Читать книгу Die verriegelte Tür hinter dem Paradies. Ein Roman frei nach Heinrich von Kleist - Karis Ziegler - Страница 14

9. Nomi

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An dem Verhältnis der Schul- und Nachbarskinder zu dem neu zugezogenen Mädchen änderte sich auch in den nächsten Zeiten nichts Wesentliches. Nach und nach wurden ein paar Einzelheiten über sie bekannt. So hatte Herr Mäuthis gleich an ihrem zweiten Schultag die kleine Selbstvorstellungsprozedur nachgeholt, wie er sie am Anfang mit der ganzen Klasse praktiziert hatte. Dabei war aber deutlich zu spüren gewesen, dass sie wenig dazu aufgelegt war, über sich und ihre Familienverhältnisse zu berichten. Dass sie allein mit ihrem Vater lebte, hatten wenigstens die Kinder ihrer Straße sowieso schon mitbekommen. Nun erfuhr man, dass sie wirklich Halbwaise war und auch keine anderswo lebenden Geschwister hatte. Der Frage nach dem Beruf ihres Vaters wich sie aus, und Mäuthis zog es denn auch vor, nicht weiter zu insistieren. Elsa allerdings wollte sich nicht so schnell zufrieden geben und bat darum, auch noch etwas fragen zu dürfen. Es ließ ihr keine Ruhe, dass man munkelte, die beiden seien "Zigeuner". Das Mädchen schüttelte aber den Kopf - „nein, sind wir nicht“, widersprach sie. „Aber wieso hast du dann diesen komischen Namen?“ beharrte Elsa. Das wusste sie eigentlich selbst nicht. Ob es nicht eher ein osteuropäischer, ein slawischer, oder auch ein italienischer Name sein könne, schaltete sich der Lehrer ein. Vielleicht sei ja ein Ur-Ur-Ur-Ahne dereinst von irgendeinem anderen Land zugewandert; aber schon an der eingedeutschten Namensschreibung könne man ablesen, dass das schon sehr lange her sein müsse und dass also die Familie inzwischen längst als deutsch gelten dürfe.

Den Nachbarn in der Straße fiel auf, dass der Vater wenig und unregelmäßig zuhause war - und man war sich einig, dass man das nicht gerade bedauerte. Man vermutete auch stark, dass die Tochter selbst noch weniger Anlass hatte, sich das anders zu wünschen. Auf der einen Seite fast ausschließlich sich selbst überlassen und nur sporadisch mit wenig Barem versehen, um sich irgendwie durch den Alltag zu wursteln, den kleinen Haushalt mehr schlecht als recht in Ordnung zu halten und mit dem Nötigsten zu versorgen, schienen ihr, wenn man den Berichten von Karls Mutter glauben durfte, schreckliche Szenen vorbehalten, wenn der Mann zuhause war. Besoffenes Gebrüll, Tobereien, umherfliegende Gegenstände, Prügel - man mochte sich gar nicht wirklich genauer ausmalen, was da während dieser lärmenden Auftritte vor sich ging. Dabei, so Frau Gulach, hörte man fast immer nur den Vater, das Kind gab kaum jemals einen Laut von sich, und wenn aber doch einmal, dann stünden einem die Haare zu Berge - „Eines Tages steht die auch mal nicht wieder auf!“, meinte sie.

Dass der Mann auf irgendeine ehrliche Weise Geld verdiente, konnte sich keiner vorstellen; man wusste nicht, hatte aber natürlich genügend Phantasie, um sich auszumalen, was er in den Zeiten seiner Abwesenheiten trieb. Frau Gulach machte ihrem Mann schon dauernd Vorwürfe, dass er nicht besser hingesehen hatte, als er die beiden einziehen ließ, und er solle sie doch wieder hinauswerfen. Das war aber nicht gut möglich, weil sie die Miete für den armseligen Verschlag gleich zu Beginn für einige Zeit im Voraus bezahlt hatten.

Zu den Leuten ihrer neuen Umgebung verhielt sich das Mädchen weiterhin still, scheu zurückgezogen, war in ihrer Distanziertheit aber auch nie provokant, beleidigend oder aggressiv, sondern antwortete, wenn sie angesprochen wurde, zwar kurz, aber freundlich; nur zu Fragen nach ihrem Vater schwieg sie sich beharrlich aus. Es war, als nehme sie ihre Außenseiterrolle einfach passiv, frag- und klaglos an. Wie am ersten Tag sah man sie immer wieder einmal die Spiele der anderen Kinder aus der Ferne beobachten. Und bei denen riefen die etwas geheimnisvollen Besonderheiten ihrer Umstände zusammen mit ihrer friedlichen Abseitshaltung die verschiedensten Einstellungen hervor: distanzierte Neugier paarte sich bei den einen mit Geringschätzung, Ablehnung oder einer schnippischen Gleichgültigkeit, bei anderen mit einer passiven Bereitschaft zu Wohlwollen, freundlicher Anteilnahme, oder gar mit einem gewissen Wunsch nach Annäherung, der aber mangels Ermutigung von ihrer Seite folgenlos blieb.

Rudolph beispielsweise sah durch diese Mischung aus Andersartigkeit, Unabhängigkeit und scheinbarer Schwäche in ihr einen interessanten Ersatz für sein Lieblingsopfer Fritz, dessen Reaktionen auf seine kleinen Sticheleien und verbalen Quälereien inzwischen so bekannt und vorhersagbar waren, dass sie ihren Reiz zu verlieren begannen. Hier war nun ein Objekt, an dem man seine Fähigkeiten erweitern und verfeinern konnte. Den wunden Punkt galt es zu finden, mit dem man diese stille Dulderin - oder war es wirkliche Unempfindlichkeit? - treffen und zu irgendeiner Gefühlsäußerung provozieren konnte. Bisher war ihm das überhaupt noch nicht gelungen. Die Themen Reinlichkeit oder Zigeunertum - das letztere ließ er sich trotz Nomis anderslautender Auskunft nicht ausreden - schienen spurlos an ihr abzuprallen, und statt sich getroffen zu zeigen und zurückzuschimpfen oder zu heulen, maß sie ihn lediglich mit ihren dunklen Augen; in denen ging zwar irgendetwas vor, das aber hatte mit dem von ihm gewünschten Effekt ganz offensichtlich gar nichts zu tun, was ihn aber erst recht gegen sie aufbrachte und zu erneuten Angriffen anstachelte.

Der Lehrer seinerseits suchte, sie hin und wieder unauffällig in Schutz zu nehmen und zu fördern. So hatte er gelegentlich, wenn sich bei dem Mädchen erstaunliche Kenntnislücken offenbarten, die Klasse aufgefordert, es mögen sich doch Mitschüler finden, die ab und zu einmal mit ihr zusammen lernen, ihr bei den Hausaufgaben helfen würden. Als er nur murrende Protestlaute zu hören bekam und auch Nomis Gesicht anzusehen war, dass ihr das eher peinlich gewesen wäre, ließ er es dabei bewenden.

Mit der Zeit bekam das Phänomen Nomi seinen festen Platz, und im gleichen Zuge erlahmte auch das Interesse daran - ein Kind, von dem man nicht viel wusste, das einem in Maßen leid tat, mit dem sich im Übrigen nicht viel anfangen ließ und an dem sich lediglich in einer zum Ritual werdenden Obsession der Gruppenchef die Zähne ausbiss.

An einem Frühlingsmorgen, der sogar diese steinernen Großstadtschluchten mit einer lauen Brise blütenduftend durchstrich, waren Agnes und Elsa gemeinsam auf dem Weg zur Schule. Als sie an einem Trümmergrundstück vorüberkamen - hier war vor längerer Zeit ein altes Wohnhaus abgerissen worden, und die Ruine lag nun in all der zutiefst deprimierenden Trostlosigkeit, die den Dingen eignet, wenn sie, ihres Zusammenspiels mit Lebendigem verlustig gegangen, als Überreste eines ausgeweideten Kadavers in halbvollzogener Auflösung sich mit der Umgebung vermischen, inmitten eines allmählich verwildernden und die schlammverspritzten Tapetenreste, die modernden Hausratsbruchstücke und schimmelnden Stofffetzen mit Spinnennetzen und Vogelkot, Brennnesseln und Dornenranken überziehenden Stadtgartens -, da tauchte hinter einer teilweise stehen gebliebenen Mauerecke Nomi auf, die gerade auf den Gehweg hinaustreten wollte und dabei fast mit den beiden zusammengestoßen wäre. Sie hatte irgendetwas in den Händen und nestelte damit in ihren langen offenen Haaren herum. Als sie ihre Klassenkameradinnen bemerkte, hielt sie, sichtlich verlegen, damit inne und hätte den Gegenstand am liebsten schnell hinter ihrem Rücken verborgen, wenn es dafür nicht schon zu spät gewesen wäre.

