Читать книгу Die verriegelte Tür hinter dem Paradies. Ein Roman frei nach Heinrich von Kleist - Karis Ziegler - Страница 9

4. Alte Knochen

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Allen Kindern der Klasse, als sie nun mit ihren Holzpantinen durch die widerhallenden Gänge und Treppenhäuser zum Schulausgang klapperten und sich in die verschiedenen Richtungen über den Stadtteil verstreuten, war mehr oder weniger deutlich spürbar, dass ihr Alltag eine neue Note bekommen hatte. Es schien, als sollte der tägliche Gang zur Schule von einer lästigen, womöglich quälenden, manchmal bedrohlichen Unvermeidlichkeit mindestens zu einer gut erträglichen, lässig zu absolvierenden Pflicht werden, ja, manche wollten es für möglich halten, bald gerne, gar mit Gewinn dorthin zu gehen. Für jeden war vielleicht etwas anderes der wichtigste Aspekt dieses Wandels, wie in den Gesprächen auf dem Heimweg deutlich wurde. Die Mädchen waren begeistert davon, dass sie endlich einmal auch für voll genommen wurden; Elsa fand den Neuen „einfach ganz doll nett“. Und endlich ließ auch Rudolph wieder seiner seit dem Rüffel unterdrückten Stimme freien Lauf, wie zu erwarten mit einem ärgerlichen Protest. „Ist ja klar“, versetzte Elsa ihm da, „dass du nicht einverstanden bist, Rudolph! Bei Schultze hast du schön gekuscht wie alle, und kaum ist einer freundlich, glaubst du gleich, du kannst dir jede Gemeinheit erlauben. Und wenn der dich dann auch noch mit deinen eigenen Waffen schlägt, dann bist du beleidigt!“ Es war kein freundlicher Blick, mit dem Rudolph diesen Kommentar quittierte.

Fritz dagegen wagte fast noch nicht zu hoffen, dass das, was er bisher lediglich als Erweiterung und Variante seines häuslichen Alptraums erlebt hatte, zu einem Asyl werden könnte, in dem er jeden Werktagmorgen für ein paar Stunden frei und ohne Angst aufatmen dürfte.

Wer aber fast beschwingt und beflügelt, begeistert und voller wirr und vager Vorsätze von diesem Schulvormittag nachhause ging, das war Johannes. Ihm war zumute, als hätte Herr Mäuthis aus seiner Heimat direkt in ihr Schulzimmer den Duft nach salzigem Wind mitgebracht, ein Wehen von Welt und Weite, und dies aber nicht nur, weil er, wie Rudolph sarkastisch behauptete, „einmal ein Schiff aus der Nähe gesehen hatte“, sondern auch durch seine ermutigenden Worte und die ganze Ausstrahlung von Neugier und Offenheit, die von seiner Person und Lebensgeschichte ausging.

Für ihn wenigstens brach etwas wie eine neue Zeit an. Die inspirierende Begeisterung, die ihn am ersten Tag erwischt hatte, klang nicht nach kurzer Weile ab und ging in eine schließlich einfach hingenommene Alltagsselbstverständlichkeit über, sondern wurde ihm zum tragenden Lebensgefühl in dieser Zeit. Auch bislang schon war er ein recht guter Schüler gewesen und war es Herrn Schultzens Pädagogik trotz aller Bemühungen nicht gelungen, sein Interesse an manchem gebotenen Lehrstoff abzustumpfen, hatte er die Brosamen eifrig aufgelesen, die jener unvorsichtigerweise hatte fallen lassen. Nun jedoch wurde Interesse zu Wiss- und Lernbegierde, wurde das Aufschnappen von einzelnen Informationsbrocken zum hartnäckigen Verfolgen von Gedankengängen, ging er Anregungen und Hinweisen auch außerhalb der Schulstunden nach, die in den Unterricht ganz zufällig eingeflossen waren. So hatte Herr Mäuthis einmal davon erzählt, wie seit einigen Jahren immer mehr Arbeitervereine gegründet wurden, die mit Bücherstuben, Vorträgen und Gesprächszirkeln, Alphabetisierungskursen und vielem mehr sich bemühten, den Bildungsstand der Arbeiterklasse aus eigenen Kräften anzuheben. Von seiner Mutter wusste Johannes, dass sein Vater damals einem solchen Verein beigetreten war. Nun ruhte er nicht, bis er den ausfindig gemacht und die Erlaubnis erwirkt hatte, trotz seiner Jugend dort zu verkehren und vor allem den Buchbestand in der Lesestube für die Befriedigung seiner Neugierden zu nutzen. Ein paar Leute dort konnten sich noch an seinen Vater erinnern und fanden es jetzt einerseits kurios, andererseits auch erfreulich, dass dessen „Kleiner“ nun den Weg zu ihnen gefunden hatte.

