Читать книгу Die verriegelte Tür hinter dem Paradies. Ein Roman frei nach Heinrich von Kleist - Karis Ziegler - Страница 11
6. „Reise um die Welt“
ОглавлениеDie See lag ruhig und glänzte unter dem wolkenfreien Himmel nach allen Seiten hin endlos in tausend Reflexen des ungehemmten Sonnenlichts. Fast hätte man glauben können, das Schiff läge bewegungslos, doch hob und senkte es sich im ruhigen Atemrhythmus eines traumlos Schlafenden mit einer ansonsten nicht wahrnehmbaren Dünung; hin und wieder knarrte Balken, Planke, Mast, klatschte leicht ein schlaffes Segelende. Ein leises Zischen und Wellenplätschern am Bug war fast das einzige Indiz, dass das Schiff von einem sanften, aber stetigen Wind vorangetrieben wurde und den grenzenlosen, scheinbar aus bloßer golddurchwirkter, luftdurchwehter Bläue bestehenden Raum schwerelos und doch planvoll und richtungsgewiss durchschnitt.
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Er stand an der Reling des Vorderdecks, federte das leichte Auf-und-Nieder in den Knien ab und ließ seinen Blick sich in der Weite verlieren.
Wenige Wochen erst auf See, etwas Übung in Enge, Seemannskost und balancierendem Gang, der Beginn einer wagemutigen Unternehmung, von deren Verlauf und Ausgang nur eines gewiss war: dass sie so glatt, so leicht beschwingt wie dieser Auftakt nicht bleiben würde.
Und doch: die Hoffnung, dass jene flügelleichten, sonnendurchwärmten ersten Tage als gutes Omen für die ganze Reise zu nehmen erlaubt wäre...
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Nach wochenlanger Aussicht auf einen ununterbrochen zirkelgeraden Horizont ein im Spätnachmittagslicht wachsender, zunehmend Konturen zeigender dunklerer Streifen, den man morgen als festes Land betreten würde - Afrika!
Davor jedoch eine Nacht der Wunder: Nach Sonnenuntergang zünden nicht nur am Himmel ungezählte Lichter, auch das Meer erglänzt in tausendfachem Leuchten, jeder Wellenkamm bildet einen feurighellen Kranz, jedes Wellental breitet einen strahlenden Teppich aus zahllosen Lichtpunkten unter dem Rumpf des Schiffes aus, das so im wahrsten Sinne ein Lichtermeer durchschwebt, und man zwischen oben und unten, Himmel und Erde, Luft, Wasser und Feuer die Orientierung zu verlieren meint.
Das Wunder des leuchtenden Wassers - es ist mithilfe von in Eimern an Bord gehobenen Proben bald enträtselt: Abertausende kleinster Weichtierchen, die in bewegtem Wasser ihre Fähigkeit des selbständigen Leuchtens aktivieren - enträtselt, aber auch dann noch ein großes, beglücktes Staunen.
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Nach mehrtägigem Landgang mit Erkundungswanderungen durch fremdartig wilde Natur- und von europäischen Siedlern nach bekanntem Muster nutzbar gemachte Kulturlandschaft wieder auf See und, tatsächlich, die sorglose Zeit scheint zu Ende: tagelange Stürme, Schwanken und Taumeln, Brecher, die auf Deck schlagen, Ausstattung zerbrechen und Kojen durchnässen, alles noch mit Humor getragen, und dann: Nacht des Grauens und Stunden der Todesangst: eindringendes Wasser, verzweifeltes Ankämpfen der gesamten Besatzung mit Pumpen und Eimern, in Finsternis und Ungewissheit über die Ursache des Unglücks, bis endlich doch nur ein vom Sturm oder den Wellen aufgedrücktes Fenster als undichte Stelle ausgemacht, schnell fest verschlossen, die Kabinen freigepumpt werden können und Erleichterung über die knappe Rettung sich ausbreitet - wie viele ähnlich gefährliche Situationen würde man noch zu bestehen haben bis zum Ende der Reise?
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Täglich zunehmende Kälte, in der kaum noch zu trocknenden klammen Kleidung nur schwer erträglich. Das Einerlei unzulänglicher Kost, immer gleicher Abläufe und immer wieder enttäuschter Hoffnungsblitze, endlich Land zu finden. Monatelanges ausweglos erscheinendes Kreuzen zwischen dichter und größer werdenden Treibeisformationen, durch eine seelenleere, in mancher Nacht vom befremdlich-schönen Südpolarlicht überstrahlte Hölle...