„He, Nomi! Was hast du denn da? Zeig doch mal!“, bat Elsa.

Da hielt sie den beiden eine Blume hin: eine einzelne Rose an kurzem Stiel, eine frische, eben aufblühende Knospe, die zahllosen eins ins andere gebetteten weißen Blütenblätter sich gegenseitig stützend und gegen die Außenwelt schützend ineinander und umeinander geschmiegt, nur erst ein paar der äußersten sich dieser neugierig und lebensdurstig mit zaghaft halbgeöffneten Lidern zuwendend, und in einem aus den späten Nachtstunden übriggebliebenen perlrunden Tautropfen das hellblaue Himmelslicht mit ihrer eigenen zart goldgelben Äderung zu einem sphärisch vergrößerten Bild verbindend.

„Wo hast du die denn her?“, fragte Agnes.

„Hier, in dem Garten hinten, zwischen allem möglichen Gestrüpp, da wachsen ganz große Büsche davon. Hab ich neulich gefunden, als ich geschaut hab, ob’s hier noch Brennholz gibt.“

„Ja, aber, bist du jetzt extra da reingegangen, um die zu holen?“, fragte Agnes verständnislos, in deren Leben, wie für die meisten hier, Blumen als überflüssiger Luxus keinen Platz hatten. „Du hast dich ja sogar zerkratzt, und Brennnesseln gibt’s da sicher auch!?“

„Ich find sie soo schön!“, sagte Nomi einfach in ihrer leisen Art. Agnes schaute ihr ins Gesicht und spürte plötzlich Tränen in den Augen und eine Enge in der Kehle - sie hätte nicht zu erklären vermocht, warum, wusste nicht, dass sie in dem Moment - und nur für diesen kurzen Moment - die Verwandtschaft zwischen ihren eigenen Lebensumständen und denen des fremden Mädchens empfand, und gleichzeitig damit aber auch den entscheidenden Unterschied: dass es ihr nie und nimmer in den Sinn gekommen wäre, der Schäbigkeit und Freudlosigkeit ihres Alltags auf so einfache oder auf sonst irgendeine Weise ein Stück heilender Schönheit entgegenzustellen.

„Da, nimm doch, ich schenk sie dir.“ Nomi reichte ihr die Blume kurzerhand hin. Agnes schüttelte den Kopf: „Nein, behalt sie nur. Aber danke, du bist wirklich nett.“ Und Elsa meinte: „Du wolltest sie dir doch ins Haar stecken, oder? Mach das doch, das sieht bestimmt hübsch aus!“

Nomi wurde rot und lenkte ab: sie wollten sich lieber beeilen, sonst kämen sie noch alle drei zu spät zur Schule.

Von nun an sah man sie fast jeden Tag mit einer weißen Rose. Manchmal hatte sie sie tatsächlich im Haar, was ihr natürlich sofort wieder Neckereien eintrug, manchmal hielt sie sie nur in der Hand oder legte sie vor sich auf das Pult.

Johannes hatte von Anfang an zu denen gehört, auf die das geheimnisvolle Mädchen eine starke Anziehungskraft ausübte. Gesprochen hatte er mit ihr so gut wie gar nicht, höchstens einmal hier und da ein knapper Gruß, wenn er ihr irgendwo begegnete; ansonsten ein Kreisen in respektvollem Abstand um einen magnetischen Mittelpunkt, und auch das eher im Geiste als in der körperlichen Wirklichkeit. Die Andeutung von Exotik und Unbestimmbarkeit, die sie umgab, war so ganz dazu angelegt, sein Interesse zu wecken. Jetzt, durch ihre neue „Rosenmanie“, wurde das nur noch verstärkt. Nicht nur hatte Elsa vollkommen recht gehabt und sah die fragile weiße Blüte in dem nachtdunklen Haar wirklich sehr hübsch aus; sie stellte auch einen Punkt mehr dar, in dem sich Nomi von all den anderen Mädchen unterschied, die er bisher gekannt hatte. Alle, oder doch die meisten, waren - in seinen Jungenaugen höchst übertrieben - darauf erpicht, sich herauszuputzen mit solchen Mitteln, derer sie eben habhaft werden konnten. Billigen Glitzerkram luchsten sie vielleicht ihren Vätern oder Brüdern ab, die damit handelten, oder, falls sie selbst solche Dinge auf der Straße feilboten, behielten sie für sich zurück, was etwa ein bisschen kaputt war; Haarspangen mit Glassteinen, vielleicht ein Ohrring, ein Armreif, oder wenigstens eine schöne bunte, möglichst große Schleife wurden stolz den Freundinnen vorgeführt und von ihnen gebührend bewundert, besser noch geneidet. Keiner von ihnen wäre es eingefallen, sich einfach nur eine Blume abzupflücken und mit dieser den Haarschopf zusammenzuhalten, und das auch noch eher, weil sie mindestens genauso viel Gefallen daran gefunden hätten, sie abzunehmen und anzuschauen wie sich selbst damit zu schmücken. Und Nomi erntete auch genügend Naserümpfen und hämisch-mitleidiges Getuschel aus der dreizehnjährigen Damenwelt. Johannes jedoch betrachtete dies ausgefallene Gebaren fasziniert und fand, es füge den vielen Mysterien um das Mädchen ein weiteres hinzu.

Und dann beobachtete er eines Tages eine Szene, die das Rätsel Nomi noch rätselhafter machte.

Er ging eine Straße nicht weit von Zuhause entlang, als aus der Gegenrichtung auf dem anderen Trottoir Rudolph gelaufen kam, so schnell ihn seine Beine trugen und dabei immer wieder sich umwendend, als sei der Teufel hinter ihm her. In einiger Entfernung auf seiner eigener Straßenseite war Nomi stehen geblieben und blickte hinüber. Rudolph hatte offensichtlich weder sie noch ihn gesehen, schlug einen Haken und verschwand in einem Hofdurchgang. Im gleichen Augenblick tauchten um die nächste Straßenecke zwei große Jungen, fast schon eher junge Männer auf, rannten auf Nomi zu und fragten sie etwas, beinahe ohne im Lauf innezuhalten. Johannes sah, wie sie geradewegs in die falsche Richtung wies, als wolle sie Rudolph helfen, seinen Verfolgern zu entkommen. Dann ging sie ruhig weiter ihres Weges. Mit offenem Mund blieb er stehen: Was der Junge ausgefressen hatte, um den Zorn dieser Kerle auf sich zu ziehen, wusste er natürlich nicht. Hätten sie ihn erwischt, dann wäre es ihm sicher schlecht ergangen, die hatten nicht so ausgesehen, als würden sie auf das zartere Alter ihres Gegners Rücksicht nehmen. Vielleicht hatte er ja auch etwas geklaut, und sie hätten ihn, außer ihn zu verprügeln, auch noch zur Polizei geschleppt. Jedenfalls wäre es für Nomi ein Leichtes gewesen, die beiden auf seine Fährte zu bringen. Stattdessen rettete sie ausgerechnet diesen ihren größten Feind und Peiniger vor wahrscheinlich sogar verdienter Unbill. Der hatte davon nicht einmal etwas bemerkt, so dass er ja glauben musste, er habe sein Davonkommen seiner eigenen Geschicklichkeit zu verdanken. Wenn in den nächsten Tagen Rudolph wieder mal seine Schikanen an dem Mädchen übte, ohne dass die ihn über ihre heimliche Wohltat aufklärte, war Johannes stark versucht, das für sie zu erledigen und es Rudolph unter die Nase zu reiben. Da er sich aber nicht sicher war, dass ihr das recht gewesen wäre, ließ er es bleiben, nahm sich aber fest vor, das eines Tages nachzuholen, wenn es ihm zu bunt würde.

