Читать книгу Die verriegelte Tür hinter dem Paradies. Ein Roman frei nach Heinrich von Kleist - Karis Ziegler - Страница 16
11. Wettkämpfe
ОглавлениеIn diesen wenigen Wochen vor den Ferien war Johannes’ bevorstehender Schulwechsel längst kein Geheimnis mehr, und schon gab es erste Anzeichen, dass Herrn Mäuthis’ Warnungen durchaus gute Gründe gehabt hatten. Es war offenkundig, dass die Menschen seiner unmittelbaren Umgebung die Sache nicht als ein eher erfreuliches Detail hinnehmen und dann zur Tagesordnung übergehen konnten. Die Erwachsenen kommentierten sie verständnislos und mit Ablehnung. Die Frauen schauten kritisch nach seiner Mutter und meinten: „Eigentlich passt das gar nicht zu ihr. Das Ännchen Reiser ist doch bisher nie eingebildet gewesen!“ - „Nee, nee, glaub’ ma nur, da steckt dieser neue Lehrer dahinter, der mit dem komischen Namen. Mein Gustav ist auch bei dem, und was der so erzählt - der hat lauter so neumodischen Kram im Koppe.“ Diejenigen Männer aus dem Viertel, die schon hier gewohnt hatten, als sein Vater noch lebte, mussten an diesen und seine strebsame Unruhe denken. „Das ist ganz der alte Johann Reiser, mit seinen Plänen und Ideen. Wenn der das noch erleben könnte!“ - „Na, das glaub’ ich aber nicht, dass der sich so was hätte träumen lassen - sein Kleiner mit den Bürgerssöhnchen auf‘m Gymnasium!“ - „Eins muss denen aber klar sein: Kaufen kann der sich davon erst mal nix, von seinem Abitur oder was. Der tät besser sehen, dass er bald arbeiten geht und Geld heim trägt. Meiner dürft mir mit so gesponnenen Sachen nich kommen, dem tät ich was erzählen!“
Die Kinder aus seiner Klasse und aus der Nachbarschaft hatten nicht weniger Mühe mit der neuen Situation und mit ihrer Einstellung zu dem Jungen, der bisher zwar vielleicht immer schon ein klein wenig als Träumer oder Spinner gegolten hatte, aber doch nie ein wirklicher Außenseiter gewesen war; er war zu allem zu gebrauchen, kein Spielverderber, hatte ein gewisses Gewicht in der Clique, gar ein gewisses Gegengewicht zu Rudolph, der sonst noch unangefochtener dominiert hätte, kurz, er war einfach einer von ihnen gewesen. Nun sollte, gar wollte, er andere Wege gehen als die breit- und ausgetretenen, von denen abzuweichen keinem von ihnen in den Sinn gekommen wäre. Blicke wurden getauscht, eine betretene, verunsicherte Stimmung kehrte ein, wenn er zu einer Gruppe hinzutrat. Wie immer aber zeigten sie alle ihre je eigene typische Reaktionsweise.
Agnes war diejenige, mit der sich noch am wenigsten veränderte. Sie war so sehr mit ihren eigenen Sorgen beschäftigt, hatte so viel mit ihrem übergroßen Anteil am Zusammenhalten und Überlebenskampf ihrer vielköpfigen Familie zu tun, und so weit war die Neuerung in Johannes’ Leben von allem entfernt, was ihr eigenes Dasein bestimmte, dass es ihr gar nicht besonders schwer fiel, ihm das einfach zu gönnen und alles Glück damit zu wünschen. Auch Frieda konnte nicht viel damit anfangen, lagen doch ihre Interessen und ihr Ehrgeiz zu sehr auf ganz anderem Gebiet. Da sie aber doch ahnte, dass es irgendein, wenn auch unverstandener, Vorteil war, der dem Kameraden hier zugutekam, empfand sie doch so etwas wie Missgunst und Empörung darüber, nicht selbst in seinen Genuss zu kommen. Sie behandelte ihn daher jetzt mit einer gespielten schnippischen Hochnäsigkeit, ähnlich wie Karl, der eine brummig-maulende Jungenvariante davon abgab. Elsa ihrerseits begriff zwar nicht, wie man sich freiwillig dazu bereitfinden konnte, so viele Jahre länger zur Schule zu gehen und konnte sich nicht viel darunter vorstellen, wozu dies Opfer gut sein sollte, fand es andererseits aber wiederum spannend, interessant, eben „besonders“, und versprach sich dabei, dass auch auf ihren Alltag etwas von der abenteuerlichen Ungewöhnlichkeit abfärben würde.
