Читать книгу Die Gier des Mzungu - Karl Dorsch - Страница 6
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Anna öffnet das schwarze, schmiedeeiserne Tor so sanft wie möglich, um das Quietschen der Scharniere auf ein Minimum zu beschränken. Nach ihrem letzten Besuch hatte sie sich vorgenommen Öl mit zu bringen und in diese Drehgelenke zu träufeln. Nur, wie würde das aussehen, wenn jemand beobachtet, wie eine trauernde Witwe die Arbeiten der Friedhofsverwaltung übernimmt und vor allem, wieso stört sie dieses leicht schneidende Geräusch?
Mike würde diese Arbeit für sie übernehmen, wenn er noch da wäre. Seit zwei Wochen ist er in Kenia und telefoniert selten mit ihr.
Für sie ist es wichtig, hier nicht gesehen zu werden, zumindest nicht so oft. Natürlich könnte sie sagen, die Trauer zwingt sie dazu, dennoch ist es auffällig, wenn ständig das Grab gerichtet wird. Anfangs hatte sie oft einen Mann mittleren Alters in ihrer Nähe gesehen und dachte, es wäre ein Angehöriger einer Verstorbenen. Er kam nach ihr und ging erst, als sie den Friedhof verließ. Beim dritten oder vierten Mal merkte sie sich den Platz an dem er stand und tatsächlich war er beim nächsten Besuch eine Reihe weiter. Zufall oder nicht? Sie ist sich nicht sicher, ob er sie beobachtete und kommt deshalb nachts, kurz bevor die Ruhestätte geschlossen wird.
Anna dreht sich um und schließt das Tor so behutsam wie sie geöffnet hat. In dem Augenblick unterbricht ein lauter, dröhnender Klang der Turmuhr den Frieden dieses Ortes. Sie zuckt zusammen und fühlt sich wie benommen. Sie versucht sich zu sammeln und geht weiter. Der runde Kies unter ihren Schuhen macht bei jedem Schritt ein dumpfes, knirschendes Geräusch und passt gut zur Stimmung um diese Zeit. Die kleine Kirche wird von kräftigen Strahlern illuminiert und leuchtet in einem warmen, gesättigten Gelb, dahinter der schwarze Kontrast des Schatten. Viele Gräber gibt es nicht, die meisten sind um die alte, hohe Friedhofsmauer verteilt. Es sind schöne, verwitterte Natursteine, direkt romantisch. In Richtung des kleinen Kirchenportals führen links und rechts schmale Wege zu den Plätzen, an denen die Verstorbenen liegen. Vereinzelt brennen Kerzen darauf, wie gestern und die Tage zuvor, rot und warm. Es ist keiner mehr da, sie ist die Einzige. Bevor sie den Hauptgang verlässt, um in die richtige Gräberreihe einzubiegen, bückt sie sich, geradeso, als ob Interessantes auf dem Boden läge und blickt sich unauffällig auf beide Seiten.
„Es ist totenstill“, denkt sie und muss schmunzeln. „Still wie die Toten. Gott sei Dank habe ich mir den Humor bewahrt, denn wer weiß, was noch alles auf mich zukommt. Das Versteck ist gut, da bin ich mir sicher, wenn nur dieser Mann nicht gewesen wäre.“
Sie geht zum Grab ihres verstorbenen Gatten und seiner Eltern und sucht im reflektierten Licht der Kirchenmauer als erstes nach Spuren von umgegrabener Erde. Es wäre eine Katastrophe, wenn der schwarze Boden nicht mehr glatt gestrichen oder die Blumenschale darauf verschoben ist. Alles ist wie gestern. Sie senkt den Kopf, so als ob ihre Gedanken bei dem Verstorbenen sind, sie Zwiesprache hält und die Welt dabei ausblendet. Keiner soll merken, dass ihre Ohren nach Knirschen im Kies oder Hüsteln, nach jedem kleinsten Geräusch ausgerichtet sind. Manche Grabsteine haben die Größe, um sich dahinter zu verstecken. Anna versucht ihre Aufregung in Grenzen zu halten und atmet zehn Mal langsam durch.