Unterdessen taten sich bei ihm selbst jedoch Dinge, die seine Welt gehörig in der Achse knirschen ließen, und das war durchaus kein Bremsgeräusch sondern das einer Beschleunigung und Richtungsänderung, die er sich nie hätte träumen lassen. Infolgedessen ging sein Puls in den letzten Tagen ständig schnell und aufgeregt, und oft schwindelte ihn, wenn er an die Eventualitäten dachte, die sich da anbahnten.

Sein Lehrer hatte ihn doch allen Ernstes gefragt, ob er nicht versuchen wolle, auf eine höhere Schule zu wechseln! Er habe ihn jetzt seit den Sommerferien im Auge gehabt, seine Leistungen verfolgt und ihn auch sonst unauffällig auf Herz und Nieren geprüft, und sei zu dem Schluss gekommen, er habe das Zeug dazu. Was er davon halte?

Johannes konnte zunächst einmal gar nichts halten, schon gar nicht einen solchen Gedanken in seinem Kopf. Er stammelte hilflos, dass das doch gar nicht ginge, so etwas sei doch gar nicht möglich, er sei doch... sei doch bloß..., und wusste sein Gefühl der Unvereinbarkeit dann doch nicht genauer zu bestimmen.

Daraufhin empfahl ihm Herr Mäuthis, sich den Vorschlag bis zum nächsten Tag gründlich durch den Kopf gehen zu lassen und zunächst einmal ganz ohne Rücksicht auf etwaige Hinderungsgründe herauszufinden, ob er dazu überhaupt Lust hätte. Morgen würde man weiter darüber reden, man brauche gar nichts zu überstürzen.

Als das Karussell in seinem Kopf endlich ein wenig langsamer fuhr, versuchte er sich auszumalen, was denn dieser Vorschlag eigentlich bedeuten würde. Und zwischen ängstlichem Zurückschrecken und dem Gefühl, aus Mangel an konkreter Information in viel zu vagen Spekulationen zu schwimmen, kamen immer stärker sein Wissensdurst zu Wort, seine Lust, mehr von Welt und Leben kennen zu lernen, sein Ehrgeiz, sich größere Spielräume zu erschließen. Und am nächsten Tag sagte er seinem Lehrer, dass, wenn so etwas überhaupt denkbar wäre, dann würde er es wirklich gerne versuchen.

Nun wurde Herr Mäuthis konkreter: er könne zwar nicht versprechen, dass wirklich etwas daraus würde; aber es gebe Förderungsmöglichkeiten für begabte Schüler aus den armen Schichten, und selbstverständlich werde er, Mäuthis, alles tun, was in seiner Macht stehe, um Johannes bei der Beantragung eines solchen Stipendiums und, falls dies positiv ausginge, bei der Vorbereitung des Schulwechsels zu unterstützen. Jetzt solle dieser aber noch einmal neu über die Sache nachdenken und dabei berücksichtigen, dass es bestimmt nicht einfach werden würde.

„Du wirst viel, sehr viel mehr für die Schule arbeiten müssen als jetzt. Hier ist dir ja alles mehr oder weniger zugeflogen. Aber die Anforderungen sind hier ja auch recht begrenzt, und dort gibt es erstens mehr Fächer als hier, zweitens haben die anderen Schüler schon einen großen Vorsprung, den du anfangs erst einmal zusätzlich aufholen müsstest. Ich glaube allerdings, dass du das schaffen könntest. Außerdem, wenn nicht, hättest du eigentlich nichts verloren, du hättest immer noch dieselben Möglichkeiten wie jetzt auch. Es wäre andererseits auch wieder nicht dasselbe: du hättest ein Scheitern zu verkraften, und gleichzeitig wärest du vielleicht mit den Dingen nicht mehr zufrieden, die dir jetzt noch völlig genügen würden.

Und noch etwas müsstest du dir klarmachen: es würde auch nicht leicht für dich, was das Verhältnis zu deinen Kameraden angeht, das wirst du dir denken können: dort müsstest du damit rechnen, dass viele dich ablehnen, weil du arm bist und die anderen zumeist aus wohlhabenden Bürgerfamilien stammen; hier, unter den Kindern aus dem Viertel, würdest du höchstwahrscheinlich auch ausgegrenzt, würdest auch hier nicht mehr richtig dazugehören - ein Außenseiter wärest du also schließlich überall.“ Bei diesen Worten hatten beide unwillkürlich zu Nomis Pult hinübergeblickt.

„Ich sage dir das alles nur“, fuhr Mäuthis fort, „damit dir so deutlich wie möglich ist, worauf du dich einließest, wenn du deine Entscheidung triffst.“

Zum Schluss machte er Johannes aber noch einmal Mut: er traue ihm das uneingeschränkt zu, und dieser Weg würde ihm so viel mehr Möglichkeiten eröffnen, seine Fähigkeiten für sein Leben zu nutzen. – „Überleg dir also gut, ob du dir das alles zumuten möchtest. Und hab dabei bloß keine Angst, ich würde es dir übel nehmen, wenn du schließlich ‚nein‘ sagst. Denk allein daran, was für dich das Beste scheint. Nur vergiss nicht, wenn du ja sagst, musst du da nicht allein durch, du dürftest hundertprozentig auf mich zählen.“

Damit entließ Mäuthis ihn in einen weiteren Tag der Schwindelgefühle. Ziellos lief er in der Gegend umher, kickte gedankenverloren Steine vor sich her, hielt nach seinen Freunden Ausschau; wenn er aber welche von weitem sah, wich er doch aus und mied das Zusammentreffen. - Würden die ihn wirklich nicht mehr mitmachen, nicht mehr an ihrem Leben teilhaben lassen, bloß weil er auf eine andere Schule ginge? Würden sie ihn auslachen, ihn verachten? Wären sie neidisch und gehässig? - Pah, sollten sie doch, die wären ja selber blöd! Er jedenfalls würde sein wie immer und ihnen gar keinen Grund geben, sich gegen ihn zu wenden!

Am Abend erzählte er endlich auch seiner Mutter von dieser neuen Aussicht. Bis dahin hatte er sich schon entschlossen, dass all die Schwierigkeiten, vor denen sein Lehrer ihn gewarnt hatte, ihn nicht abschrecken sollten, eher gerade im Gegenteil!

Seine Mutter erschrak nicht schlecht vor dem, was ihr Sohn ihr da unterbreitete. Des Vaters Wunsch nach einer guten Ausbildung für den Jungen in allen Ehren, aber darunter war doch wohl nicht mehr zu verstehen gewesen, als dass er regelmäßig und die vorgeschriebenen Jahre lang die Volksschule besuchen und möglichst gute Noten erzielen solle, um dann eine anständige Handwerkslehre machen zu können?

Für den nächsten Nachmittag hatte Herr Mäuthis seinen Besuch bei der Mutter ankündigen lassen. Er kam, um ihr Einverständnis zu erbitten, das für das Vorhaben erforderlich sein würde, und sah gleich, dass er hier zuerst einmal starke Vorbehalte und große Ängste würde beschwichtigen müssen. Da mischten sich konkrete Einwände wie die Sorge vor finanzieller Überforderung mit diffusen Befürchtungen angesichts des völlig unbekannten Terrains, das sie, selbst denkbar schlecht ausgerüstet, betreten sollte; sicher auch davor, dass der Sohn ihr entfremdet, ihr abhandenkommen würde.

Ihre materiellen Sorgen entkräftete er, indem er auch ihr die Möglichkeit eines Stipendiums auseinandersetzte. Man werde versuchen, nicht nur einen Freiplatz, wo lediglich kein Schulgeld bezahlt werden müsse, sondern ein volles Stipendium zu erhalten, wo zusätzlich auch eine Extraunterstützung für die weiteren nötigen Ausgaben wie Kleidung, Bücher, Hefte und solche Dinge bezahlt werden. Er habe sich schon einmal umgehört und Kontakte aufgenommen, bevor er das Thema überhaupt zur Sprache brachte, und könne sagen, es gebe mindestens eine Stelle, an der sie gute Aussichten hätten. Da müsse der Junge nur hingehen und sich persönlich vorstellen. Wenn der Gründer und Vorsitzende der Stiftung einen guten Eindruck gewinne, dann könne eigentlich fast nichts mehr passieren. Bei dem Vorgespräch habe der ein großes Interesse an Johannes’ „Fall“ gezeigt und ihm schon recht viel Hoffnung gemacht.