Fritz war einfach nur auf unglückliche Weise mit sich selbst im Unreinen: Zwar sah er es als völlig in der Logik der Dinge an, dass sein bewunderter Held in dieser oder jeder anderen Weise ausgezeichnet wurde, blickte aber der - trotz Johannes’ anderslautenden Versprechungen - erwarteten Trennung vom Freund und Beschützer zu sehr mit eigensüchtiger Sorge und Trauer entgegen, als dass er sich einfach darüber hätte freuen können - und dafür schämte er sich dann wieder.
Rudolph schließlich legte ein latent aggressives, neidgetriebenes Überlegenheitsgehabe an den Tag, und brachte es nicht fertig, auch nur eine Begegnung mit Johannes ohne Sticheleien und Spötteleien vorübergehen zu lassen.
Der litt unter diesem Zustand, auch wenn er durch Herrn Mäuthis’ warnende Worte ja eigentlich darauf vorbereitet gewesen war. Es war ihm unbehaglich in seiner Haut und alles andere als einerlei, der Auslöser solch negativer Gefühle zu sein. Eigentlich hatte er sich selbst ganz wie immer benehmen wollen, um ihnen möglichst wenig Anlass für solche Ausgrenzungen zu bieten, aber das fiel ihm nun immer schwerer.
Eines Morgens bat die Mutter ihn, da er heute etwas später Schule hatte, sich nach dem Zeitungsaustragen für sie in die Schlange vor der Freibank zu stellen, wo man zu bestimmten Zeiten Fleisch von minderer Qualität zu geringem Preis zu verkaufen pflegte. Sie versprach, so rechtzeitig von ihrer eigenen Erledigung zurück zu sein und ihn abzulösen, dass er noch pünktlich zur Schule käme.
Eine Viertelstunde hatte er so schon gestanden, vor ihm vielleicht zehn Leute, hinter ihm eine sich zusehends verlängernde Schlange von Wartenden, die zumeist aus dem Stadtteil stammten und von denen er einige vom Sehen oder aus der Schule kannte und mit kurzem Kopfnicken grüßte. Manche unterhielten sich, tratschten, empörten sich über Teuerung und andere Unbill. Er selbst war müde und fröstelte leicht, es war ein grauer, nieselregnerischer Morgen, er zog sich unter seiner Mütze und hochgeschlagenem Jackenkragen in sich zurück und döste mit offenen Augen in die nass verschleierte Luft, auf die sich mit einem spiegelnden Film überziehenden Pflastersteine hin. Plötzlich sah er ein Paar Füße dicht neben ihn hintreten, die er gleich als Rudolphs erkannte, und blickte auf, als er in provokant beißendem Ton gegrüßt wurde: „Na, Herr Feiner-Pinkel, Herr Professor, erlauben, dass man sich zu Ihnen stellt? Oder ist man schon zu großartig, und können niederes Volk wie unsereins nicht in der Nähe dulden? Haben Euer Hochwohlgeboren etwas dagegen, dass meine Wenigkeit alleruntertänigst neben Euch wartet, um so etwas Zeit zu sparen?“ Johannes’ Stirn runzelte sich zusehends und die Augenbrauen zogen sich zusammen, während er so angeredet wurde, und, nachdem Rudolph endlich einen Punkt machte und Luft holte, schaute er ihn einen Moment lang so, kritisch, an, schüttelte dann den Kopf und gab zurück: „Oh, Mann, du bist ja echt noch blöder, als die Polizei erlaubt!“
