Читать книгу Der Shaolin - Karl-Heinz Jonas - Страница 5
Kapitel 2
ОглавлениеEs war ein herrlicher Spätsommertag. Nur wenige Blätter waren bisher von den Bäumen gefallen und begannen, einen gelblich-braunen Teppich auf dem Waldboden zu bilden. Recht spärlich drangen Sonnenstrahlen durch die noch immer dichten Baumkronen und endeten als goldfarbene Flecken auf dem Boden. Die Sonne hatte nicht mehr die Kraft, um die Luft auf bisweilen unerträgliche Temperaturen zu erwärmen, aber es war auch nicht kühl.
Li Ning genoss den Spaziergang durch den Wald zu dieser Jahreszeit. Er hatte kein festes Ziel, und eine unbestimmte Kraft, die er nicht wahrnahm und der er deshalb auch keinen Widerstand entgegen bringen konnte, bestimmte die Richtung seines Weges.
Es verwunderte ihn nicht sonderlich, dass er sich plötzlich in der Nähe des Hauses der Familie Ling befand. Diese Gelegenheit musste er unbedingt nutzen, um sich nach Jiaos Befinden zu erkundigen. Als er sich vor der Gartentür befand, hielt er jedoch inne. War er nicht zu aufdringlich? Sicher, man hatte ihm zu verstehen gegeben, er sei immer ein willkommener Gast. Trotzdem hielt ihn irgend etwas zurück. Da er nicht wusste, wie er sich am besten verhalten sollte, beschloss er erst einmal, um das Anwesen herumzugehen, zumindest soweit dies von der Waldseite aus möglich war. Der Gefahr, von einem Fremden zufällig entdeckt zu werden, durfte er sich nicht aussetzen. Die Hecke erlaubte ihm, an einigen Stellen den Garten einzusehen. Und was er sah, war ein mit sehr viel Mühe und Sorgfalt gepflegtes Stückchen Paradies. Doch so sehr er Blumen auch mochte, heute konnte er sich einfach nicht daran erfreuen. Irgendetwas bedrückte ihn. Da er sich den Grund für seine steigende Unruhe nicht erklären konnte, beschleunigte er seine Schritte merklich. Jede Möglichkeit, in den Garten zu sehen, nutzte er, ohne jedoch zu wissen, was er eigentlich suchte.
Dann sah er sie! Jiao lag in der Sonne und schlief. Er hätte vor Scham im Boden versinken mögen. Da schlich er, ein Mönch, durch den Wald, um durch Lücken in der Hecke ein Mädchen beim Sonnenbaden zu beobachten!
Schon wollte er sich unbemerkt zurückziehen, als er wiederum innehielt. Schlief Jiao wirklich? Er glaubte, etwas Unnatürliches in der Körperhaltung der jungen Frau bemerkt zu haben. So schnell er konnte durchdrang er die Hecke und lief auf Jiao zu. Dann erstarrte er. Die Augen der am Boden Liegenden waren weit geöffnet, ihr Blick war leer! Zu beiden Seiten des Kopfes war der Boden blutdurchtränkt, der Hals war halb durchtrennt!
Dunkelheit umfing ihn. Sein Körper war nass von Schweiß, sein Herz raste, und er fühlte sich, als hätte er gerade eine ungeheure körperliche Anstrengung überstanden. Langsam beruhigte sich sein Puls. Als sich seine Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten, konnte er vertraute Gegenstände wahrnehmen. Nun kehrte auch sein Erinnerungsvermögen zurück, und er wusste sich in seinem Bett.
Mit riesiger Erleichterung stellte er fest, dass er nur geträumt hatte. Jiao war nicht tot! Doch was hatte dieser Traum zu bedeuten? Hatte er überhaupt eine Bedeutung? Befand sich Jiao etwa in Lebensgefahr? Die quälende Ungewissheit versetzte ihn wiederum in Unruhe. Am liebsten wäre er sofort aufgestanden und hätte sich auf den Weg zur Familie Ling gemacht, um sich Gewissheit zu verschaffen. Doch das war unmöglich. Wie hätte er seine Abwesenheit bei Tagesanbruch erklären sollen? Er beschloss deshalb, sofort nach dem Morgenläuten den Meister aufzusuchen, um ihm von diesem Traum zu berichten. Er wollte ihn bitten, sich sobald wie möglich zur Familie Ling zu begeben.
Er stand auf, wusch sich den Schweiß vom Körper und legte sich wieder hin. Er zwang sich zur Ruhe, Schlaf fand er jedoch keinen mehr.
„Ich mache mich sofort auf den Weg“, versicherte Meister Shu nach Li Nings Bericht.