Frau Reiser rückte unruhig auf ihrem Stuhl hin und her und sah immer noch nicht glücklicher aus. „Aber müssen muss ich nicht, oder, diese Einwilligung geben? Ich könnte auch ‚nein’ sagen, nicht wahr?“

„Mutter!“, protestierte Johannes leise auf scharf eingezogenem Atem und sah sie erschrocken an.

„Ich weiß ja nicht... dann muss er den ganzen Tag nur lernen und lernen, das ist doch auch nichts für ein Kind. Und wer weiß, was alles für seltsame Sachen sie ihm da beibringen wollen...“

„Nein, natürlich sind Sie dazu nicht verpflichtet, sonst hätte es ja auch wenig Sinn, Sie überhaupt zu fragen“, gab Herr Mäuthis zu. „Aber sind Sie denn wirklich sicher, dass Sie ihrem Sohn diese Chance vorenthalten wollen? Ja natürlich, er wird viel arbeiten müssen, besonders am Anfang, damit er aufholt, was die anderen ihm schon voraushaben. Latein wird er ganz von vorne lernen müssen...“ Da machte Johannes große Augen - davon war noch gar nicht die Rede gewesen, und ein wenig verließ ihn bei dem Gedanken schon der Mut - „... aber ich hab ihm auch versprochen, dass ich ihm so viel helfen werde, wie ich kann, um ihm den Einstieg zu erleichtern. Wir werden die Ferien über jeden Tag arbeiten...“ - er sah zu Johannes hinüber und lächelte ihm aufmunternd zu, „Ja, ich weiß, davon habe ich noch gar nichts erzählt. Aber das werden wir auch noch hinkriegen, wenn alles andere klappt, oder?!“

„Aber warum?“, schaltete die Mutter sich wieder ein. „Warum wollen Sie sich so viel Mühe machen? Und warum ausgerechnet mein Junge?“

„Ja, warum?“, erwiderte Herr Mäuthis. „Vielleicht einfach, weil Ihr Sohn mich so sehr an mich selbst erinnert, auf eine Weise. - Das Handwerk meines Vaters hätte ich erlernen und sein kleines Geschäft weiterführen sollen, das wäre mein vorgezeichneter Weg gewesen. Aber da war immer dieser Wunsch, über das hinauszugehen, was sich von selbst verstanden hätte, weiterzukommen, in des Wortes doppelter Bedeutung, diese Neugier auf das, was wohl hinter dem Tellerrand liegen mochte. Und bei Johannes habe ich all das von Anfang an wiedererkannt. Natürlich hatte ich es mit Sicherheit leichter, hatte eine günstigere Ausgangsposition und weniger Hürden zu überwinden. Dafür aber sehe ich auch, dass seine Kräfte größer sind als meine je gewesen wären, und deswegen bin ich davon überzeugt, dass er es schaffen könnte. Und ich bringe das einfach nicht fertig, kann nicht schulterzuckend zusehen, wie da ein junges Leben mit gestutzten Flügeln auf allen Seiten von Mauern umstellt ist, an denen es sich den Schnabel blutig stößt, und wie seine hilflosen Sprünge in die Freiheit sich in dichten, dunklen, staubigen Vorhängen verfangen - lassen Sie uns ihm doch Schwingen bauen für sein Sehnen - sie benutzen und fliegen muss er dann ohnehin selbst!“

Frau Reiser hatte kaum etwas von dem verstanden, was er da alles gesagt hatte, aber sie hatte gesehen, wie er sich in Begeisterung und Leidenschaft redete, und sie hatte Johannes gesehen, der mit leuchtenden Augen zugehört hatte und sie jetzt bittend ansah. Und sie hatte herausgehört, wie viel dieser Mann, für sie eine absolute Respektsperson, von ihrem Jungen hielt, und das war sowieso der sicherste Weg, sie zu gewinnen. Sie seufzte resigniert, „Ach, dass auch dein Vater nicht mehr da ist! Wie soll denn ich bloß wissen, was richtig ist?!“

„Aber der war doch immer so für Schule und Lernen und so, das hast du doch selbst immer erzählt!“

„Ja, schon, aber wer denkt denn gleich an so etwas! Aber wenn dein Lehrer so sehr überzeugt ist, werde ich mich am Ende doch nicht dagegenstellen.“

„Sein Vater wäre einfach stolz auf ihn gewesen“, sagte Herr Mäuthis, „da bin ich mir sicher. Und es kann ja ihm und Ihnen nichts passieren: haben wir Erfolg, und kommt er gut klar, haben alle gewonnen. Geht es schief, macht er dort weiter, wo er jetzt steht.“

Am Ende hatten die vereinten Überredungskünste von Schüler und Lehrer schließlich erreicht, dass letzterer doch noch die von der Mutter unterschriebene Einwilligung zu dem Stipendienantrag und dem Antrag auf Zulassung zum Gymnasium mitnehmen konnte. Am nächsten Tag sollte Johannes dann mit ihm zu dem potentiellen Wohltäter gehen, um, so gut er konnte, selbst für seine Sache zu plädieren.

Nachdem Mäuthis gegangen war, standen Mutter und Sohn einander gegenüber und sahen sich eine ganze Weile lang stumm an. Die eine versuchte, eine aufkommende Panik zu unterdrücken und den Impuls, hinterherzustürzen und das Papier wieder zurückzuverlangen. Der andere war dagegen wie betäubt von dem Lauf, den die Dinge nahmen. Er konnte kaum fassen, dass dies alles wirklich, in der echten wahren Wirklichkeit, mit ihm geschehe, dass es nicht nur ein Traum, ein Spiel sei; solange das noch nicht richtig bei ihm angekommen war, konnte er auch noch keine der zu erwartenden Reaktionen zeigen: Vorfreude, Furcht, Aufregung, alles dies war noch von einer Art Überrumpelungsbenommenheit in Schach gehalten.

„Was hab ich da nur getan?!“ fing die Mutter plötzlich an zu flüstern. „Kann denn das überhaupt gut gehen? ...Sag schon, Hannes, hab ich das Richtige getan?“

„Ja doch, Mutter, ja! Mach dir keine Sorgen. Alles wird gut, wirst schon sehen!“ Plötzlich fing er an zu lachen. „Pass auf, wenn ich dann ganz reich und ... berühmt bin, dann bau ich dir das schönste Schloss und kauf dir die schönsten Kleider, und du brauchst nie mehr zu rackern und zu schuften und zu sparen, und wir haben immer genug zu essen, und ich bin ein wichtiger Mann, und du bist ganz stolz auf mich...“ Während er so bramarbasierte, kam ihm selbst das alles immer unwahrscheinlicher vor, und er musste wieder und wieder lachen.

Die Mutter sank inzwischen ganz kraftlos auf die Bank und schüttelte den Kopf. „Also, was du dir da alles zusammenphantasierst!“, warf sie dazwischen.

„Na, und wenn schon! Dann wird’s halt kein Schloss, und ich nicht berühmt, ist doch auch egal. Es kann doch aber nichts wirklich Schlimmes passieren. Wovor sollten wir uns denn eigentlich fürchten?“

„Ich weiß auch nicht. Mir wär am liebsten, wenn alles so ist und so bleibt, wie ich’s kenne, alles andere macht mir einfach bange.“

„Und vielleicht kommt es ja am Ende gar nicht dazu. Wenn morgen dieser Vorsitzende, oder was er nun ist, findet, dass ich so ein Stipendium nicht verdiene, dann bleibt ja sowieso alles beim Alten.“

Sie aber sah dem Sohn schon die ersten Flügelspitzen wachsen, sah ihn als zukünftigen „feinen Herrn“ seiner Mutter, „die mal grade eben lesen und schreiben konnte“, in Scham den Rücken kehren und zum Absprung, zum weiten, freien Flug – weg von ihr - ansetzen, was er wiederum unter Protest und hoch und heiligem „großem Ehrenwort!“ weit von sich wies.

So trösteten, ermutigten die beiden sich gegenseitig, eine Art gemeinsames Pfeifen im Dunkeln, bis die Mutter sich seufzend aufraffte, um sich an ihre Arbeit zu machen.

