pferde hineinbekommen!“, oder „Nu mach aber mal halblang, jetzt flunkerst du sicher wieder!“
Irgendwann schlug sich Elsa an die Stirn. „Ich muss euch ja was zeigen!“, rief sie und zog aus irgendeinem Winkel ihrer Kleidung einen bunten Gegenstand hervor. Den hielt sie ins Licht, und zum Vorschein kam ein Traum von einem Schal oder indischen Überwurf: ein großes quadratisches Tuch, diskret seidig schimmernd, mit orientalischen Stickereien von Vögeln und Schmetterlingen zwischen zart verästelten Zweigen in schweren, intensiven Farben, hier und da mit Silhouetten aus Goldfäden abgesetzt, alles auf einem Untergrund von verhalten leuchtendem, samtigem Burgunderrot. In der ärmlichen Umgebung aus schäbigem, ramponiertem Mobiliar, nicht eben vorbildlich sauberen Menschen verschiedensten Alters, abgetragenen, vielfach geflickten oder auch gar nicht ausgebesserten Kleidern und einem wilden Sammelsurium von ebenso vernachlässigten Gebrauchsgegenständen nahm sich das edle Tuch wie ein Fremdkörper aus einer anderen Welt aus. Elsas Augen strahlten glücklich, als sie das Prachtstück in die Runde hielt.
„Ist er nicht wunder-, wunder-, wunderschön??!“
„Wo in drei Teufels Namen hast du denn den schon wieder her?“, fragte der Vater erschrocken.
„Den? Den ... hab ich gefunden“, meinte Elsa nicht sehr überzeugend.
„Gefunden? Das glaubst du ja wohl selbst nicht!“
„Naja, der hing über einer Sitzbank, auf der Tribüne.“
„Ja, sicher, und bestimmt ganz herrenlos, weit und breit keine Eigentümerin zu sehen, was?“
„Hm, wahrscheinlich hat er der Dame gehört, die gleich daneben saß... Aber es war ganz leicht, sie war so abgelenkt mit Schauen.“
„Kind, Kind, du bringst uns noch in Teufels Küche!“, klagte die Mutter.
„Aber es hat mich wirklich bestimmt niemand bemerkt“, versicherte Elsa.
„Na, nun ist es ja jedenfalls geschehen, zurückbringen wirst du ihn ja wohl nicht gut können. Aber was willst du überhaupt damit anfangen? Tragen kannst du ihn doch auf gar keinen Fall, da kassiert dich die Polizei ja gleich vom Fleck weg.“
„Nein, ich will ihn nur hier haben und ihn immer wieder anschauen. Er ist sooo herrlich!“
„Na, Geschmack hat die Göre ja, und Sinn für Qualität, das muss man ihr lassen“, brummte der Vater, „das ist mit Sicherheit Eins-A-Material und ein ganz wertvolles Stück. Lass dich nur ja nicht damit erwischen!“
Nun hätte man ja nicht gerade behaupten können, dass alle Bewohner dieses Viertels sich immer fest an das siebte Gebot gehalten hätten. Manche Leute hier waren so arm, dass ihnen schier nichts anderes übrig blieb als den Mangel ein wenig auszugleichen, indem sie hin und wieder Essbares oder Bargeld, oder was man dazu machen konnte, mitgehen ließen. In manchen Familien überließ man das, selten durch direkte Anweisung, eher durch stillschweigendes Hinnehmen, den Kindern, bei denen man glaubte, auf Nachsicht von Seiten der Justiz hoffen zu dürfen. Trotzdem legten aber doch die meisten großen Wert darauf, sich halbwegs unbescholten zu halten, schon aus dem Bewusstsein heraus, in einer Gegend zu wohnen, die den Argwohn der Bürgerschaft und der Gesetzeshüter auf sich ziehen musste. In jedem Fall wurde, wenn, dann pragmatisch und zweckgebunden gestohlen. Bei Elsa dagegen war es etwas Anderes: Sie hatte offenbar eine angeborene Begabung, eine Flinkheit und Geschicklichkeit, die sie geradezu zur Taschendiebin prädestinierte, und dieses Talent übte einen starken Zwang aus, es zu trainieren und auszuleben. Günstige Gelegenheiten wirkten