„Was?! Sag das noch mal! Herr oberschlauer Oberschüler, glaubst du, du hast die Klugheit allein gepachtet, oder wie?!“, und Rudolph versetzte dem Rivalen wütend einen Schubs vor die Brust. „Lass das!“, schubste der zurück, und aus Püffen und Gegenpüffen wurde im Handumdrehen ein erbittertes Ringen und Kämpfen. Sie hörten nichts von den mahnenden Zurufen der Umstehenden, zu aufgebracht waren jetzt beide in ihren angestauten Ressentiments, die sich endlich entluden in diesem atavistischen Jungenskräftemessen. In Johannes gab es zwar tief drinnen die ganze Zeit über den Gedanken, das sei jetzt genau das, was er hatte vermeiden wollen. Doch der war ebenso wirkungslos gegen diesen hilflosen Zorn, den die Wand von dümmlich-arrogantem Unverständnis in ihm auslöste, auf die er bei Rudolph und seinesgleichen ständig stieß, wie es seine alltäglichen Bemühungen überhaupt waren, seine neue Situation zu einer unaufgeregt hingenommenen Normalität statt zu einem Stein des Anstoßes werden zu lassen.
Die beiden balgten sich erbittert, verbissen, schnaubend, bald ohne mehr noch wütende Worte gegeneinander auszustoßen; die Mützen waren längst in den nassen Rinnstein gerollt, während sie sich am Boden wälzten, sich die Arme verdrehten, wieder aufsprangen und sich sofort erneut angingen, sie traten nacheinander, nahmen sich in den Schwitzkasten, wanden sich wieder frei. Eine Weile blieb der Kampf unentschieden, mal lag der eine, mal der andere unten, aber nie lange genug, um Sieger und Verlierer zu bestimmen. Dann jedoch hatte Rudolph Johannes wieder einmal zu Fall gebracht, drückte ihn zu Boden und hatte Arme und Beine diesmal so fest im Schraubstock, dass der, müde gekämpft, nichts ausrichten konnte, und verlangte mit vor Kraftanstrengung gepresster Stimme: „Gib dich geschlagen! Los, gib schon zu, dass ich der Stärkere bin! Nimm das zurück, dass ich blöde bin!“, und wollte gerade ausholen, um ihm zum größeren Nachdruck seiner Forderungen mit geballter Faust zu bearbeiten, da wurde er von hinten an Jackenschoß und -kragen gepackt und so heftig geschüttelt, dass er vor Schreck seinen Griff fahren ließ; dann wurde er unsanft auf die Füße gestellt und noch mal kräftig geschüttelt und fing dann sogar noch eine Ohrfeige. „Schluss jetzt! Könnt ihr euch nicht benehmen? Wenn ihr raufen wollt, geht woanders hin, jedenfalls nicht vor meinem Laden! - Und du, steh schon auf!“, herrschte er Johannes an, der sich das nicht zweimal sagen ließ, schnell nach seiner und Rudolphs Mütze suchte und sich gesenkten Kopfes wieder in die Reihe stellte. Der Metzger ging kopfschüttelnd und mit drohender Handbewegung wieder ins Haus zurück.