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Ausweichen vor dem südlichen Winter in wärmere Regionen, Segeln zwischen zahllosen Inseln hindurch, denen es zum Teil erst Namen zu geben gilt, bereist man doch manche der Gebiete als erste Europäer überhaupt. Und hier auch endlich wieder Begegnungen mit Menschen: wohl manchmal feindselig, waffenstarrend gegenüber den Eindringlingen mit ihrer unvertrauten Physiognomie und ihren Riesenbooten, oft aber zögerlich-vorsichtig-freundlich oder gar gleich von Anfang an neugierig, kontaktfreudig, gastfreundlich. Dann leiten Geschenke und Gegengeschenke einen regen Tauschhandel ein, und es gibt Einladungen in die Dörfer zu ausgiebigen Mahlzeiten oder Aufführungen ritueller Tänze und Spiele, man singt Lieder vor in der Runde und lauscht fasziniert denjenigen der weißen Gäste.
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Nachdenklichkeiten: diese Besuche in der fremden Welt - würden sie nicht vielleicht böse Folgen haben für die Inselbewohner - vielleicht bislang unbekannte und daher fatale Krankheiten, vielleicht durch die Kostproben der fortgeschrittenen Zivilisation geweckte Begehrlichkeiten, Konflikte ganz neuer Art, Umwälzungen in ihren altbewährten Lebensformen, die sie vielleicht dereinst würden wünschen lassen, die weißen Menschen wären zuhause geblieben und hätten sie nie entdeckt?
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Hinter dieser Landzunge hofften sie, eine geschützte Bucht als Ankerplatz für einige Tage zu finden. Als sie schon zu der Wendung ansetzten, um an ihrer äußersten Spitze vorbei in die Bucht einzuschwenken, war es jedoch, als hielte sogar das Schiff vor Staunen inne: Was sie vorfanden, war zwar tatsächlich ein ideal gelegener Hafen; der aber war bereits genutzt auf eine Weise, die sie hier, inmitten der Südsee, nie für möglich gehalten hätten. Eine unübersehbare Reihe aus Hunderten von offensichtlich kriegerisch gemeinten Doppelkanus, weitaus größer als die wendigen Boote für den Alltagsgebrauch, die sie von den meisten bisher besuchten Inseln schon kannten, lagen Seite an Seite, jedes mit hoch hinaufgezogenem, schnabelförmig gebogenem Bug und Heck, mächtigen Verdecken und Aufbauten, alles höchst aufwändig mit Schnitzereien und Bemalungen, mit Wimpeln und Federbüschen dekoriert. Jedes Schiff bot Platz für weit mehr als hundert Mann, und so wimmelte der Strand von einer bunten Menge herausgeputzter und mit Speeren, Keulen, Streitäxten bewaffneter Krieger. Das ganze weite Rund der Bucht bot ein vielfarbiges, prächtiges Bild, und dennoch herrschte eine Stimmung von angespanntem, feierlichem Ernst...
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Aufgeregtes Schiffsglockengebimmel und ärgerlich erhobene Stimmen ließen ihn aufschrecken, verwirrt und im ersten Moment nicht ganz im Bilde, wo er sich gerade befand. Zwei Lastkähne waren sich zu nah gekommen, hatten nun Mühe, sich aneinander vorbeizumanövrieren, und die Schiffsleute ließen die Gelegenheit nicht aus, sich gegenseitig mit Gusto zu beschimpfen.
Johannes runzelte die Stirn und wandte sich wieder dem Buche zu, das er auf den Knien liegen hatte - wie schade, gerade war es so besonders spannend gewesen!
Hier saß er, an seinem Lieblingsplatz am Kanal, auf einem flachen Stein zwischen Gebüsch und Gestrüpp unter einem der wenigen Bäume, die hier wuchsen, recht gut abgeschirmt und für sich, und hier hatte er schon tagelang in jeder freien Minute gesessen, seit ihn Herr Mäuthis neulich bei Schulschluss gebeten hatte, er möge doch mal nicht gleich weglaufen, er wolle ihn noch kurz sprechen. Er hatte, etwas erschrocken, überlegt, ob er irgendetwas angestellt hatte. Die anderen, die anscheinend Ähnliches vermuteten, grinsten ihm im Hinauslaufen zu.
