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Das Dorf in Österreich hat etwa sechshundert Einwohner, vielleicht sind es weniger, wäre gut möglich, und als Anna noch zu Hause wohnte, waren es fast eintausend. Aus dieser Zeit stammt das Lebensmittelgeschäft, der Fleischhauer, die Wirtschaft und, man kann es kaum glauben, der Frisör. Am Rande der Republik, einen Kilometer von der Grenze zu dem jahrzehntelang ungeliebten Nachbarstaat entfernt, fristet die Gemeinde ihr Dasein, in ihrer Mitte die Kirche.

Mit sechs wurde das dunkelhaarige Mädchen der alleinerziehenden Mutter Elisabeth eingeschult und lernte, dass es nicht nur das Jesuskindlein gibt, sondern einen richtigen Gott. Mathematik, Rechtschreibung und andere Fächer musste sie sich natürlich auch aneignen. Als das Schulfräulein nach ihrem Vater fragte, sagte Anna: „Ich habe keinen.“

Die junge Lehrerin errötete, streichelte über ihren Kopf und bekam glasige Augen. Daheim erzählte sie der Mutter diese sonderbare Gebärde des Fräuleins.

„Der Papa ist gestorben“, entgegnete die Mutter, „das habe ich dir schon gesagt.“

„Ja, das weiß ich schon, aber warum?“, antwortete das Mädchen.

„Das habe ich dir auch erklärt, es war ein Unfall, mit dem Auto.“

„Aber die Marianne, die neben mir sitzt, hat gesagt, ihre Mutter erzählt, vielleicht hat er sich selbst ermordet“, sagte die kleine Anna unbedacht, freimütig und ohne Angst. Geradeso, als ob es um einen Unbekannten ginge, denn den Vater kannte sie nicht, sie war damals zwei. Die Mutter antwortete nicht, sonder drehte sich weg.

„Stimmt das so, Mama?“, setzte Anna nach. „Sag's mir halt!“

„Geh', was du alles wissen willst!“, sagte die Mama.

Als Witwe eines Eisenbahners, der auf dem Dienstweg verunglückte, bezog sie eine kleine Rente und war froh darüber, denn Arbeit gab es in der Nähe kaum. Sie half abends in der Wirtschaft, in der Küche, beim Putzen oder als Bedienung. Da gab es genug Interessenten für die junge, schüchterne Frau mit ihrem kleinen Mädchen. Aber Elisabeth mochte keinen davon als Ersatzvater für ihr Kind. Und so war sie geprägt von der Angst, dass sie ständig bei der alleinigen Erziehung beobachtet wird. Die Dorfgemeinschaft war ihr wichtig, zu wichtig.

„Ich habe niemanden, bei dem ich sonst noch aufgehoben bin“, sagte sie, „und deshalb dürfen wir nicht auffallen.“

Als Anna größer war fragte sie ihre Mutter, warum es keinen neuen Papa gibt, die Freundin hätte jetzt wieder einen, er wohnt bei ihnen und ist nett. „Warum du nicht, Mama?“, hakte sie nach.

„Geh', was du alles wissen willst!“, war wie so oft die Antwort.

So war es auch, als sie wissen wollte, wie die Kinder gemacht werden.

„Geh', was du nicht alles wissen willst!“

Nach dem einfachen Schulabschluss interessierte sich der Friseurmeister für Anna als Lehrmädchen, später interessierte ihn an der gut entwickelten Anna noch anderes. Sie war hübsch geworden, hellwach und umgänglich. Mama sagte zu, sie lernte das Friseurhandwerk. Der Herr Chef hatte nicht viel zu tun, denn die jungen Männer des Dorfes ließen ihre Haare lieber in der Stadt schneiden, modern halt. Und so half er den alten Damen in ihre Jacken, den etwas jüngeren aus den Jacken, heimlich, zu Hause, wenn die Chefin voll beschäftigt war.

Mit achtzehn war auch Anna bei ihm zu Hause, zum einem Teil aus Neugierde, denn er war sehr nett, zum anderen und größeren Teil, weil sie sich Vorteile davon versprach. Sie verstand ihren Friseurmeister irgendwie, denn es war ihm mit seiner dicken Gattin schon lange langweilig, so wie es Anna in ihrem Ort langweilig war. Die jungen Burschen empfand sie als rüpelhaft und außerdem wollte sie was ganz Anderes, etwas Besonderes. Die seltenen, privaten Beziehungen zu ihrem Chef brachten ihr die Vorteile, von denen sie gehofft hatte.