auf sie wie sportliche Herausforderungen, und je riskanter die Situation, desto unwiderstehlicher die Versuchung. Dabei spielte die Nützlichkeit oder der objektive Wert der potentiellen Beute überhaupt keine Rolle. Einziges Kriterium war, dass der Gegenstand ihr aus irgendwelchen Gründen gefiel und dass ihr Diebesehrgeiz angestachelt wurde. So hatten sich bei ihr schon die verrücktesten Sachen angesammelt, mit denen niemand wirklich etwas anfangen konnte. Sie aber verwahrte sie in einem alten Karton, den sie ab und zu hervorzog, um sich dann Stück für Stück in die Betrachtung ihrer Schätze zu vertiefen. Da lag dann nahezu Wertloses mit kleinen Kostbarkeiten einträchtig beisammen: Blech- neben Porzellandöschen, Figuren aus Zinn, Keramik oder Wachs neben kleinen Kunstwerken aus geschliffenem Bleikristall, skurril geformtes und bunt verziertes Blechbesteck neben einzelnen Silberlöffelchen, billiger Modeflitter neben ein, zwei Stücken echten Schmucks. Zweimal war sie schon erwischt und auf die Polizeiwache gebracht worden; da sie aber damals noch so klein gewesen war, hatten die Polizisten sie unter strengsten Ermahnungen wieder springen lassen. Die anderen Kinder spotteten über sie und gaben ihr den naheliegenden Spitznamen „die Elster“. „Wie blöd die ist“, lachte Rudolph verächtlich, „stürzt sich auf alles, was irgendwie glänzt, statt wenigstens Sachen zu klauen, die was bringen, wenn sie schon das Risiko eingeht. Na, typisch Weibsbild eben!“ Auch als sie heute Mittag nach den Ballonstarts die Freunde vorsichtig ein Eckchen ihres „Neuerwerbs“ hatte sehen lassen, hatte sie solch lachendes Kopfschütteln geerntet. - Sie ließ sich’s nicht verdrießen, legte den Schal sorgfältig in lockeren Falten zusammen, strich noch einmal voller Bewunderung seufzend über das kühle und doch schmeichelnd weiche Material, packte ihn in ihre Schatzkiste und mischte sich dann fröhlich unter das durcheinanderlärmende Familientreiben.
Elsa hatte es unter den Nachbarskindern, was ihr Zuhause anging, wohl mit am besten getroffen: Die Eltern hatten, obwohl mindestens so arm und bedrängt im Lebenskampf stehend wie die anderen, sich eine gutgelaunte, lachende Indolenz bewahrt; mal reichte es gut, mal nicht so ganz, insgesamt herrschte Unordnung und Schludrigkeit auf allen Ebenen, aber irgendwie ging es immer weiter, alle nahmen’s recht gelassen, und mit diesem gleichmütigen Optimismus und Schlendrian wurstelten sie sich und ihre Kinderschar schlecht und recht durch, ließen sich so schnell durch nichts aus der Ruhe bringen. Die Kinder ihrerseits verband untereinander eine ebenso unaufgeregte, nicht sehr demonstrative, erst recht nicht sentimentale Geschwistersolidarität.
In Elsas Träumen dieser Nacht webte eine Flotte der schönsten, buntesten Luftballons durch die Baumkronen eines lichten Waldes, zwischen dem lockeren Gewirr graziler Zweige glitten lautlos farbenprächtige Vögel, von deren Flügeln goldener Staub herabrieselte, und riesige Schmetterlinge, so bunt und herrlich gemustert, wie sie sie im Leben noch nie gesehen hatte, ließen sich hie und da sanft nieder; sie selbst schwebte im Korb eines der Ballons durch die Lücken des Gezweiges immer höher hinauf, einem unwirklich getönten Himmel entgegen, dessen Purpurfarbe, je freier man bis zum Horizont blicken konnte, desto intensiver, geheimnis- und verheißungsvoller wurde. So schlief Elsa dem neuen Tag, dem neuen Schuljahr, neuen Erlebnissen und aufregenden Funden leise lächelnd entgegen.