Noch eine Gewohnheit machte er sich in dieser Zeit zu eigen: Wann immer möglich, das hieß, wenn er rechtzeitig vor der Schule mit seiner Runde fertig wurde, dann las er in dem Blatt, das er austrug, den einen oder anderen Artikel, der ihm ins Auge fiel und interessant zu sein versprach. Dabei weckten nicht nur Kuriosa und die so genannten unerhörten Begebenheiten seine Neugier, er las auch über Entdeckungen aller Art - technische, wissenschaftliche, geographische -, verstand natürlich vieles nicht oder nur halb und fragte dann bei allen Erwachsenen, die er kannte, nach, ab und zu auch bei Herrn Mäuthis in der Schule.

Eines Morgens fand er da bei dem spärlichen Licht, das sich nur mühsam aus der Herbstdämmerung herausschälte und das nur gerade eben zum Lesen ausreichte, folgende Schlagzeile: „Den Adam gefunden!“. ‚Was soll das denn heißen?’, fragte er sich neugierig und las: „Vor einigen Tagen wurde bei Aushebungsarbeiten in einer Sandgrube bei Schirmtal ein versteinerter prähistorischer Schädelknochen gefunden, der inzwischen durch die unverzüglich hinzugezogenen Experten eindeutig als von einer Ur- und Vorform des heutigen Menschen stammend identifiziert wurde. Die Paläontologen bewerten den Fund als mindestens ebenso wertvoll für die Aufklärung des Entwicklungsweges von den vorzeitlichen Affenwesen hin bis zum modernen Menschen, wie das seinerzeit dem Fund des homo neanderthalensis zukam. Man schreibt der Gattung ein sogar noch bedeutend höheres Alter zu als dem Neanderthaler.“

Johannes kam aus dem Staunen gar nicht mehr heraus. Was war das denn nun? Was sollte das bedeuten: „Vorform des Menschen“, „Entwicklung vom Affenwesen zum modernen Menschen“? War denn nicht der Mensch, so, wie man ihn kannte, einfach immer schon da gewesen, wobei dieses „immer schon“ ein unbestimmt dehnbares und auch wieder zusammenschnurrendes Gebilde darstellte - neunzehn Jahrhunderte seit Christi Geburt, ein paar Generationen darüber hinaus - Abraham, Noah, Moses, die Geschichten aus dem Religionsunterricht, die das Altehrwürdigste waren, das er kannte, weit weg und fremd, aber in Denken, Handeln, Fühlen auch wieder menschlich nah genug - so lange war das nun vielleicht auch wieder nicht her? Und wo bitte sollten da irgendwelche Affenwesen ihren Platz haben?