„Ich habe Kopfschmerzen“, sagte sie zu ihm und er schickte sie nach Hause. Die Chefin schimpfte und der Herr Friseurmeister entgegnete: „Das hast du doch auch, öfter als mir lieb ist, immer dann, wenn es mir nicht lieb ist.“

Die Frau verstand und schwieg.

Dann passierte das Wunder.

Die eine Hälfte des Dorfes atmete auf, die andere war skeptisch. „Was sollen die bei uns?“, sagten die einen, die sich nichts versprachen. „Wir brauchen diese Leute“, sagten diejenigen, die bereits ihr Bankkonto anschwellen sahen.

Ja, und die Arbeitsplätze!

Ein Konsortium hatte ein großes Areal aufgekauft, staatliche Unterstützung gab es, und baute ein Vier-Sterne-Wellnesshotel mit Indoor Pool, Outdoor Pool, Jacuzzi, Saunalandschaft, Private Spa, Hamam und Beautyfarm.

Was das alles überhaupt sei, fragten die weniger Gebildeten. „Das ist der Fortschritt“, antworteten die mit geglaubter Bildung. Als das Heer der Bauarbeiter, Ingenieure und Architekten verschwand, kam das Heer der Kaufleute, Tourismus-Profis, Kosmetiker und Event-Manager.

„Und die versprochenen Arbeitsplätze für uns?“, sagte der Gemeindesprecher.

„Natürlich, haben wir nicht vergessen, wir brauchen Frauen zum Putzen.“

Da war auch Annas Mutter mit bedacht worden. Die fand sich schnell zurecht und brachte ihrer Tochter die Botschaft, dass am Wochenende in der Bar jemand gebraucht wird.

„Super“, sagte Anna, „da gehe ich hin, endlich was anderes.“

Es gefiel ihr gut, zu gut, meinte die Mutter, „dir gefallen zu viele Männer, hab' ich Recht?“

„Geh', was du alles wissen willst“, antwortete dieses Mal Anna.

„Fräulein trinken sie mit mir“, sagte ein gut angezogener Herr im mittleren Alter.

„Das darf ich nicht“, entgegnete sie.

Er lies nicht locker bis er der letzte Gast war und sie sich einen Cocktail gönnte. „Man muss doch wissen, wie das teure Zeug schmeckt“, dachte sie, um ihr Gewissen zu beruhigen.

Das Trinkgeld für diesen Abend war hoch, sehr hoch, er wird es wohl haben. „Und eigentlich schaut er gut aus“, überlegte sie einen Abend später, wieder mit ihm an der Bar. Ehering sah sie keinen, lustig war er und … zweifelsohne ein Mann von Welt, nicht wie diese Bauernburschen hier.

Einen Monat später besuchte er sie privat. Ein tolles Auto stand vor dem kleinen Haus der Mutter. Zu ihr hätte er auch gepasst, aber er war nicht dumm, bevorzugte „junges Gemüse“. Und das konnte er bald probieren, die Mama war putzen, der Friseur hatte ihr frei gegeben: Kopfweh halt.

Ein halbes Jahr später zog sie zu ihm, weitere drei Monate darauf stand sie vor dem Traualtar, weißes extravagantes Kleid mit langer Schleppe, sexy, und hieß ab sofort Anna Purecker, die Frau des Bankfilialleiters.

„Leider“, sagte der Herr Friseurmeister. „Gott sei Dank“, dachte seine Frau.

Anna wollte ein Kind, es funktionierte nicht. Die Ärzte sagten, es läge an ihr, die Mutter meinte, „geh', was die nicht alles wissen!“

Da war Anna skeptisch und wollte sicher gehen.

„Ich möchte meine Freundin im Dorf ein paar Tage besuchen, wenn du geschäftlich weg bist, du hast doch nichts dagegen?“, fragte sie ihren Mann. Die Freundin hieß Markus, war zwei Jahre älter und sie kannten sich seit der Kindheit, später bei gelegentlichen Treffs, toller Sex. Sie sicherte sich bei ihrer Mutter ab, man kann nie wissen. Nur die wollte nichts davon hören einerseits, andererseits könnte sie Großmutter werden, tolle Aussicht.

Die Aussicht blieb trübe, es klappte nicht.

Und so wurde Anna Purecker langsam von einem Strudel erfasst, der sie einsam werden lies, trotz Partys, Theater in der Großstadt, Urlaub am Äquator und ungewollt Abstand zu ihrem Mann bekam, bis … bis Michael Hagner sich um sie kümmerte, der Stellvertreter ihre Mannes in der Bank, Mike genannt.

Und als sie ihn zwei Jahre kannte, passierte ihr dasselbe wie ihrer Mutter. Jetzt war auch sie ohne Mann. Selbstmord wie der Vater.

Die Gier des Mzungu

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