Rudolph, noch ganz außer Atem, trat erneut hinzu und zischte: „Aber gib zu, dass ich gewonnen hab! Wenn der Idiot nicht gekommen wär, hättest du keine Chance gehabt!“
„Ja doch, ist ja gut“, gab dieser zurück, schon in versöhnungsbereitem Ton. „Trotzdem bist du ein blöder Kerl“, fügte er nach kurzer Pause hinzu. „Was redest du auch für einen ausgemachten Müll zusammen? Wieso sollte ich denn plötzlich zu fein sein für dich, oder sonst jemanden? Bloß weil ich ein bisschen Glück hatte, oder eher, weil ich mein Glück probieren darf, jedenfalls, was mir so vorkommt? Lasst mich doch einfach machen, wozu ich Lust hab, ist doch normal, dass jedem was anderes Spaß macht. Deswegen bilde ich mir doch nicht gleich sonst was ein, und da braucht ihr mir das auch nicht nachzusagen! Mensch, ist doch wahr!!“
Das war so schnell aus ihm herausgesprudelt, dass Rudolph keine Chance zum streitenden Widerspruch geblieben war, und jetzt, als der andere geendet hatte und ihm tatsächlich Tränen in den Augen standen, war ihm auch die Lust dazu vergangen, besänftigt durch die Genugtuung, im Ringkampf der Überlegene gewesen zu sein und, wie Johannes‘ zwar trotzige, dann aber doch auch unterschwellig bittende Rede bewies, ein starkes Gefühl bei seinem Rivalen provoziert zu haben.
Nach dieser Begebenheit entspannte sich das Verhältnis zwischen Johannes und seinen Freunden merklich und normalisierte sich einigermaßen. Rudolphs Aggressivität hatte sich Luft gemacht und sich dadurch beruhigt, zumal er sich einbilden konnte, der andere habe dabei in jeder Hinsicht den Kürzeren gezogen, was ihm das Einlenken und Versöhnen wie einen großzügigen Gnadenakt seinerseits erscheinen ließ. Und so, unter Rudolphs Einfluss, schaffte es bald auch der Rest, seinen „Sonderweg“ als gegeben hinzunehmen, sie gewöhnten sich an den Gedanken und stellten fest, dass man mit ihm ja doch dem gleichen Zeitvertreib nachgehen und auf ihn in gleicher Weise zählen konnte wie bisher.
Die letzte Schulwoche rückte näher, die letzten Klassenarbeiten waren geschrieben, das eigentliche Pensum des Schuljahres erfüllt, und ein kleiner Vorgeschmack auf Ferienstimmung stellte sich auch in den Schulstunden bereits ein. Die Anforderungen entspannten sich, es wurden auch mal einfach Geschichten vorgelesen, Ratespiele gemacht, statt Turnunterricht ging man in den fast waldähnlichen großen Stadtpark und machte dort Wett- und Ballspiele. Der alte Lehrer Schultze wäre entsetzt gewesen und hätte den allgemeinen Zerfall von Zucht und Ordnung, den Untergang des Abend-, mindestens aber des Vaterlandes prophezeit, hätte er das mitbekommen. Herr Mäuthis aber war der Auffassung, am Ende eines so zufriedenstellend verlaufenen Schuljahres hätten sich die Kinder eine kleine Auflockerung und fröhliche Belohnung verdient, und das werde auf lange Sicht überhaupt nichts schaden.
An einem Tag hatte er eine besondere „Haus“aufgabe mitgebracht: In Gruppen von je ungefähr zehn Kindern sollten sie bestimmte verschlüsselt bezeichnete Gebäude oder Denkmäler in der Stadt ausfindig machen und mithilfe von Wandgemälden, In- und Aufschriften, Plaketten und Ähnlichem, die mehr oder weniger versteckt an Mauern, Eingängen, Fassaden angebracht waren, eine Liste von Fragen beantworten, um ihre Ergebnisse am nächsten Tag ihm und dem Rest der Klasse zu präsentieren.
Das war doch mal was anderes als die üblichen Rechenpäckchen, Aufsätze und Auswendiglernereien, an denen manche mit brennend müden Augen noch bis spät in die Nacht saßen - wenn sie sie denn überhaupt erledigten und nicht hofften, am nächsten Tag Glück zu haben und einfach nicht aufgerufen zu werden.