Er las weiter: „Der Arbeiter, dessen Schaufel das Fossil gehoben hatte, soll abends seinen Kumpanen im Wirtshaus berichtet haben, heute habe er ‚den Adam gefunden’“.- Ah, da war er wieder auf vertrauterem Boden - also einen Knochen des ersten, von Gott aus Lehm geformten Menschen hat man da gefunden? Das war ja natürlich schon toll und sehr faszinierend, aber was sollte das dann mit den Affen und dem Entwicklungsweg und diesem ... diesem - ah ja, diesem homo neanderthalensis? Er schloss die Augen und glaubte, in ein bodenloses Unbekanntes hinabgesogen zu werden, gleichzeitig fand er die Sache aber auch überaus aufregend. Er musste diesmal unbedingt Herrn Mäuthis ausfragen, das hier wollte er einfach genauer verstehen. Er holte rasch Schulheft und Bleistift aus der Tasche und schrieb alle Wörter auf, die er nicht kannte - „prähistorisch“, „versteinert“, „Paläontologe“, „Neanderthaler“, „Fossil“ - er war sicher, dass sich hinter diesen geheimnisvollen Begriffen Türen zu ganz neuen und ungeahnten Dimensionen aufstoßen würden. Vor lauter Aufregung vergaß er ganz, die Zeitung noch ihrem rechtmäßigen Empfänger zuzustellen, das merkte er erst, als er schon fast bei der Schule angekommen war. ‚Na, nichts zu machen’, dachte er, ‚dann bekommt er sie heute eben ausnahmsweise erst mittags.’

In der Schulstunde konnte er sich kaum auf das behandelte Thema konzentrieren, und die Zeit bis zum ersten Pausenläuten wurde ihm viel zu lang. Endlich war es so weit, und während die anderen hinausliefen, ging er nach vorn zum Lehrerpult und brachte sein Anliegen vor. Er zeigte Herrn Mäuthis den Artikel und die Liste der unverstandenen Wörter und bat ihn dringlich um Erklärung. Der blickte erstaunt von Zeitungsblatt und Schulheft auf in das eifrig gespannte Gesicht des Jungen und meinte: „Aber gerne - jedenfalls das Wenige, das ich darüber weiß, will ich gerne weitergeben; ich möchte das aber lieber in der nächsten Stunde vor der Klasse tun, so kriegen es alle mit.“

Und so hörten die Kinder nach der Pause, statt Dreisatzaufgaben zu lösen, zum ersten Mal von Charles Darwin und seinen Forschungsreisen, von dem Mönch Gregor Mendel und seinen Versuchen im Klostergarten, von der Evolutionstheorie und von dem Streit, den sie entfacht hatte, und eben davon, dass man die Erzählungen der Bibel über Herkunft und frühe Geschichte der Menschen wohl nicht mehr wörtlich nehmen dürfe, dass man das Alter der Erde viel höher veranschlagen müsse als bislang für möglich gehalten; von ausgestorbenen Tierarten, Funden riesiger Skelette berichtete er, und nicht zuletzt davon, dass die Kinder sich wohl mit dem Gedanken würden anfreunden müssen, ihre Ur-ur-ur-ur-ur-Vorfahren unter den Affen zu suchen.

Auch wenn Darwins Veröffentlichungen schon ein halbes Jahrhundert zurücklagen, war all dieses den Kindern völlig neu. Sie waren ja erst zwölf, dreizehn Jahre alt, und die Erwachsenen in ihrem Umkreis hatten andere Dinge im Kopf und andere Gesprächsthemen als die Abstammung des Menschen und das geologische Alter der Erde. In der Minimalbildung, die man den sogenannten niederen Ständen zubilligte, kamen naturkundliche Themen höchstens in Form von Pflanzenbeschreibungen und Erzählungen über Tierarten und ihre Lebensweisen vor; und ein Lehrer vom Schlage eines Herrn Schultze zumal hatte gar nichts davon gehalten, seinen Schülern etwas anderes als Bibel- und Traditionsgläubigkeit beizubringen.

Naturgemäß gab die Affen-Urahn-These willkommenen Anlass zu allgemeiner, auch durchaus ungläubiger, Erheiterung, wobei sich Rudolph wieder einmal besonders hervortat.