„Schau mal, Johannes, ich hab hier was für dich. Du interessierst dich doch für so mancherlei, und besonders fürs Reisen und fremde Länder, nicht? - Als ich zuletzt zuhause bei meinen Eltern war, fiel mir dieses Buch in die Hände. Als Junge hab ich das geliebt und immer wieder angeschaut und darin gelesen. Ich musste gleich an dich denken und hab’s einfach mal mitgebracht. Es ist schon ziemlich alt, der es geschrieben hat, hat vor fast hundertfünfzig Jahren gelebt. Aber ich glaube, er war genauso ein neugieriger Kerl wie du; und er war ungefähr in deinem Alter, da hat ihn sein Vater auf eine erste größere Forschungsreise mitgenommen, und nur wenige Jahre später, da war er immer noch fast ein Kind, durfte er ihn auf ein noch größeres Abenteuer begleiten, eine Entdeckungsreise rund um die Welt, und er hatte sogar eine eigene Aufgabe dabei. Er sollte nämlich die unbekannten Pflanzen und Tiere abzeichnen, die man finden würde. Am Ende hat er sogar den ganzen Reisebericht selbst geschrieben, und das ist nun das Buch, das du hier in Händen hältst. Wenn du möchtest, nimm es ruhig mit, und du kannst dir auch Zeit lassen mit dem Lesen und Zurückgeben, ich kenne es ja gut, hat also keine Eile.“
So Lehrer Mäuthis. Und Johannes wusste vor lauter Stolz und Freude über das Ernstgenommenwerden, über den Vertrauensbeweis kaum, seinen Dank auszudrücken. Und so zog er sich seither Tag für Tag zu seinem Platz am Weidenbäumchen zurück, saß, das große, schwere Buch auf den Knien, den Kopf in die Hände gestützt, und las und schaute mit heißen Wangen, und es kam ihm fast so vor, als sei er selbst mit dabei auf dem altmodischen Segelschiff, bei den Fahrten in unerforschte Gebiete, bei Stürmen und Windstillen, in antarktischer Kälte und tropischer Wärme, bei den Zusammentreffen mit den seltsamen Menschen, deren Verhalten, so fremd und unvorhersagbar es einerseits schien, er sich aber andererseits so gut vorstellen und nachvollziehen konnte.
Nicht, dass er das Buch Satz für Satz, Seite für Seite von vorne bis hinten durchlesen würde. Dafür stellte es ihn schon sprachlich vor zu große Schwierigkeiten. Das Deutsch, das dieser Junge vor einhundertfünfzig Jahren schrieb, war denn doch teilweise so veraltet, dass es ihm an manchen Stellen trotz mehrmaliger Versuche nicht gelang, das Gemeinte zu entschlüsseln. Dann gab es auch seitenlange Aufzählungen von wirtschaftlichen und soziologischen Daten und Statistiken oder sehr abstrakten Überlegungen, von denen er das meiste überblätterte. Häufig ließ er sich auch einfach von den wunderbaren und detailgenauen Illustrationen fesseln und studierte Bilder von tropischen Pflanzen, von unbekannten Vierfüßern wie Gnus oder Antilopen, von Vögeln und Fischen in leuchtend bunten Farben. Am besten gefielen ihm die Zeichnungen, die um das dargestellte Tier herum auch noch etwas von der Umgebung andeuteten: da saßen kleine Vögel auf Zweigen, große auf Felsen, im Hintergrund Küste, blaues Meer; ein Pinguin auf einer Eisscholle mitten in schwarzgrauer, aufgewühlter See, ein Dreimaster unter voller Besegelung im Hintergrund, oder fliegende Fische über weißem Schaumgekräusel und vieles sehr Exotische mehr.
So las er sprunghaft, blätterte voraus und zurück, suchte sich die vielversprechendsten Passagen heraus, an denen er sich dann aber auch so richtig festlas. Dabei fand er sich dann immer besser hinein in den Sprachstil und erschloss sich mehr und mehr von den anfangs dunkel gebliebenen Formulierungen.
Ohne dass er das selbst merkte, begriff er dabei, wie sich Dinge wandelten, verstand etwas davon, was Geschichtlichkeit bedeutete - dass nicht bloß Form, Konstruktions- und Funktionsweise von Schiffen und anderen technischen Gegenständen sich entwickelten, es der Arten, zu essen und zu trinken, zu wohnen, sich zu kleiden, Musik zu machen, viele geben konnte sowohl über die Zeiten als auch über die verschiedenen Weltgegenden hinweg, ja auch im eigenen Kulturraum die Sprache selbst nichts Festes und immer schon so Gegebenes darstellte, sondern Veränderungen unterworfen gewesen war und wohl - wer weiß? - weiterhin sein würde.