Jetzt hielt es Johannes nicht länger drinnen, und er rannte hinaus auf einen seiner ziellos-unruhigen Streifzüge. Angetrieben von einem übersteigerten, aber ungerichteten Impuls stürmte er durch die Straßen, blind für alles um ihn her, während vor seinem inneren Auge Bild um Bild aufschien. Da sah er sich einer Gruppe geschniegelter Jungen in blitzsauberen Matrosenanzügen gegenüber, die ihn skeptisch, verächtlich, hochmütig von oben bis unten musterten und sich dann kaltschultrig abwandten; sah sich über Büchern voller unentzifferbarer Hieroglyphen schwitzen, verlegen stammelnd, weil er die Lektion nicht verstanden hatte, hörte Hohngelächter um sich und blickte in ein böses, ungeduldiges Lehrergesicht; zum Trost und Mutmachen stellte er sich schnell das Gegenteil vor: eine Lehrerfrage steht im Raum, unwissendes Schweigen der ganzen Klasse, er allein meldet sich, gibt die richtige Antwort, erhält unwillig bewundernde Blicke von den Mitschülern und ein aufmunterndes Lob des Lehrers. Er erinnerte sich wieder der Honoratiorenrunde, deren Gesprächen er damals beim Maskenfest zugehört hatte und an die neidvoll-ehrgeizigen Wünsche, die das bei ihm geweckt hatte. Dabei schien aus der gleichen Erinnerung heraus der vage Eindruck eines seltsam freundlich zusprechenden weißen Maskenlächelns aus unwahrscheinlicher Bläue auf und verstärkte noch das Gefühl der herzklopfenden, hoffnungsfrohen Erregung, das ihn durch die Straßen trieb.

Wohin würde das alles führen? Würden ihm wirklich ganz neue Türen offen stehen? Was würde er wohl aus seinem Leben machen können mit dieser Chance, oder das Leben aus ihm? Halb angedachte Pläne, gute Vorsätze und Phantasien von Reichtum und Ansehen drängten einander abwechselnd aus seinen Gedanken, und erst, als er nach einer guten Weile ganz ungeplant wieder in seine Straße zurückgelangt war, außer Atem und müde gelaufen, ohne die geringste Vorstellung, wo alles er herumgekommen war in diesen letzten ein, zwei Stunden, da kamen mit der körperlichen Erschöpfung auch die Gedankenturbulenzen allmählich zur Ruhe. Plötzlich fiel ihm wieder ein, dass die ganze Sache ja längst nicht ausgemacht war. Noch stand ihm ja dieses Auswahlgespräch bevor. Du liebe Zeit, da malte er sich schon alle möglichen tollen Sachen aus, während er sich doch wohl viel eher auf morgen hätte vorbereiten sollen! Was er da wohl alles gefragt würde? Hätte er nicht vielleicht besser noch mal in seine Schulbücher geschaut? Schade, dass er sich bei Herrn Mäuthis nicht noch erkundigt hatte, was man dort von ihm erwartete!

In langsamem, nachdenklichem Schlenderschritt ging er jetzt zwischen Häusern und Höfen hindurch, hinunter zum Kanal, um an seinem Lieblingsplatz noch etwas auszuruhen und den Booten und Kähnen nachzuschauen. Gerade wollte er sich auf den Stein unter der Weide setzen, da glaubte er, von irgendwo in der Nähe ein Geräusch zu vernehmen, das er im ersten Moment nicht einordnen konnte. Bald aber kam es ihm vor, als sei es kein bloßes Geräusch, sondern eine menschliche Stimme, ein leises, immer wieder ganz verstummendes Summen. Er hielt inne und versuchte zu lauschen, und da schienen die Töne, die bis zu ihm drangen, eine Melodie zu ergeben, schlicht und doch fremd, so schön, wie er es noch nie gehört hatte. Neugierig trat er unter der Weide hervor und ging am Rand des Wassers entlang. Schon wenige Schritte weiter, von einem Gebüsch bislang verdeckt, sah er Nomi am Ufer sitzen, mit den Zehen des einen Fußes im Wasser baumelnd, den einen Arm auf einen Wäschekorb an ihrer Seite gelehnt, in der anderen Hand die rote Rosenblüte, derentwegen sie heute in der Schule gehänselt worden war (‚oh, man trägt neuerdings rot... man ist wohl verliebt?‘; ‚Quatsch‘, hatte sie zu Elsa gesagt, die sich die Wirkung aus der Nähe ansah, ‚jetzt haben bloß die roten auch angefangen zu blühen, und von den weißen gibt es nicht mehr so viele.‘), das Gesicht zum Wasser gewendet und selbstvergessen vor sich hin summend. Er blieb stehen, unschlüssig, ob er einfach so weiter zuhören oder sich bemerkbar machen sollte. Aber da war sie sich der fremden Gegenwart schon bewusst geworden und wandte sich rasch um.

„Ah, du bist’s. Tag, Johannes.“

„Ach, bitte, sing doch weiter, Nomi! Ich wollte dich nicht stören!“

„Wie, hab ich denn gesungen?“

„Klar, weißt du das gar nicht? Nur ganz leise, ich hab’s gar nicht richtig hören können. Aber es war so schön! - Kannst ... willst du es mir nicht noch mal vorsingen?“, bat er verlegen. Nomi wurde rot und wehrte genauso verlegen ab. Als er aber seine Bitte ganz ernsthaft wiederholte, schaute sie ihn noch mal kurz zweifelnd an und meinte dann einfach: „Also schön“, sah wieder hinaus auf das Wasser, überlegte einen Moment und begann erneut zu singen; diesmal aber richtig, deutlich, wenn auch so verhalten, dass schon in geringer Entfernung ihre Stimme von den Geräuschen des Windes in den Zweigen und Halmen, des Wassers zwischen den Ufersteinen und der vorbeiziehenden Schiffe übertönt worden wäre, und mit Worten, von denen jedoch Johannes, der sich inzwischen neben sie gesetzt hatte, trotz allen Bemühens nichts verstehen konnte. Bald war er sicher, dass das nicht am Gesang lag, der etwa die Worte verfremdet hätte, sondern dass sie wirklich in einer anderen Sprache sang. Verwundert blickte er zu ihr hinüber und staunte nun erst recht: Was war denn mit Nomi geschehen? Wo war das scheue, jederzeit nichts als Ablehnung erwartende Mädchen geblieben? Hier war jemand, den er noch nie gesehen hatte. Das Gesicht halb abgewandt, den Blick nach den Schiffen, dem Wasser gerichtet, aber in Wirklichkeit schien er, nach innen gekehrt, etwas Drittes, vollkommen anderes zu schauen; der Gesichtsausdruck konzentriert, ernsthaft und zugleich aus ihrem Innersten heraus leuchtend, entflammt von einer verhaltenen Leidenschaft, so zurückgenommen wie die Stimme, die sie nie über eine mittlere, nur ihm zugedachte Lautstärke erhob und dennoch dem wechselnden Ausdrucksverlangen ihres Gesanges beweglich anzupassen wusste.

Etwas ganz Außergewöhnliches schien hier vorzugehen, etwas, das Johannes noch nie erlebt hatte und dem er, als etwas nur undeutlich Empfundenem, keinen Begriff zuzuordnen, das mit keinerlei Erfahrungen aus seinem gewöhnlichen Leben zu vergleichen er imstande gewesen wäre. Es war, als habe Nomi vor seinen Augen einen Schritt in eine andere Welt getan, eine Welt, in der sie – im Unterschied zu dieser hiesigen, alltäglichen - wirklich zuhause war, mit der sie und in der sie mit sich selbst im Reinen war und wo sie eine Souveränität und Unangreifbarkeit besaß, die ihr nichts und niemand streitig machen konnte; und als sei sie im selben Moment eins geworden mit ihrem Gesang, restlos mit ihm verschmolzen - sie war der Gesang, und der Gesang war sie, da gab es keinen Unterschied mehr zwischen beiden.

Und was war aber das auch für ein Gesang!