„Im Übrigen“, sagte Herr Mäuthis dann noch abschließend, „sollte es wohl im Naturkundemuseum das eine oder andere Interessante zu sehen geben. Eins aber steht auch fest: nämlich dass es auf diesem Gebiet wohl noch weitaus mehr Unklarheiten, offene Fragen und unbekannte Zusammenhänge gibt, als dass die Wissenschaft schon besonders viel mit Sicherheit herausgefunden hätte. Da wird noch so mancher Knochen ausgegraben und manche Theorie verworfen werden müssen, bis wir wissen, wie das alles wirklich vor sich gegangen ist. - Und zum Schluss, bevor wir uns dann leider doch wieder unseren Textaufgaben zuwenden müssen, möchte ich doch gerne Johannes noch für die Anregung zu diesem spannenden Thema danken.“ Der bekam ganz rote Backen und senkte verlegen die Augen, während er aber schon eifrig Pläne für einen nachmittäglichen Besuch dieses Museums schmiedete.

Fast wäre dieser Besuch an einem strengen Museumswärter gescheitert, der dem Jungen in schäbiger Kleidung wohl nichts Gutes zutraute, ihm jedenfalls am liebsten den Zutritt durch das prächtige Portal verwehrt hätte. Doch konnte er einen unaufmerksamen Moment nutzen und an dem uniformierten Türhüter vorbeiwischen. Drinnen dann empfing ihn eine solch ungewohnte, ehrfurchtgebietende Atmosphäre von Kühle, Stille und glatten, sauberen Oberflächen, dass er fast geneigt war, dem Wächter recht zu geben und sich als hier fehl am Platze wieder zurückzuziehen. Das tat er dann allerdings doch nicht und ging stattdessen staunend durch ganze Fluchten von Ausstellungsräumen mit langen Reihen von Vitrinen. Schaukästen mit Hunderten aufgespießter Schmetterlinge, Käfer, Spinnentiere; große flache Laden mit sortierten Vogeleiern in allen möglichen Farben und Größen, bunten Mineralien und versteinerten Muscheln und Schnecken; Glasschränke, in denen sich ausgestopfte Vögel fast auf die Füße traten, an den Standsockeln bereits vergilbende Etiketten mit ihren seltsamen, nie gehörten Namen; andere, in denen sorgfältig präparierte Einzelexemplare in lebensnahen Posen oder gar mehrere Tiere gemeinsamer Herkunft in ihren mit Hilfe von ein paar Requisiten und gemalten Landschaftskulissen angedeuteten Lebensräumen sich vorstellten: Da gab es einen Kauz, der mit eingesetzten Glasaugen von der Spitze einer Tanne in eine blaue Ferne schaute, eine Murmeltierfamilie vor dem Eingang ihres Höhlenbaus, eine brütende Wachtel, unter der man die hübschen braungesprenkelten Eier hervorlugen sah. In einer anderen Abteilung fanden sich vor dem Hintergrund einer mit Gelb- und Ockertönen angedeuteten Savannenlandschaft ein paar exotische Exemplare - bunte Schlangen und Vögel, Antilopen, Zebras und ein massiges, furchterregendes Nashorn.

All dies war für das Stadtkind, dessen persönliche Bekanntschaft mit der Tierwelt naturgemäß äußerst begrenzt war, durchaus interessant und horizonterweiternd. Jedoch konnte er dabei nicht recht froh werden, konnte sich eines leicht unangenehmen, befremdeten Gefühls nicht erwehren angesichts all dieser steifen, stummen, staubig wirkenden Gestalten. Eine wirkliche Anschauung des durch sie repräsentierten Lebens wollte sich einfach nicht einstellen.