„Junge, wo bleibst du denn nur so lange?“, rief Johannes‘ Mutter ihm entgegen, während sich ihre angespannte Miene zu einem erleichterten Lächeln glättete. „Ich hab mir solche Sorgen gemacht. Die anderen sind ja längst schon zurückgekommen!“
„Tut mir leid, Mutter, aber ich war mit Rudolph noch in der Stadt. Er hat mich so lange überredet, bis ich mitkam, ins Panoptikum, und es war auch wirklich ganz doll interessant; und danach hat er mich immer noch aufgehalten, bis er endlich selber weiter musste. - Hast du die Wäsche fertig? Ich geh dann gleich los.“
„Aber du hast doch sicher erst mal Hunger!“
„Nein, ich will das hier zuerst erledigen. Ich weiß doch, du machst dir Sorgen, dass dir die Kundschaft wegläuft, wenn die Sachen zu spät geliefert werden.“
Mit diesen Worten schulterte er einen großen Weidenkorb, in den mehrere in braunes Papier sauber eingeschlagene Pakete geschichtet waren - die Bügelwäsche dieser vergangenen Woche, die seine Mutter bis heute Abend bei den verschiedenen Auftraggebern abgeliefert haben musste. Gewöhnlich trug sie die Sachen selbst aus, aber in den letzten Tagen fühlte sie sich nicht gut, und da hatte er sich natürlich anerboten einzuspringen. Etwas zu schwer war die Last eigentlich schon noch für seine zwölf Jahre, aber sein Stolz ließ es nicht zu, sich etwas anmerken zu lassen.
Mit solchen Bügel-, Wasch-, Flick- und Näharbeiten mühte sich die Mutter, die magere Witwen- und Waisenrente aus der Sozialkasse aufzubessern, seit ihr Mann an den Folgen eines Arbeitsunfalls gestorben war. Johannes war damals noch keine drei Jahre alt gewesen. Dringend hatte der Vater ihr noch ans Herz gelegt, dafür zu sorgen, dass der Junge einmal ordentlich die Schule besuchen und eine anständige Lehre machen konnte, so, wie sie es beide immer vorgehabt hatten.
Das war von früh an seine Rede gewesen, immer wieder hatte er Pläne gemacht, wie sie beide sich ins Zeug legen würden, um ihren Kindern einmal eine möglichst solide Ausbildung zu ermöglichen. Unter seinesgleichen war das nun keineswegs selbstverständlich, auch er selbst hatte kaum Bildung genießen dürfen, gerade einmal, dass er in ein paar Volksschuljahren die Grundfertigkeiten Lesen, Schreiben, Rechnen beigebracht bekam, etwas Religion, Gottesfurcht und Gehorsam. Dann hatte er schon als ungelernter Fabrikarbeiter seinen Lebensunterhalt verdienen müssen, lange, endlos lange Arbeitstage und -wochen stand er durch, und nur weil er eine rare Mischung aus Zähigkeit, Energie, gesundem, widerstandsfähigem Organismus und einem unruhigen, neugierigen, leicht rebellischen Geist besaß, hatte er sich in seinen technisch-handwerklichen Kenntnissen so voranarbeiten können, dass er bald mit einem ausgebildeten Schlosser mithalten konnte. Darüber hinaus aber wurde er Mitglied eines Arbeitervereins und besuchte abends und sonntags die dort angebotenen Fortbildungsveranstaltungen; und als er heiratete, schwor er sich, dass er, koste es, was es wolle, seinen Kindern den Rücken frei halten wollte, damit sie einmal nicht darauf angewiesen wären, sich ein paar Brocken Wissen und Aufklärung, ein dünnes Stückchen Menschenwürde in spärlichen, der Erschöpfung und Ausbeutung abgerungenen freien Stunden zusammenzuklauben.
Seit zehn Jahren setzte Anna Reiser also schon alles daran, diesen letzten, inständigen Wunsch ihres Mannes nach besten Kräften zu erfüllen. Natürlich ging ihr Sohn in die Schule, noch unterlag er ja ohnehin der Schulpflicht; aber, anders als in vielen Familien ihrer Umgebung, ließ sie es nicht zu, dass er mehr Zeit und Kraft auf Hilfsarbeiten zum Gelderwerb verwandte als auf Schulbesuch und Hausaufgaben. Groß war die Zahl der Kinder, die noch zu nachtschlafender Zeit aus dem Haus gingen, um Milch oder Zeitungen auszutragen, nachmittags Lauf- und Botendienste verrichteten, an den Bahnhöfen herumlungerten, um Gepäck zu tragen oder Droschken zu organisieren, an öffentlichen Plätzen einen Schuhputzservice oder kleine Verkaufsartikel aus um den Hals gehängten Holzkisten anboten und abends in rauchigen und bierdunstgeschwängerten Vergnügungsetablissements Kegel aufstellten; in manchen Familien aber wurden die halbe Nacht hindurch in Heimarbeit irgendwelche Waren produziert, und alle, die aus dem Kleinkindalter heraus waren, mussten mithelfen. Von den Stunden in der Schule konnten solche Kinder natürlich kaum profitieren, saßen sie doch völlig apathisch, übermüdet, mit bleichen Gesichtern und regelmäßig zufallenden Augen da und bekamen von dem vermittelten Stoff das Wenigste mit.