Wovon das Lied handelte, konnte er natürlich nicht mitbekommen. Es musste aber doch eine Ballade traurigsten Inhalts sein, der wehmütigen, leid- und sehnsuchtsvollen Melodie nach zu urteilen. Aber auch hier geschah ein seltsamer, neuartiger Zauber: so schmerzlich die Stimmung, in die ihn die fremd-schönen Intervalle, der magische Fluss der Melodik hineinzogen, so sehr wirkte dieselbe Musik auch wieder als ihr eigenes Gegenmittel, war Verwundung und Balsam, Hoffnungslosigkeit und Hoffnung, Sehnsucht und Erfüllung zugleich, auch dies untrennbar und beides in einem.

Während sich Strophe um Strophe des langen Lieds der Kehle des schmächtigen und anscheinend doch so starken Mädchens entwand, in Ausdruck und Gesangsweise keine einzige der anderen gleich sondern jede offenbar ihrem je unterschiedlichen Inhalt angepasst vorgetragen, hörte er aufmerksam zu, vollständig gefangen genommen und alles andere vergessend. Er hatte ja nicht gewusst, dass es so etwas gab! Was er bisher an Musik gekannt hatte, waren ein paar Gassenhauer, ein paar Schlager, die gerade in Mode waren, Militärgeschmetter von den Festtagsparaden, Jahrmarktsgedudel und solche Tanzmusik, wie sie auf dem Maskenball erklungen war. Das eine oder andere hatte ihm gut gefallen, dann hatte er es vor sich hin gepfiffen, wenn er froher Stimmung war, manches konnte auch mal eine schlechte Laune aufheitern. Aber nun hatte er den Eindruck, er habe bisher nicht im Entferntesten gewusst, was Musik eigentlich sein konnte. Eine tiefe Ergriffenheit bemächtigte sich seiner und die Ahnung eines Reichtums, den die Welt, den das Leben, verheißungsvoll, noch bereithalten mochte.

Als das Lied zu Ende war, blieben die beiden lange stumm nebeneinander sitzen, ohne sich auch nur anzusehen. Nach einer Weile brach Johannes den Bann, indem er ein heiseres „Danke!“ brummte. Wie beeindruckt, wie ergriffen er wirklich war, hätte er nicht auszudrücken vermocht.

„Gern gescheh’n!“ erwiderte Nomi ebenso leise. Dann fügte sie hinzu und sah dabei endlich zu ihm herüber: „Hab das lange nicht mehr richtig und ganz, von Anfang bis Ende, gesungen.“

„Aber sag mal, was für eine Sprache war das denn?“

„Die Sprache meiner Mutter“, war die Antwort.

„Wieso? War deine Mutter gar keine Deutsche? - Wer bist du, Nomi? Woher kommst du wirklich?“

„Nein, das stimmt schon alles: Ich komme von hier, bin Deutsche, wie mein Vater. Nur meine Mutter war eine Roma, eine Zigeunerin, wie man sie so nennt.“

Johannes war sprachlos. Also war doch etwas dran gewesen an den Gerüchten und die fremdartige Aura keine Einbildung.

„Na so was!“ brachte er nur hervor. „Warum hast du das denn aber damals in der Schule nicht zugegeben? Ist doch nichts dabei - im Gegenteil: das ist doch riesig spannend!“

Nomi lächelte, fast ein wenig spöttisch. „Nein, danke, ich hatte keine Lust auf das Geschrei und die Beschimpfungen. Außerdem: niemand hat mich nach meiner Mutter gefragt, nur danach, was ich bin. Und ich bin nun mal, was mein Vater ist“, und man konnte einen Ton von Bitternis nicht überhören.

„Also, dann bist du doch nicht im Pferdewagen umhergezogen, oder? Schade eigentlich. Aber erzähl doch mal!“ bettelte er.

Jetzt lachte Nomi wirklich. „Nein, ich glaube nicht. Ich weiß nicht mal, ob ich dort noch geboren bin.“

Wieder verstummte sie. Dann fügte sie hinzu: „Du musst mir versprechen, dass du niemandem, hörst du, niemandem etwas davon weitererzählst!“

„Aber warum ist das denn so ein Geheimnis? Ich wär doch stolz darauf, wenn meine Eltern irgend so was Besonderes, Ausgefallenes wären. Ich meine, nicht dass ich die umtauschen wollte, aber wenn sie, so wie sie sind oder waren, was anderes als eben ... einfach so ganz normal wie alle wären, dann wär ich da irgendwie stolz drauf!“

„Aber ich bin ja doch stolz!“ sagte Nomi heftig. „Das ist es ja gerade!“

Und als er sie verwirrt und fragend ansah: „Du verstehst das nicht. Meine Mutter und alles, was zu ihr gehört, ist das Größte, Beste, was ich habe, heilig, sozusagen. Und wenn ich drüber spräche, würde ich nur Spott und Hohn und dumme Beleidigungen hören.“

„Aber doch nicht von mir!“

„Weiß ich doch. Deshalb erzähl ich es dir ja auch. Aber du kriegst doch selbst mit, wie die meisten anderen reden und tuscheln und feixen. Das ist immer und überall dasselbe. Solange sie sich nur über mich lustig machen, ist mir das gleich. Ich bin ja nun mal eben keine Zigeunerin“, wiederholte sie trotzig. „Aber ... aber meine Mutter, die ... die werfe ich denen nicht vor die Füße!“ Sie hatte Tränen in den Augen, als sie nun wieder nach draußen auf den Kanal schaute.

„Hast du denn schon an vielen Orten gewohnt, bevor ihr hierher gezogen seid?“

„Ach, unzählige, keine Ahnung wie viele!“

„Und überall waren sie so ... so hässlich zu dir? So wie Rudolph zum Beispiel?“

Sie nickte. „Du siehst, ich bin längst dran gewöhnt.“

„Aber etwas verstehe ich nicht: Warum hast du denn eigentlich neulich dem Rudolph aus der Patsche geholfen? Du weißt schon, als du die beiden Kerle in die falsche Richtung geschickt hast, damit er ihnen entwischt? Das wollte ich schon lange fragen.“

„Ach das. Hatte ich schon ganz vergessen. Woher weißt du denn davon?“

„Ich war zufällig in der Nähe und hab alles gesehen. Da hast du doch glatt den gerettet, sozusagen, der dich am meisten und schlimmsten piesackt. Warum bloß?“

Nomi sah kurz zur Seite, zuckte dann mit der Achsel und fragte zurück: „Und du? Was hättest du denn gemacht? Hättest du ihn etwa verraten?“

„Hmmm. Nein“, antwortete Johannes. „Aber das ist doch auch was anderes. Wir sind ja sozusagen Freunde. Das kann man von dir und ihm ja wirklich nicht behaupten. Er ist schließlich dein größter Feind hier, und da hättest du die Gelegenheit gehabt, es ihm heimzuzahlen.“

„Ach Gott, Feind... Na ja, Mühe gibt er sich ja...“, sagte sie lächelnd und zuckte wieder die Schultern: „...keine Ahnung - ich weiß auch nicht. Die hätten doch kein heiles Haar an ihm gelassen!“

Im Grunde brauchte er auch gar keine Erklärung mehr dafür, es war mit einem Mal überhaupt nicht mehr so unbegreiflich, und er wechselte das Thema: „Wovon handelt denn dein Lied nun eigentlich?“

„Na, wovon solche Lieder eben handeln: von der Liebe, von zweien, die sich suchen und nicht finden, von Herzweh, und so weiter. Mutter hat es mir beigebracht.“

„Dann kannst du also diese Sprache richtig sprechen?“

„Ja. Wenn wir allein waren, hat sie oft so mit mir gesprochen.“ Noch jede Menge schöner Lieder habe sie sie gelehrt, bunte, märchenhafte Geschichten erzählt und die Lehren, Werte, Regeln und Gesetze ihres Volkes erklärt, habe ihr berichtet, wie es früher, vor ihrer Heirat, gewesen war. Nomis Leben, so hart es auch damals schon sein mochte, war gut und rund und richtig gewesen, solange die Mutter noch dagewesen war; die Quelle alles dessen, was dem Mädchen Halt und Kraft gab, all ihrer Lebenswärme und undemonstrativen frühreifen Weisheit war diese Mutter, diese enge Mutter-Tochter-Liebe und die unausgesprochen hochgehaltene und hartnäckig verteidigte Treue zu ihr, das wurde aus allem, was und wie sie davon erzählte, spürbar.