Die „Paradies“-Kinder hatten gebeten, eine der Gruppen bilden zu dürfen, noch ein paar andere Nachbarskinder hatten sich ihnen angeschlossen, und so zogen sie am späteren Nachmittag zusammen los. Rudolph trug die Liste und las die Beschreibungen der Gebäude vor, die es zu identifizieren und aufzusuchen galt, die anderen steckten die Köpfe zusammen und lasen über seine Schultern hinweg mit. Zwischen gemeinsamem Kopfzerbrechen, halb lachendem Streit, dem Wetteifern, wer als erster die gemeinte Aufschrift fände, dem Hallo, wenn sie es schließlich richtig trafen, hatten sie zwei Stunden lang einen Heidenspaß. Endlich hatten sie alle Lösungen beisammen und waren sehr stolz auf sich.
„Ob die anderen auch so schnell fertig waren?“
„Und ob sie überhaupt alles herausgefunden haben?“
„So was könnten wir ruhig öfter mal aufhaben, finde ich.“
„Dem alten Schultze wäre so was nie im Leben eingefallen.“
„Ach was, wenn der das wüsste, der dreht sich noch nachträglich in seinem Grab um, wenn er da mal drin liegt und dann an diesen Nachmittag denkt“, feixte Rudolph. Alle lachten - aus der sicheren Entfernung - bei der Vorstellung des gefürchteten alten Paukers in seinem hilflosen Zorn gegen die Neuerungen, die der junge Kollege da einführte.
„Na, Johannes, tut’s dir denn nicht doch ein bisschen leid um den Herrn Mäuthis, wenn du jetzt weggehst?“
„Doch, klar tut es das!“, gab der zu.
Ihre Erkundungsgänge hatten sie zu einem der zentralen Plätze der Innenstadt geführt, wo noch reges Treiben herrschte. Damen mit Hutschachteln und an Bändern und Schleifen hängend balancierten Konditoreikartons, Hausfrauen und Dienstmägde mit Körben voll später Einkäufe, Ladenbesitzer, die ihre Läden absperrten und zum Abendbrot nachhause eilten, Geschäftsleute, die, eine Zigarre an den Mund führend, den Zylinderhut lupfend, entspannt schlendernd von ihren letzten Terminen kamen; dazwischen fliegende Händler, Erwachsene oder Kinder, barfuß oder in Holzpantinen, ihre Bauchläden mit Streichholzschachteln, Kurzwaren und ähnlichem Kleinzeug umgehängt; abgerissene Bettler, die versuchten, der Aufmerksamkeit des Verkehrspolizisten zu entgehen, und halbwüchsige Pennäler, die, den Blick verstohlen in der gleichen Richtung, Zigaretten tauschend und rauchend beisammen standen. All dies Fußvolk kreuz und quer über den Platz strebend und sich einen sicheren Weg zwischen den Verkehrsteilnehmern auf Rädern suchend, zwischen Automobilen, Pferdefuhrwerken, Handkarren, Straßenbahnen, von denen die Gleise mehrerer Linien hier aus verschiedenen Richtungen aufeinander zu und wieder auseinander führten.
Als die Kinder von der Ostseite her auf dem Platz eingetroffen waren, hatte die tiefstehende Sonne noch eine scharfe Trennung zwischen dem Schlagschatten, in den die eine Seite bereits getaucht war, und diesem noch immer in hellem Licht badenden Teil gezogen. Während sie hier beieinander standen, schwatzend und verhandelnd, was sie noch unternehmen sollten, wuchs der schattige Teil zusehends, und die Grenzlinie zur Helligkeit wanderte allmählich über Pflaster, Schienen und Trottoir hinweg, auf dem sie standen, und schließlich Etage für Etage die Fassaden hinauf. Einzelne Fenster entflammten für Minuten heftig und verloschen dann wieder, Dachrinnen schnitten gleißende Streifen darüber, das Rot der Dächer intensivierte sich und leuchtete wie aus eigener Kraft vor dem makellos klaren Abendhimmel am Ausklang eines strahlenden Frühsommertages. Es war einer jener Momente, wo das Himmelsblau ganz deutlich nicht eine farbige Fläche zu sein vorgab, keine Grenze bot, an die das Auge stieß, sondern es im Gegenteil in eine Unendlichkeit aus Transparenzen hinauf- und hineinsog, so dass man den Halt, den Stand auf dem Boden und sich selbst in ihnen zu verlieren schien. Details und individuelle Unterscheidbarkeiten all der Gestalten und Objekte, die den weiten, offenen Platz und die Trottoirs umher belebten, traten zurück hinter den scharf umrissenen Konturen, womit sie sich seltsam rätselhaft und bedeutungsvoll vor dieser hellen Unermesslichkeit abzeichneten, und jede dahingesagte Nichtigkeit nahm den Klang einer gewichtigen Aussage vor der Ewigkeit an.