Am liebsten hätte die Mutter den Sohn von solcherlei Aktivitäten ganz frei gehalten, überzeugt davon, dass sie nur so dem Wunsch des Vaters wortwörtlich gerecht würde. Doch hatte der Junge selbst in letzter Zeit sich mit seinem Wunsch durchgesetzt, nicht hinter seinen Kameraden zurückzustehen, seine Mutter zu unterstützen und ebenfalls etwas für den Erhalt beizutragen, auch zu spüren, dass er sich nützlich machen konnte, und sich gleichzeitig ein gewisses Maß an erwachsener Souveränität zu erobern. So lange hatte er gebettelt, bis die Mutter schließlich nachgegeben und ihm erlaubt hatte, wenigstens morgens vor der Schule eine Runde Zeitungen auszutragen.
Als Johannes eine Stunde später mit dem leeren Korb wieder zuhause war, stellte die Mutter den Topf mit der aufgewärmten Suppe auf den Tisch, in der zur Feier des Sonntags außer den üblichen blässlichen Kohlblättern und Kartoffelstückchen auch ein paar Brocken Speck schwammen, schnitt ein paar Scheiben Brot ab, und die beiden setzten sich zur gemeinsamen Abendmahlzeit. Dies war immer ein besonderer Moment für sie: Alltagslasten traten in den Hintergrund, Ruhe und eine Stimmung von gegenseitigem Vertrauen und tiefer Verbundenheit breiteten sich aus und umschlossen die beiden in einer von der Außenwelt isolierten, nur ihnen allein gehörenden Sphäre, in die lediglich das Ticken des Weckers auf dem Küchenregal und hie und da ein Knacken oder Knistern aus einer Ecke des Raumes drang. Hier gab es Gelegenheit, sich Neuigkeiten und Erlebtes zu berichten oder Pläne zu besprechen; oft auch erzählte die Mutter dann von der Zeit, in der der Vater noch gelebt hatte, von dessen Träumen und Wünschen, versuchte, dem Sohn ein Bild von ihm zu schaffen und Stolz auf seine in ihren Augen so bewundernswerten Eigenschaften einzuflößen und so ein wenig die leere Stelle auszufüllen, die der frühe Tod hinterlassen hatte.
„Wenn ich groß bin, möchte ich einmal die Welt sehen!“ Das seufzte Johannes mehr als dass er es sagte, mit leuchtenden Augen, mitten aus seinem lebhaften Bericht von den Eindrücken des Tages heraus. „Glaubst du, ich kann das schaffen?“
„Ach, Junge, ich wär schon froh, wenn du es schaffen könntest, hier ein bisschen besser zu leben als deine Eltern. - Aber dein Vater hätte sicherlich anders geantwortet. Der hätte gesagt, du kannst das schaffen, wenn du nur willst. Lerne, so viel du kannst, bleib wach, schau dich um und behalte dein Ziel fest im Blick ... so in der Art hätte er gesprochen. Und ich will, dass du mehr auf deinen Vater hörst als auf mich. Denn wenn ich auch selbst fast nichts gelernt habe, eins weiß ich ganz bestimmt: dein Vater war ein kluger Mann, er wusste, worauf es ankommt, und wenn er hätte leben dürfen, dann hätte er Dich und deine Geschwister, die du dann wohl gehabt hättest, ermutigt und unterstützt, eure Träume zu erfüllen. - Und wo wir schon vom Lernen sprechen: du solltest dich jetzt schlafen legen, morgen hast du wieder Schule und solltest ausgeruht sein.“
Irgendwann in der Nacht schreckte er hoch, mit dem letzten Bild aus seinem Traum noch vor Augen, der ihn so unsanft wachgerissen hatte. Er sah, selbst in einem großen Wäschekorb stehend und über den Rand gelehnt, wie seine Mutter sich verzweifelt an den Korb klammerte, der höher und höher in die Lüfte stieg, sah ihr Gesicht mit den erschrockenen Augen zu ihm emporblicken, versuchte, ihre Hände zu fassen zu bekommen und sie zu sich herauf- und in den Korb hereinzuziehen, konnte sie nicht erreichen und musste hilflos mit ansehen, wie sich schließlich ihr krampfhafter Griff löste, sie abglitt und in die Tiefe fiel.