„Aber warum seid ihr denn eigentlich nicht bei ihren Leuten geblieben?“ wollte Johannes wissen, dem es um die Pferdewagen wirklich leid war.

„Na, wegen meinem Vater.“

„Also, an seiner Stelle wäre ich lieber mit denen rumgezogen als meine Frau ins normale Leben wegzuholen!“

Er blickte den Wasserlauf entlang, auf dessen kleinen Wellen die Lichtreflexe der spätnachmittäglichen Sonne tanzten. Zwischen dem Ufergebüsch der nächsten Biegung glitt ein langgestrecktes, flaches Boot gemächlich aus dem Gesichtsfeld. Darüber schossen jauchzend und kreischend wilde Banden von Mauerseglern hin und her und warfen sich ausgelassen, tollkühn und vertrauensselig in das nach Westen zu wie durch hauchdünn ausgeschlagenes feinstes Gold hindurch immer gläsern-grünlicher, immer lichter, immer ätherischer durchscheinende Himmelsblau hinein. Von dorther hatte die sinkende Sonne in diesem Augenblick einen freien Durchlass gefunden geradewegs aus den Weiten des Himmels zwischen allen Hindernissen aus Gebirgen, Häusern, Bäumen hindurch, so dass das rötlich-gelbe Licht sich in Nomis schwarzem Haarschopf fing und ein überirdischer Strahlenkranz sie zu umgeben schien.

Nach ein paar Sekunden Schweigen sagte Nomi: „Er hatte gar keine andere Wahl. Sie wollten ihn nicht mehr bei sich haben, haben ihn weggejagt aus der Sippe. Da ist Mutter mit ihm gegangen.“

„Warum? Weil er keiner von ihnen war?“

„Nein, er hatte wohl irgendwas angestellt, gegen ihre Gesetze verstoßen. Ich weiß das nicht so genau.“

„Und ... und ist sie jetzt schon lange tot?“

„Drei Jahre oder ein bisschen mehr. Das ist lang, oder? Trotzdem: manchmal glaub ich, ich kann mich besser an sie erinnern und an die Zeit, wo sie noch da war, als an alles, was seither gewesen ist; und jeden Tag wünsch ich sie mir zurück, immer, immer!“

„Mein Vater ist schon ganz lange tot, da war ich nicht mal drei. Ich kann mich leider fast gar nicht erinnern.“ Er lächelte leicht bei dem Versuch, die vagen Bilder, die ihm geblieben waren, abzurufen. „Sehr groß muss er gewesen sein. Wenn er mich auf seinen Schultern hat reiten lassen, habe ich alles von ganz hoch oben betrachtet. Und bei uns auf der Kommode steht ein Foto von ihm, deshalb weiß ich, wie sein Gesicht war.“ Plötzlich lachte er: „Das würde sich doch prima ergänzen, denke ich grade: du und dein Vater und ich und meine Mutter - das wäre zusammen wieder eine komplette Familie.“

„Bloß nicht!“ Nomi wehrte erschrocken ab. „Das wünschst du deiner Mutter nicht!“ Sie biss sich auf die Lippen und sah zur Seite, wie wenn sie die Worte bereute, sobald sie gesagt waren.

„Na, war ja nur ein Scherz“, beschwichtigte er. „Ist er denn wirklich so schlimm, dein Vater?“

Nomi schwieg.

„Die Leute sagen furchtbare Sachen von ihm. Dass er dich ganz elend schlecht behandelt vor allem.“

Mit abgewandtem Gesicht und in einem leisen, gepressten Ton sagte Nomi nur: „Er ist mein Vater!“, und es war deutlich, dass sie zu dem Thema nichts weiter zu sagen wünschte. Das war indessen schon eloquent genug, und Johannes spürte eine Auflehnung, eine Empörung in sich aufsteigen, und leistete im Stillen einen hochherzigen, ritterlichen Schwur, er werde von jetzt an ihr Beschützer sein und nicht mehr zulassen, dass ihr von irgendjemandem, auch nicht von ihrem Vater, ein Leid geschehe. Wie er das anstellen wollte, hatte er freilich keine Ahnung.

„Trotzdem: dann wärst du ja meine Schwester. Und ... und das fänd ich richtig toll.“ Noch war er gerade Kind genug, um auf keinen anderen Gedanken zu kommen, wenn er auch undeutlich spürte, dass es nicht genau das traf, was er sich wünschte und was er empfand. „Ja, so einen Bruder könnt ich schon brauchen“, gab Nomi lachend zu.

„Sag mal“, fing sie wieder an, „was war das damals eigentlich für ein Spiel, als ich ganz neu hier war - da seid ihr alle, die ganzen Kinder aus der Straße, dort drüben an der Mauer gewesen und irgendwie alle übereinander geklettert, und Fritz ist dann doch runtergefallen, weißt du noch?“

„Oh je, und ob ich das noch weiß! Erinnere mich bloß nicht an diesen Tag!“ Und er erzählte ihr von seinem Missgeschick mit dem Buch.

„Herr Mäuthis scheint ja große Stücke auf dich zu halten, nicht? Na, du bist ja auch der Beste in der Klasse.“ Sie lachte auf: „Ich bin immer noch dabei zu überlegen, ob ich die Frage richtig verstanden habe, da hast du schon die Antwort. Es ist schon genau richtig, dass du demnächst auf die höhere Schule gehst.“

„Was?!? Woher hast du das denn schon?“

„Rudolph hat das vor ein paar Tagen herumposaunt, als wir alle auf dem Nachhauseweg waren. Das konnte man gar nicht nicht hören. Er hatte wohl an der Tür gelauscht, als Mäuthis mit dir drüber gesprochen hat. - Stimmt es denn nicht?“

„Na, jedenfalls ist es überhaupt nicht sicher. Morgen muss ich erst so eine Art Prüfung bestehen oder ein Vorstellungsgespräch bei jemandem, der solche Hilfen vergibt für Arme-Leute-Kinder. Ich weiß selbst nicht, wie das wird.“

„Wünschen tust du’s dir aber schon, oder?“

„Aber ich hab auch ordentlich Angst.“

„Klar hast du Angst. Aber es ist bestimmt genau das Richtige für dich. Und ich glaub fest daran, dass du’s schaffst. Bloß schade, dass du dann nicht mehr in der Klasse bist!“

Johannes wurde rot vor beschämtem Stolz.

„Du wolltest aber doch eigentlich wissen, was wir da vor der Mauer gemacht haben“, lenkte er schnell ab und erklärte ihr, welche Herausforderung die Mauer und das Geheimnis dessen, was sie abschirmte, für die gesamte Straßenjugend bedeutete. Er berichtete auch von den Diskussionen und Spekulationen über das Dahinter, das sich jeder dazu ausmalte.

„Und du?“, fragte er sie zum Schluss, „Was stellst du dir vor, was dahinter ist?“

„Och je, keine Ahnung!“, sagte sie grübelnd. „Jedenfalls, was da wirklich in Echt dahinter ist, hab ich überhaupt keine Idee. Kann ja alles sein, was Agnes und Rudolph und die anderen sich da überlegt haben. Aber wenn ich mir was wünschen dürfte, dann ... dann wäre das irgendwas zwischen dem, was Elsa und Fritz und, klar, auch Karl gesagt haben. Also, das wär’ schön, wenn man da seine Ruhe hätte und keine Sorgen, nicht ums Essen, nicht ums Frieren; wo keiner keinem was Schlimmes tut ...“ Es war anrührend zu sehen, wie sie beim Ausmalen, allein schon in der Vorstellung solchen Friedens richtig tief und erleichtert aufatmete. „Man würde endlich wissen, wo man hingehört und bleiben darf...“ Langsam kam ihr Blick wieder zurück aus dem Traumbild, und sie sah ihn an: „Aber du hast ja noch gar nicht erzählt, was du dir denkst!“

„Ja, das ist, weil ich’s eben auch selbst nicht weiß. Klar, so Sachen wie immer genug zu essen, das hätte schon was, und noch dazu, ohne dass Mutter sich so plagen müsste - ach, überhaupt: hast du vielleicht jetzt gerade Hunger?“ Er kramte in seiner Kitteltasche und holte einen Apfel hervor, an ein paar Stellen angestoßen und fleckig, aber bestimmt noch genießbar. „Den hab ich vorhin unterwegs gefunden - willst du?“

„Nein, danke, ist doch deiner!“, sagte Nomi, während ihre Augen hungrig angezogen wurden von der Frucht.