Unter dieser unbestimmt spannungsgeladenen Atmosphäre ließ Johannes, während er sich gleichzeitig am Gespräch mit den anderen beteiligte, seinen Blick unruhig über den Platz schweifen, immer in der schon zur Routine gewordenen Hoffnung, zwischen all dem Passantengewimmel doch einmal Nomi zu entdecken, und schaute prüfend in die geheimnisvoll überhöhten schemenhaften Gesichter unter Hüten, Hauben, Kopftüchern oder offenen Haaren.
Erst als die Sonne wirklich hinter die gegenüberliegenden Gebäude gesunken, der Himmel mit ersten zart-durchsichtigen Nachtschleiern überzogen und alles in eine gleichmäßig verteilte, verhalten nachleuchtende Dämmerung getaucht war, fielen Dinge, Menschen und Worte in ihre nüchterne Alltäglichkeit zurück.
Nach einigem Hin und Her hatten die Kinder einen von den mit lautem Quietschen in den Platz einfahrenden Straßenbahnen inspirierten Vorschlag, wie sie sich noch eine Weile amüsieren wollten, begeistert angenommen. Sie wollten endlich wieder einmal „Straßenbahnfahren“ spielen. Wenn die Mädchen auch erst etwas nörgelten, weil sie mal wieder nicht mitmachen konnten, ließen sie sich schließlich doch gnädig dazu herab, den Jungen ihren Spaß zu gönnen, und so zogen alle zusammen zu einer günstigen Stelle. Die lag in einer Seitenstraße hinter einer Litfaßsäule kurz nach der Ecke zum Platz hin, so dass die Bahnen mit verlangsamter Fahrt hier einbiegen mussten und die Kinder hinter der Säule versteckt auf den richtigen Moment zum Aufspringen warten konnten. Die Mädchen setzten sich auf eine niedrige Mauer in der Nähe, plauderten und hatten derweil ein wachsames Auge auf die Umgebung, damit die Jungs möglichst nicht ertappt würden und Ärger bekämen.
Fahren konnte immer nur einer, und, damit der nächste an die Reihe käme, mussten sie jeweils auf die je folgende Bahn warten. Da hier aber mehrere Linien vorbei führten, waren die Wartezeiten nicht lang. Während Rudolph und Johannes jeder schon einmal das Vergnügen gehabt hatten und jetzt Karl auf seine Gelegenheit wartete, versuchten sie, den ängstlich etwas abseits stehenden Fritz zu überreden, es doch auch einmal zu versuchen, jeder auf seine Weise: Rudolph und Karl mit herabsetzendem Spott gegen den „Feigling“, Johannes mit dem Argument, wie viel Spaß es machte und wie ungefährlich es wäre: „Du kannst ja aufhören, wann immer du willst, wenn’s dir zu schnell wird, dann springst du einfach ab.“ Zwar war auch ein inoffizieller kleiner Wettkampf im Gange, wer es am längsten aushielt und am weitesten fuhr, aber dabei brauchte Fritz bei seinem ersten Mal ja wirklich nicht mitzutun.