Aber so richtig gruselte es ihn erst, als er vor solche Vitrinen trat, die in Gläsern konservierte Organismen zeigten: Kleintiere, Jungvögel, einzelne Organe; einige dieser Glaszylinder waren dicht gedrängt angefüllt mit umeinander gewundenen Schleichen, Fischen, Schlangen, bleich und farblos wie zu lange im Einmachglas verbliebene Kirschen; mit einer Mischung aus Faszination und Widerwillen betrachtete er gar den Fötus einer Katze, nicht mal so groß wie seine Handfläche, der hier nackt, zusammengekrümmt, blind, vergilbt und verschrumpelt in seiner Formalinlösung schwebte. Er schüttelte die aufkommende schwache Übelkeit ab und ging schnell weiter.

Am Ende einer kurzen breiten Zwischenhalle atmete er dann erleichtert auf: ein Bogendurchgang gab den Blick frei in einen hohen und weiten Saal, eher ein gedeckter Innenhof, in den durch eine raffinierte Glasdachkonstruktion ein angenehmes indirektes, dennoch helles und freundliches Licht fiel - eine Wohltat nach der eher schummrig-trüben Beleuchtung in den Vitrinenräumen. Die Zugänge zu diesem Bereich waren auf allen vier Seiten durch provisorische Absperrungen gesichert. Wenn man aber schon nicht hineingehen konnte, so konnte man doch dem regen und fleißigen Treiben zusehen, das sich darin entfaltete: ein großes Gestell, eine Vielzahl unterschiedlich hoher Leitern und vor allem ein ganzer Schwarm weißbekittelter Menschen, die leiterauf, leiterab herumwuselten und dabei den Eindruck vermittelten, sie wüssten genau, was sie taten. Als einer von ihnen einmal in seiner Nähe vorüber ging und dabei dem Jungen freundlich zulächelte, fasste dieser Mut und fragte schnell, was denn hier wohl vor sich gehe? „Sieh dir einfach mal die Schautafel hier neben an der Wand an. Und schau mal dort hinten rechts - was denkst du, was da liegt?“ Johannes sah eine Ansammlung großer hellgrauer unregelmäßig geformter länglicher Stücke von irgendetwas. „Das sind die Knochen von einem Saurier, die erst kürzlich bei einer Expedition in Afrika gefunden wurden und vor zwei Wochen hier angekommen sind. Und wir wollen jetzt versuchen, daraus das Skelett zusammenzusetzen, wie es zu Lebzeiten seinen gewaltigen Körper getragen hat.“

Und tatsächlich: Wenn das die einzelnen Knochen eines Lebewesens sein sollten, dann musste dieses gigantische Ausmaße gehabt haben!

Dank der Lehren vom Schulvormittag nicht mehr ganz unbedarft, fragte er, ob es dieses Tier heute denn immer noch irgendwo auf der Welt gebe. Da lachte der Mann und meinte: „Zum Glück nicht, sonst würde es uns wohl an den Kragen gehen. Nein, der und seinesgleichen sind vor vielen tausend und abertausend Jahren ausgestorben, und wenn er Nachkommen hinterlassen hat, dann höchstens im Schrumpfformat - Salamander, Leguane, Eidechsen und derartiges Getier.“

Er hätte selbst nicht recht zu sagen gewusst warum, aber der Anblick dieser Knochen, die doch mindestens ebenso tot waren wie die ausgestopften und eingelegten Tiere vorhin, machte ihm überhaupt nichts aus, er hätte sich sogar vorstellen können, sie zu berühren und bei dem großen Steckspiel, das hier im Gange war, mitzuhelfen. Noch lange stand er da und schaute zu, bis die Leute offensichtlich auf den Feierabend hin aufräumten. Dann ging er, verstaubtes und vergilbtes Getier rechts und links keines Blickes mehr würdigend, hinaus.