Während er mit klopfendem Herzen dalag und in die Dunkelheit starrte, versuchte er, sich an die Anfänge des Traums zu erinnern. Da hatte auf einem weiten, von Wäldern umgebenen Feld dieser Korb gestanden, und er hatte in braunes Papier eingeschlagene Pakete mit sauberer und warmer Kleidung, Lebensmittelvorräten und Ausrüstungsgegenständen hineingepackt. Zum Schluss kletterte er selbst in den Korb hinein, nahm einen Blasebalg und begann, nach Kräften zu pumpen; da richtete sich ein riesiger Ballon allmählich auf, der bislang seitlich im Gras gelegen hatte, bis er gerade über ihm schwebte, und schon hob sich der Korb unendlich sanft von der Erde ab, ein süßer, freudiger Schreck durchrann ihn und verschlug ihm den Atem. In diesem Moment aber sah er noch in einiger Entfernung eine Gestalt auf sich zu rennen und mit sich überschlagender Stimme schreien: „Johannes, nein, nein! bitte nicht, warte auf mich! Bitte, Hannes, lass mich nicht allein!“; da war seine Mutter herangekommen, doch der Korb hatte schon zu sehr an Höhe gewonnen, und sie konnte nur gerade noch einen Griff unten an der Seite erwischen...
Nachdem er unter der Erinnerung an diese Bilder wieder eingeschlafen war, fand er sich erneut in seinem Wäschekorb wieder, der inzwischen aber weit weg von seinem Aufstiegsort hoch oben am Himmel dahinschwebte. Wälder, Seen, Gebirge zogen unter ihm hinweg, dann wurden die Seen zu einer endlosen blauen Fläche, das musste das Meer sein. Nach einer Weile kam wieder Land in Sicht, das aber keine Ähnlichkeit mehr hatte mit irgendetwas, das er je selbst oder auf Bildern gesehen hatte. Landschaft und Vegetation hatten verrückte Farben, schimmerten bläulich, rötlich, lila, er überflog Paläste und Städte in bizarren Formen. Irgendwann bemerkte er erschrocken, dass der Ballon über ihm in bedenklicher Geschwindigkeit schrumpfte und immer kleiner zusammenschnurrte, gleichzeitig der Korb in zunehmendem Tempo an Höhe verlor; schnell fing er an, von den mitgeführten braunen Paketen immer mehr über den Rand hinauszuwerfen. Das half offensichtlich, den Fall abzubremsen. Als er so einigermaßen sanft auf der Erde gelandet war, fand er sich auf einem Platz in einer dieser wunderlichen Städte wieder; heilloses Stimmengewirr umgab ihn und herrliche Düfte; schließlich umringte ihn eine Menge von fremdländisch gekleideten, sehr braunen Menschen. In weiten weißen Kitteln wie Schlafröcken steckten sie, hatten bunte Hüte wie umgestülpte Blumentöpfe auf den Köpfen und hielten ihm sogleich eine Auswahl an exotischen Waren hin. Der eine hatte gelbe, rote, grüne Pulver in Gläsern zu verkaufen, ein anderer zeigte ihm unter dem Deckel eines Korbes eine zusammengerollte Schlange, ein Dritter bot ihm ein wunderschön verziertes, bunt besticktes purpurgrundiges Tuch an, und wieder ein anderer streckte ihm - „na, das nenn’ ich Chuzpe!“, dachte er - ein Paket in braunem Packpapier hin. Offenkundig hatte sein Schwebekorb ihn genau auf einem belebten Marktplatz abgesetzt. Er schaute, staunte und bewunderte, begeistert von seiner freien Fahrt und weiten Reise und den neu zu entdeckenden Gegenden. Immer jedoch begleitete ihn tief unter dem freudigen Reisefieber ein Gefühl der Schwermut, der Traurigkeit und auch der Reue, ohne dass er sich darauf besinnen konnte, woher das kam...