Nun bog der nächste Wagen klappernd und scheppernd in die Straße, war eben an der Litfaßsäule vorbei, und Karl löste sich aus der Deckung, machte ein, zwei schnelle Schritte, einen Sprung und hatte mit den Füßen auf dem Stahlnetz, das unten um den Bug des Triebwagens herum angebracht war, mit den Händen an der Griffstange neben dem ersten Einstieg Halt gefunden und sich geduckt in Stellung gebracht, um nicht aus dem Wagenfenster heraus entdeckt zu werden.
„Also los, Fritz, du als nächster!“, trieben Rudolph und ein paar der anderen Jungen ihn an. Hilflos und unsicher blickte er Johannes an, der ihm aufmunternd zunickte. Eben kam Karl von seiner Fahrt zurückgelaufen, da fuhr die nächste Bahn heran. Von ein, zwei Kindern in die Richtung geschubst und auf die Schulter geklopft, machte Fritz ein paar unentschlossene Schritte auf das bereits wieder Tempo aufnehmende Fahrzeug zu, blieb kurz stehen, lief noch einmal los, um es einzuholen, setzte zu einem Sprung an, zu dem ihm dann aber doch der Mut fehlte und der dadurch so komisch ins Leere ging und sich verstolperte, dass die ganze Kindergruppe hell auflachte.
Johannes hatte im entscheidenden Moment gar nicht hingesehen; ihm war ganz plötzlich auf der gegenüberliegenden Straßenseite ein Mädchen ins Auge gefallen, das in diesem diffusen Zwielicht ihm einen kurzen Wiedererkennungsschrecken versetzt hatte; er versuchte, nachdem sie kurz von einem Radfahrer verdeckt worden war, sie wieder auszumachen und Gewissheit zu erlangen. In eben diesem Moment fingen die anderen an zu lachen, er sah gerade noch Fritz’ ungeschickte Bewegungen zum Abfangen des Stolperns und lachte unwillkürlich mit. Fritz schaute sich um, beschämt wie immer über seine Unsportlichkeit, da sah er, dass auch „sein“ Johannes ihn auslachte. Er erbleichte, seine Augen blickten erschrocken und verletzt, er senkte den Kopf, trat wortlos zur Gruppe zurück und lehnte sich an die Litfaßsäule. Johannes tat es nun leid wegen des Gelächters, er ging zu ihm und sagte: „Mach dir doch nichts draus, das nächste Mal klappt’s schon besser. Du musst einfach früher aufspringen, wenn sie noch langsam genug ist.“ Fritz sah ihn traurig an und nickte nur stumm. Da drehte der andere sich schon wieder nach der gegenüberliegenden Seite: gerade war das Mädchen von eben in einer längeren Lücke zwischen den Passanten wieder aufgetaucht. Fritz sah das Mädchen, sah den Blick und das enttäuschte Gesicht, verstand vollkommen, was vorgegangen war, und schaute wieder zu Boden. Ein müder Trotz kam in ihm auf, und als die anderen nicht lange danach aufbrachen, behauptete er, er habe noch etwas zu erledigen, er komme später nach.
* * *
Was für ein schöner Tag war das doch gewesen!
Alles hatte gestimmt: Das warme, lachende Sommerwetter, die gelockerte Schuldisziplin, die originelle, sportlich herausfordernde Aufgabe, die Bewegung im Freien in ungewöhnlich verträglichem und gutgelauntem Einvernehmen zwischen den Freunden. Zwei, drei Kinder außer Fritz (aus tiefer Not ... so müde vom Seufzen!) hatten sich abgesetzt, um noch irgendwelchen Plänen oder Verpflichtungen nachzugehen. Der größte Teil der Gruppe aber zog nun geschlossen nachhause, aufgedreht und ausgelassen lachend (Spieße und Pfeile sind ihre Zähne), schwatzend (und ihre Zungen scharfe Schwerter), mal hüpfend, mal trödelnd; und mehr als ein Passant gesetzteren Alters oder nüchternerer Stimmung blickte sich missbilligend (ein Wurm und kein Mensch, ein Spott der Leute) nach ihnen um.