In den folgenden Wochen fand Johannes noch oft den Weg zum Lichthof des Museums. Auf keinen Fall wollte er den Fortgang der Arbeiten versäumen, wollte unbedingt miterleben, wie das Riesentier, von dessen Existenz er bis vor so Kurzem noch gar nichts geahnt hatte, allmählich Gestalt annahm - und was für eine Gestalt! Nach einer Weile hatte sich auch der wachsame Wärter mit ihm abgefunden und gönnte ihm sogar ein knappes Nicken. Auch für die Handwerker und Wissenschaftler im Saurierhof gehörte er bald zum Inventar, und der eine oder andere nahm ihn mit einem freundlichen Lächeln oder Augenzwinkern zur Kenntnis.

Auf dem Heimweg von einer dieser Expeditionen sah er im winterlichen Nachmittagsdämmer ein paar Schritte vor ihm ein Mädchen den Bürgersteig entlang gehen, dessen krauses, stumpfbraunes Struwwelhaar in zwei mit einer schiefen Schleife zusammengebundenen Zöpfen nicht ganz erfolgreich gebändigt war.

„Oh, hallo, Elster“, rief er und holte die paar Schritte auf. „Was machst du denn hier?“ - „Ach, Tag, Hannes! Na, sieht man dich auch mal wieder?“ antwortete Elsa. „Ich hab bloß Mutter mit dem Gemüsekarren geholfen.“

„Und was machen die anderen?“

„Die, ach, keine Ahnung. Oder doch, die meisten sind in die Stadt gezogen.“ Eine Weile gingen sie schweigend nebeneinander her, dann legte Elsa los: „Aber weißt du übrigens, es ist ganz schön schade, dass du jetzt so oft weg bist. Wenn du nicht dabei bist, ist es richtig doof. Rudolph bildet sich dann nämlich ein, er kann uns alle rumkommandieren und ist dabei blöder denn je. Es gibt Streit, aber dann auch wieder nicht richtig, einfach schlechte Laune eben. Fritzchen hält Abstand und ist, glaub ich, nur dabei, damit er nicht zuhause sein muss, sagt aber überhaupt kein Wort mehr. Trotzdem kriegt er aber immer wieder von Rudolph sein Fett weg. Wenn du da bist, ist das irgendwie anders, da nimmt er den Mund nicht ganz so voll. - Jetzt sind sie, außer Fritz, in die Innenstadt gegangen, ‚Elektrische fahren’“.

„Ah, dazu hätt’ ich auch mal wieder Lust!“, rief Johannes.

„Ich hätte auch mitkommen sollen“, erwiderte Elsa, „aber mit diesen blöden Mädchenkleidern macht das ja gar keinen Spaß. Das ist richtig ungerecht.“

„Elektrische fahren“, das war ein beliebter Freizeitspaß unter den Schul- und Straßenkindern. Keineswegs bedeutete das, brav ein Billet zu lösen und im Wagen durch die Gegend zu fahren. Es hieß, der Straßenbahn an einer Ecke, wo sie das Tempo drosseln musste, aufzulauern, auf die etwas monströse Schutzkonstruktion aus Eisenstangen und Drahtnetz am vorderen Ende aufzuspringen, sich mit aller Kraft festzuhalten, ein Stück weit mitzufahren und rechtzeitig wieder abzuspringen. Das war ein bisschen gefährlich, ziemlich verboten, verlangte Geschick und etwas Mut. Ab und zu wurde man erwischt, fing sich eine Verwarnung ein oder auch mal eine Ohrfeige, aber es machte einfach großen Spaß. Für Mädchen, wie Elsa richtig beklagte, mit ihrer unpraktischen Kleidung, eignete sich der Sport allerdings weniger.