„Aber ich brauch ihn nicht, nimm doch!“

Schließlich einigten sie sich darauf, ihn sich zu teilen und bissen abwechselnd davon ab.

„Am liebsten hätt’ ich dort vielleicht einen Hafen“, fuhr Johannes fort, „einen richtigen meine ich, von wo aus man zum Meer und um die ganze Welt fahren könnte. Oder ein Platz, wo Luftschiffe starten. Bloß müsste man, um mitfahren zu können, natürlich erst mal wissen, wie man da hinkommt.“

„Schon komisch: du willst anscheinend am liebsten immer weg und unterwegs sein, und ich, ich bin schon so viel rumgekommen, wenn auch nicht gerade in der großen weiten Welt, dass ich einfach nur müde davon bin. Ich wär am liebsten wie die Rose hier, oder der Strauch, von dem sie kommt: die hat ihren Platz, da steht sie, den kennt sie, sie hat, was sie braucht, ihre Erde, Wasser, Sonne, da kriegt sie Blätter, verwelkt, wirft sie ab, kriegt wieder neue, da blüht sie, verblüht, kriegt vielleicht - was kriegen die noch mal für Früchte? - und braucht nach sonst nichts fragen.“

„Und ich ... ich finde, es gibt so viel, oder es muss so viel geben auf der Welt, was ich nicht weiß, nicht verstehe, nie gesehen habe, und wenn ich denke, ich müsste immer hier angewachsen bleiben wie deine Rose, da könnt ich fast verrückt werden. Am liebsten würde ich mit den Schwalben da -“, wieder einmal sauste so eine Schar dicht über der Wasserfläche vor ihnen vorbei, schoss in elastischem Schwung nach oben, tauchte hinauf, hinein in den goldblauen westlichen Himmel und verlor sich als eine Handvoll schwarzer hüpfender Punkte darin - „mitfliegen, auf und davon - wenn’s so leicht wäre!“

Nomis Augen spiegelten beim mitfühlenden Zuhören etwas von Johannes’ Enthusiasmus wider, und sie sagte lächelnd: „Am besten müsste man wohl beides haben, nicht?“

„Vielleicht“. Er zuckte die Schultern und wollte den abgegessenen Apfelgriepsch mit großem Schwung ins Wasser werfen. Da hielt ihn Nomi zurück und bat: „Nicht, bitte, das wird immer so eklig, wenn das so lange im Wasser treibt, so glibberig und faulig. Lass ihn uns lieber hier vergraben.“ Sie war richtig blass geworden und sah zu seiner Verwunderung erschrockener aus als der Anlass rechtfertigte. Sie drehte sich halb um und strich die locker krümelnde Erde an einer grasfreien Stelle auseinander, bis eine Kuhle entstand, da legten sie das Gehäuse hinein und strichen die Erde wieder drüber. Dann nahm Johannes die schon sehr welke rote Blume, die Nomi abgelegt hatte, und steckte sie aufrecht dazu, wie ein Kreuz hinter einem Grab - er wusste selbst nicht, warum er das tat.

Sie lachten einander an und kehrten sich wieder dem Wasser zu, saßen still nebeneinander, jeder mit seinen Gedanken beschäftigt.

Unterdessen hatte der späte Nachmittag fast unbemerkt schon große Schritte auf den Abend hin getan. Das Licht zog sich zusehends aus den tiefergelegenen Regionen zurück, die Gemäuer in der Nähe wurden grau und verschwammen ineinander; der eine oder andere Kahn, der jetzt noch unterwegs war, schob sich als dunkle, undeutliche Masse über die spiegelglatte, als einzig verbliebenes leuchtendes Band die fortschreitende Dämmerung durchziehende Wasserfläche; dahinter vereinigten die Büsche und Baumwipfel und die darüber hinausragenden Dächer und Türme des gegenüberliegenden Ufers sich immer mehr zu einer zusammenhängenden Scherenschnittsilhouette vor dem klaren Grün des Himmels, in das hinein sich aber mehr und mehr das stetig sich vertiefende Nachtblau aus der östlichen Sphäre vorschob, hie und da von spitzigen Lichtpunkten erster Sterne durchsetzt. Aus den schwärzer werdenden Schatten zwischen Gestrüpp und Gezweig hörte man Vögel schwätzen, plustern, schimpfen und kurz und schrill aufzwitschern, während sie sich an ihren Ruheplätzen für die Nacht einrichteten. Da erhob sich mit einem Mal, nicht weit entfernt, über dieses Grundgewebe aus Geräuschen das einsame Solo eines Amselgesangs: schluchzend, lockend, klagend, jubilierend, schlichte Melodien und virtuose Koloraturen aneinanderreihend, zwischen immer neuen Improvisationen regelmäßig zu dem einen Lieblingsrefrain zurückkehrend, die Töne in den tiefen, weichen Farben, der honiggoldenen, erdigen Süße dieser Abenddämmerung. Den Kindern stockte das Herz, und etwas wie ein heiliger Schauer überlief sie. Sie saßen und lauschten mit angehaltenem Atem, und dann, beide zugleich, wandten sie sich dem anderen zu und sahen sich an, sahen einander in die Augen mit einem völlig neuen, veränderten Blick, der an dem des anderen unausweichlich, magnetisch hängen blieb. Es war, als hielten die beiden Augenpaare sich gegenseitig fest, kämen auf keine Weise, auch wenn sie es wollten, von der wechselseitigen Umklammerung los, als sähen sie durch die weit und weich geöffneten, erstaunten Augen des anderen in sein Inneres hinein und fänden dort erst eigentlich sich selbst, wo sie den anderen erkannten. Eine Ewigkeit schien dieser Moment für sie zu umspannen, ein Moment ohne Anfang und Ende in diesem Blick in das fremde, nahe Gesicht, aus allem Zeitgefüge und Alltagszusammenhang für immer herausgehoben, gebannt und in der Schwebe gehalten durch das Lied der Amsel, die ihren Abendgesang für alle Zeiten in die Unendlichkeit des sterndurchwirkten dunkelnden Himmels hinein fortspann.

Erst, als die Amsel unvermittelt zu singen aufhörte, sich mit einem schrillen, hohen Auflachen von ihrem exponierten Platz irgendwo auf einer Dachkante oder einer Schornsteinecke abstieß und davon flatterte in die allmählich sich schließende Nacht hinein, um nun auch selbst ihren Schlafplatz aufzusuchen, konnten sie den Zauber abschütteln, und sahen verwirrt, scheu und mit gesenkten Augen weg.

„Wie spät es schon ist!“ - „Ich glaub, ich muss nach Hause!“, fingen sie gleichzeitig an.

Nomi erhob sich und griff nach dem Wäschekorb.

„Ich muss das hier noch aufhängen“, meinte sie.

„Und ich hab noch keine Hausaufgaben gemacht“, sagte Johannes. „Aber komm, lass mich das für dich tragen“, und er nahm ihr den Korb aus den Händen. Eine Weile gingen sie schweigend nebeneinander her, dann fragte er: „Willst du nicht noch mit zu uns kommen? Du könntest mit uns essen, und dann machen wir die Aufgaben zusammen?“

„Das wäre wirklich schön. Aber heute ist es schon zu spät; ein andermal gern, vielleicht morgen.“

Als sie sich ihrer Behausung näherten, blieb er kurz stehen und fragte, ob ihr Vater jetzt daheim wäre. Trotz seines großherzigen Ritterschwurs von vorhin hörte er doch mit Erleichterung, dass sie ihn, wenn überhaupt, erst sehr viel später zurückerwartete. Er brachte ihr die Wäsche noch bis in die Hütte, und dann verabschiedeten sich die beiden mit einer ganz neuen Befangenheit voneinander.

Beim Abendessen war Johannes sehr abwesend und gedankenverloren, so dass die Mutter gar kein Gespräch mehr über die anstehenden Ereignisse in Gang bringen konnte, und bei den Hausaufgaben blickte er immer wieder verträumt von seinem Heft auf, so dass es richtig spät wurde, bis er sich endlich schlafen legte.

Die verriegelte Tür hinter dem Paradies. Ein Roman frei nach Heinrich von Kleist

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