Diesen Trick hatte ihr Mann empfohlen, wenn man aus irgendwelchen Gründen Ruhe bewahren musste. Da war sie gerade erst zwanzig und nahm noch jeden Rat von ihrem fast fünfundzwanzig Jahre älteren, gut situierten und höflichen Ehegatten an. Die Ruhestätte passt voll und ganz zu seinem Auftreten, zu seiner Erziehung und seinen Eltern: Protzig.
Was war sie naiv. Der Schwiegervater, ein ehemaliger Direktor einer großen Bank, sein Sohn Hermann in seinen Fußstapfen, korrekt und langweilig. Wenn man in einem kleinen Dorf wie sie aufgewachsen ist und die Möglichkeit hat in eine andere, höhere gesellschaftliche Schicht zu kommen, lässt man sich leicht blenden. Das erkannte sie zu spät. Ihr Mann war ein verzogener Sohn und hatte es nur durch die Hilfe seines mächtigen Vaters zur Leitung einer Filiale in einer österreichischen Kleinstadt gebracht. Seine Eltern mussten von seiner Spielsucht gewusst haben, denn ihr Erbe ging zu Gunsten seiner älteren Schwester. Sie war schlauer und hatte bei Zeiten den Kontakt mit ihm abgebrochen und auch, weil sie in Frankreich wohnt.
Anna beugt sich und tastet nach der kleinen Grabschaufel unter dem geschnittenen Buchsbaum. Sie liegt auf dem alten Platz. Vor dem Deponieren wirft sie jedes Mal Erde weg, ungefähr dasselbe Volumen, wie das eines Barren. Außerdem muss sie zuerst einige Zentimeter tief graben, um an das versteckte Gold unter der kleinen Steinplatte zu kommen. Darauf eine Blumenschale, schon war ihr Depot fertig.
Diese Idee hatte sie, nachdem Spuren im Garten waren. Spuren aus Lehm. Mike sagte ihr, das Gold nicht im Haus zu lassen, was sie verstand, doch die Angst zwang sie einen Ort nicht weit weg zu suchen. Der Garten war groß genug, aber kein gutes Versteck, das wusste sie von Anfang an.
Der Kies auf dem Hauptgang knirscht. Es ist noch jemand da.
Anna bückt sich noch tiefer, bringt Erde schnell in Unordnung und tut, als ob ein erneutes Glätten und Verteilen nötig wäre. Als dieses Geräusch nahe ist, dreht sie den Kopf zur Seite und sieht eine große Frau, zwanzig Meter an ihr vorbei in Richtung des Ausganges gehen. Sie hat einen vom Alter und Mühe gekrümmten Rücken, der Mantel ist stark abgetragen und der Kopf mit einem schwarzen Tuch bedeckt. Aber wieso hat sie den Stoff extrem weit ins Gesicht gezogen und bleibt häufig stehen? Ihr Gang ist komisch und hat Anna scheinbar nicht bemerkt. Die Schuhe sind groß und gepflegt, fällt ihr auf. Es ist zu dunkel um mehr zu erkennen. Ist es wirklich eine Frau?
„So möchte ich nicht werden“, sagt sie zu sich, „auf keinen Fall. Wenn ich an meine Mutter und meine Tanten denke, deren einfaches und erlebnisloses Leben im Dorf, dann werde ich geradezu panisch. Ich will leben und erleben, egal mit welchen Mitteln. Aber was rege ich mich auf, meine Chancen für die Zukunft sind gut, wenn ich es nur schlau genug mache. Das Gold ist erst der Anfang, es reicht noch nicht für den Rest und Mike brauche ich dort wo er ist.“
Sie stellt die Blumenschale zur Seite, verrückt die kleine Steinplatte, räumt Erde über den Barren weg, greift in die Handtasche und legt den letzten auf die bereits versteckten darauf.