Auch Johannes beteiligte sich am allgemeinen Geplauder und Palaver, am Resümieren der Erlebnisse, am Gelächter; und doch wurde er ein unterschwellig rumorendes, unbequemes Gefühl (aber nun bist du es, mein Gefährte, mein Freund...) nicht los, das all diese Aufgeräumtheit beständig unterminierte; es war, als ob er, ohne zu wissen warum, (...die wir freundlich miteinander waren) zutiefst unzufrieden mit sich selbst wäre.
Dabei hätte er doch allen Grund zum Gegenteil gehabt: Endlich wieder voll angenommen in der Gruppe, einbezogen und seinen Beitrag leistend zum Gelingen der heutigen Unternehmung (mein Herz verdorrt wie Gras); dazu die Aussicht, in ein paar Tagen mit einem ausgezeichneten Zeugnis aus der Schule auszuscheiden und sich mit neuem Elan (Asche esse ich wie Brot) der auf ihn wartenden Herausforderung stellen zu wollen und zu können - und dennoch: Wer wird bestehen?
Längst hatten die Kinder den Bereich des Stadtzentrums hinter sich gelassen, auch die bürgerlichen Wohnviertel zwischen diesem und ihrem eigenen Stadtteil durchmessen (sei nicht ferne, denn Angst ist nahe!). Der Himmel des Sommerabends, an dem immer zahlreichere Sterne das tiefer werdende Nachtblau durchbrachen, warf nun schon fast nichts mehr von seinem abnehmenden Leuchten in die dunkelnden Straßen herab. (Du gibst meinen Schritten weiten Raum, dass meine Knöchel nicht wanken, und stellst mich auf meine Höhen. Gelobt sei mein Schild und meine Stärke!)
Plötzlich fuhren alle mitten in ihrer fröhlichen Unbeschwertheit zu Tode erschrocken zusammen: Wie ein gellender Schrei zerriss das Warnsignal eines Vorortzuges, dessen Übergang nur noch wenige Meter vor ihnen (ich schreie, aber Hilfe ist fern) die Straße querte, die Stille, die um ihre Lebhaftigkeit herum wie um eine isolierte eigene kleine Welt eingekehrt war (deine Schrecken erleide ich, dass meine Seele vor Angst verzagt) und die mächtige schwarze Lok stampfte, ihre klappernden Waggons im Schlepptau, dröhnend und erderschütternd vorüber, schlug ihnen kohlen-, teer- und rauchgeschwängerte heiße Luft um die Ohren.
„Du meine Güte, hab ich mich erschrocken!“, ließ sich Elsas Stimme (Furcht und Zittern und Grauen hat mich überfallen) kleinlaut hören , woraufhin ihr mit „Und ich erst!“, „Mir klopft jetzt noch das Herz bis in den Hals!“, „Und mir zittern ordentlich die Knie!“ von allen Seiten beigepflichtet wurde (Aus der Tiefe schrei ich... warum hast du mich verlassen?)
Nach und nach beruhigten sie sich wieder und lachten über den unnötigen Schrecken, aber (wer so daliegt, wird nicht wieder aufstehen), als sie nun weitergingen, um den Rest des Heimwegs zurückzulegen, wollte die überschäumende Laune von vorhin nicht mehr aufkommen. Das letzte Stück gingen sie schweigsam, den Blick (o hätt ich Flügel wie Tauben, dass ich wegflöge und Ruhe fände!) auf den lange verweilenden rötlichen Schein gerichtet, mit dem sich das scheidende Licht nach Westen hin zurückzog.
Er weidet mich auf grüner Aue und führet mich zum frischen Wasser.
In Frieden leg ich mich nieder und schlafe ein....