„Und du? Wo bist du gewesen, oder besser, was hast du denn eigentlich in letzter Zeit für Esel zu kämmen, dass du so oft unterwegs bist?“

Da berichtete er ausgiebig und begeistert von dem Ziel seiner Ausflüge. „Und nächste Woche soll es dann so weit sein, dann wollen sie das Skelett fertig haben und richtig öffentlich zur Schau stellen. Da muss ich unbedingt wieder hin.“

„Dann hatte Rudolph ja sogar ein klein wenig recht!“, lachte Elsa da. „Der behauptet nämlich, du gehst deinen Großvater besuchen. Seit du damals in der Schule diese Geschichte vom Adam mitgebracht hast und seitdem immer wieder so geheimnisvoll verschwunden bist, hat er sein Lieblingsthema gefunden - dass manche Leute eben Affen zu Großeltern hätten. Er natürlich nicht. Überhaupt macht er dich hinter deinem Rücken andauernd schlecht, du würdest immer eingebildeter und oberschlauer und so. - Ich find’s aber toll, dass du so was machst, so... so ernsthafte Sachen, meine ich. Wenn du davon erzählst, finde ich es auch ganz spannend. Aber sonst wär das wohl leider nichts für mich. Ich hab halt ein für alle Mal bloß Flausen im Kopf!“, grinste sie spitzbübisch und zuckte komisch-resigniert mit den Schultern.

Mit der angekündigten öffentlichen Ausstellung des fertigen Saurierskeletts wurde es dann leider doch nichts, und Johannes erlebte eine herbe Enttäuschung, als er zur festgesetzten Stunde beim Museum ankam: am Eingangsportal klebte ein großer Zettel, der „die interessierte Öffentlichkeit“ davon in Kenntnis setzte, dass die korrekte Zusammensetzung des Sauriers beim ersten Versuch leider gescheitert sei und daher die feierliche Zugänglichmachung und offizielle Übergabe an das geschätzte Publikum heute ausfallen müsse. Das Nähere sei der Tagespresse zu entnehmen.

Zum ersten Mal in all der Zeit sprach ihn sein alter Bekannter, der Türhüter, an und fragte, ob er davon denn nichts in der Zeitung gelesen habe. Das hatte er nun nicht, denn in dieser Zeit war es morgens vor der Schule einfach zu dunkel und das Ritual mit der stibitzten Lektüre hatte vorerst ausfallen müssen.

Trotzdem ging er noch einmal hinein und zu seinem Stammplatz vor dem Hof mit der Saurierbaustelle. Dort war man offensichtlich mit dem Abbau des bisher Erreichten beschäftigt, man trug Notizen in Pläne und Zeichnungen ein, band Etiketten an einzelne Knochen und schaffte das Material mithilfe von einer Art Tragbahren in Portionen hinweg, irgendwo nach hinten in verborgene unzugängliche Bereiche. Mit einem Mal sah er an einem der anderen Zugänge zum Hof seinen Lehrer, der gleichzeitig auch auf ihn aufmerksam wurde. Er kam zu ihm herüber, und sie unterhielten sich über das Ereignis - oder Nicht-Ereignis. Herr Mäuthis hatte erfahren, dass ganz zuletzt sich Schwierigkeiten ergeben hätten, dass man Zweifel bekommen habe, vom richtigen Ansatz ausgegangen zu sein, sich unter den Wissenschaftlern über die richtige Interpretation bestimmter Knochen und damit über ihre korrekte Platzierung gestritten habe - kurz, das Ganze sei am Ende nicht mehr aufgegangen, und man habe einsehen müssen, dass man zu voreilig der Öffentlichkeit konkrete Anschauung versprochen habe. Johannes erzählte von seinen regelmäßigen Besuchen im Museum und dass er bis zum Schluss gar nicht auf die Idee gekommen wäre, es könne doch nicht zur Fertigstellung kommen. „Ja, und nun sieht es ganz so aus, als rechneten die Herren Paläontologen damit, dass es erst noch einmal richtig lange dauern wird, bis sie das Urvieh rekonstruiert haben“, meinte Herr Mäuthis.

Die verriegelte Tür hinter dem Paradies. Ein Roman frei nach Heinrich von Kleist

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