„Elf Stück“, überlegt sie, „drei hat Mike mit nach Afrika genommen. In vier Wochen fliege ich nach und nehme fünf mit. Für die ersten hat er fünfundsiebzigtausend Dollars erhalten, vielleicht wird bald mehr bezahlt, hat er am Telefon gesagt. Ob das alles stimmt?“
Sie macht das Loch zu, stellt die Platte auf den richtigen Platz, die Schale obenauf und richtet das Grab. Weiße Rosen, nicht ihr Geschmack. Die Verkäuferin machte sie auf diese Farbe bei Trauer aufmerksam. Na gut.
„Ich weiß nicht wieso, aber im Augenblick empfinde ich Trauer für meine Mann. Was haben wir falsch gemacht?
Der Altersunterschied alleine war es nicht. Hat er sich zurückgezogen, weil ich keine Kinder gebären kann? Hat er deshalb immer mehr Geld verspielt? Ich weiß es nicht. Nur Hausfrau sein und repräsentieren, wenn wir Gäste hatten, war mir zu wenig. Dir geht es zu gut, sagte er. Zu gut, was heißt das schon. Ich wollte selbständig sein, ohne sein Geld leben können. Dieser Alltag ging mir auf die Nerven. Aufstehen, einkaufen, kochen, essen und abends ins Bett. Widerlich. Ich bin vierzig und habe die Hälfte meines Lebens damit verbracht. Es kotzt mich an. Mike ist seit zwei Jahren meine einzige Abwechslung.“
Sie hört das Quietschen des eisernen Tores.
„Kommt noch jemand oder ist die alte Frau hinaus? Und wieso war sie noch so lange auf dem Friedhof?“
Anna legt die kleine Schaufel unter den Buchsbaum und geht in Richtung Ausgang. Auf halben Weg biegt sie ab, betritt eine Gräberreihe, versteckt sich hinter einem hohen Gebüsch und beobachtet ihr Familiengrab aus der Ferne.
„Ich kann mich von dieser Angst nicht lösen. Mein Leben hängt von diesem Gold ab, zumindest empfinde ich es so. Wenn das Haus verkauft ist, wird für mich nicht all zu viel übrig bleiben. Wo soll ich hin und wo soll ich arbeiten? Mein Mann wollte nicht, dass ich als einfache Friseuse tätig war. Und jetzt? Von morgens bis abends Haare waschen, schneiden, föhnen bei geringer Bezahlung … ohne mich!
Mike hat gesagt, dass ein Schließfach auf keinen Fall in Frage kommt. Mir wäre es lieber, aber er ist lange genug Bankangestellter gewesen, um es beurteilen zu können. Nur, hier am Friedhof werde ich noch verrückt. Bilde ich mir ein, dass mich jemand beobachtet oder gibt es wirklich Zusammenhänge? Bei dieser Geldsumme muss die Bank einen Detektiv einschalten, zumindest wird die Polizei eine Kommission zusammenstellen. Mir geht zu viel im Kopf herum. Ich habe Angst.“
Sie wartet einige Minuten, wird ruhiger und geht durch das Tor hinaus. Links davon ist an der Friedhofsmauer ein geteerter Parkplatz eingerichtet worden. Niedrige, zur Form geschnittene Hecken umgeben ihm. Viele Abstellmöglichkeiten sind es nicht, der Ort ist klein, so wie der Friedhof. Neben ihrem Kleinauto parkt eine weiße Limousine. Sie hat dasselbe Kennzeichen wie bei ihren letzten Besuchen und war vorher nicht da. Hat da jemand besonders leise geparkt? Es sind die einzigen Fahrzeuge weit und breit. Anna öffnet, setzt sich hinein, startet den Motor, legt den ersten Gang ein und fährt los. Als sie etwa fünfzig Meter weg ist und in den Rückspiegel schaut, geht ein Mann zu dem weißen Auto. Es ist zu dunkel um Genaueres erkennen zu können. Ist es derselbe wie immer? Der Friedhof liegt nicht weit außerhalb der Ortschaft. Während ihrer Fahrt nach Hause kontrolliert sie die Straße hinter ihr, entdeckt nichts Verdächtiges.
„Ich werde es schaffen. Mike hilft mir, nur, kann ich ihm wirklich vertrauen?“