Neue Horizonte eröffneten sich ihm und boten seinen Sehnsuchts- und Fernwehphantasien neue Nahrung, stießen, statt ihm die Erde kleiner, weil bekannter vorkommen zu lassen, im Gegenteil die Türen weiter auf, dehnten ihm die Räume, die selbst einmal zu durchmessen es ihn so zog, noch weiter aus; und das nicht nur im geographischen Sinne: auch die Welt der wissenschaftlichen Neugier mit der Bereitschaft, diese auch in Mut erforderndes und abenteuerbereites Handeln umzusetzen, wurde ihm unmerklich näher gebracht; die Welt auch des kritischen Blicks auf das Gefundene und der raumgreifenden, zeitüberschreitenden Reflexion der Erkenntnisse, des eigenen Tuns...
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„Ein Morgen war’s, schöner hat ihn schwerlich je ein Dichter beschrieben, an welchem wir die Insel O Tahiti, 2 Meilen vor uns sahen... ein vom Lande wehendes Lüftchen führte uns die erfrischendsten und herrlichsten Wohlgerüche entgegen und kräuselte die Fläche der See. Waldgekrönte Berge erhoben ihre stolzen Gipfel in mancherley majestätischen Gestalten und glühten bereits im ersten Morgenstrahl der Sonne. Vor diesen her lag die Ebene, von tragbaren Brodfrucht-Bäumen und unzählbaren Palmen beschattet... Noch erschien alles im tiefsten Schlaf; kaum tagte der Morgen und stille Schatten schwebten noch auf der Landschaft dahin. Allmählig aber konnte man unter den Bäumen eine Menge von Häusern und Canots unterscheiden, die auf den sandichten Strand heraufgezogen waren... Nunmehro fing die Sonne an die Ebene zu beleuchten. Die Einwohner erwachten und die Aussicht begonn zu leben... Es währete nicht lange, so sahe man das Ufer mit einer Menge Menschen bedeckt, die nach uns hinguckten, indessen daß andere... ihre Canots ins Wasser stießen und sie mit Landes-Producten beladeten... Die Menge von Canots, welche zwischen uns und der Küste ab- und zu giengen, stellte ein schönes Schauspiel, gewissermaßen eine neue Art von Messe auf dem Wasser dar. Ich fing sogleich an durch die Cajütten-Fenster, um Naturalien zu handeln, und in einer halben Stunde hatte ich schon zwey bis drey Arten unbekannter Vögel und eine große Anzahl neuer Fische beysammen... Die Leute, welche uns umgaben, hatten so viel Sanftes in ihren Zügen, als Gefälliges in ihrem Betragen. Sie waren-“
„He, hier ist er ja. Leute, kommt her, ich hab’ ihn!“ Das war unverkennbar Rudolphs nur zu vertrautes Organ, das ihn da mitten in der schönsten Lektüre unterbrach. „Wie ich’s mir gedacht hatte: Da sitzt der Streber mit einem Buch, und“ - er verstellte seine Stimme kindisch-spottend - „das hat der liebe Herr Lehrer seinem lieben Musterschüler geschenkt!“ - „Gar nicht geschenkt - geliehen hat er’s mir!“ protestierte Johannes, „Und außerdem geht dich das überhaupt nichts an!“ - „Stimmt, kann mir ganz egal sein. Aber jetzt musst du aufhören und mitkommen. Wir haben dich schon überall gesucht.“ Inzwischen hatten sich noch ein paar andere Kinder eingestellt, und alle standen nun um ihn, der immer noch auf seinem Stein saß, herum. „Ja, Hannes, komm, wir wollen noch mal versuchen, auf die Mauer zu klettern, und dafür brauchen wir jeden Mann!“
Oh, das war etwas anderes: Wenn man der Mauer mal wieder zu Leibe rückte, dann durfte er wirklich nicht fehlen! Er klappte das Buch zu und schob es unter den Busch - später könnte er ja noch mal wiederkommen und weiterlesen -, sprang auf und schloss sich den Kameraden an. Das Vorhaben hier war ja von genau derselben Entdeckerneugier und demselben Pioniergeist getragen, mit denen die Lektüre dieses Buches ihn impfte.