Bald darauf sah Li Ning den Meister das Kloster verlassen. Hoffentlich kam er nicht zu spät!
Den ganzen Tag über fand er keine Ruhe. Er hatte weder Appetit, noch konnte er sich auf irgendeine Tätigkeit konzentrieren. Nicht einmal das Training konnte ihn von seinen düsteren Gedanken ablenken, und er musste ungewohnt viele Treffer einstecken.
Ständig wanderte sein Blick in die Richtung, aus der der Meister nach Beendigung seiner Mission erscheinen musste.
Da er befürchtete, seine Brüder könnten den Grund für seinen Seelenzustand in seinen Augen ablesen, mied er ihre Blicke, so weit es ging. Die Zeit verging viel zu langsam, doch irgendwann neigte sich auch dieser Tag dem Ende zu.
Kurz vor Sonnenuntergang, als Li Ning bereits schlimme Befürchtungen hegte, betrat Meister Shu endlich den Hof. Am liebsten wäre Li Ning sofort wie ein kleines Kind auf ihn zugelaufen, doch er musste sich beherrschen. Ein solches Verhalten wäre eines Mönchs unwürdig.
Der Meister begrüßte die im Hof anwesenden Mönche nacheinander. Als er endlich Li Ning gegenüberstand und auch ihn in gewohnter Weise begrüßte, sagte er mit einem beruhigenden Unterton in der Stimme: „Komm in einer Stunde in den Garten.“
Nun wusste Li Ning, dass seine Befürchtungen nicht eingetroffen waren, sonst hätte er es in den Augen des Meisters lesen können. Oder verstellte sich der Meister, um unüberlegten Handlungen seines Schülers vorzubeugen? Wollte er ihm die schreckliche Nachricht vielleicht schonend beibringen?
Wieder diese Ungewissheit!
Er ging in seine Kammer und wartete voller Ungeduld. Endlich, als er glaubte, die Stunde müsse längst vorüber sein, ging er in den Garten. Doch der Meister war nicht da! Hatte er es sich anders überlegt? Konnte oder durfte er ihm nicht die Wahrheit sagen?
Doch Meister Shu hielt Wort. Ruhig und gelassen schritt er durch das Gartentor, als wisse er nicht, wie sehr er erwartet wurde. Geduld war eine notwendige Tugend für jeden Mönch, vielleicht die notwendigste überhaupt. Auch Li Ning musste diese Lektion lernen, wie sehr es ihn auch schmerzen mochte.
Schweigend ging Meister Shu durch den Garten, und Li Ning schloss sich ihm an. Meister Shu ließ sich Zeit, bevor er seinen Bericht begann, und Li Ning musste sich wohl oder übel gedulden.
„Im Moment muss sich niemand Sorgen machen“, begann Meister Shu endlich. “Ek Chen hat die Residenz heute nicht verlassen. Auch deutet nichts darauf hin, dass Ek Chen irgendjemand seine Schande eingestanden oder gar Maßnahmen zu deren Beseitigung ergriffen hat. Ein guter Bekannter der Familie Ling ist in der Residenz des Präfekten tätig und hätte sicher etwas darüber gehört. Es scheint also keine unmittelbare Gefahr zu bestehen. Ek Chen gilt jedoch als sehr rachsüchtig und ist deshalb unberechenbar. Es besteht also durchaus die Möglichkeit, dass er uns nur in Sicherheit wiegen will, um dann unverhofft handeln zu können. Deshalb verfahren wir so, wie wir es gestern bereits besprochen haben: Du hältst dich bis auf Weiteres hinter den Klostermauern auf, und wir werden draußen die Augen offen halten.“
„Wie verhält sich die Familie Ling?“ wollte Li Ning wissen.
„Auch die Tochter wird in der kommenden Zeit das Elternhaus nicht verlassen. Die Eltern werden auf jede Veränderung in der Umgebung des Hauses achten, und der Bekannte der Familie hält in der Residenz die Ohren offen. Wir können nur hoffen, das Ek Chen seine Rachepläne, sofern er welche hegt, bald aufgibt.“
Li Ning, dem während dieses Berichts ein Stein vom Herzen gefallen war, sagte, sich tief verbeugend: „Ich danke Euch, Meister.“
„Du musst mir nicht danken, Bruder Ning. Du weißt ebenso gut wie ich, dass es meine Pflicht ist, mich um die Sicherheit aller unserer Brüder zu sorgen.“
„Das weiß ich, sicher.“ Doch ebenso wusste Li Ning auch, dass es durchaus nicht die Pflicht des Meisters war, sich um die Sicherheit der Familie Ling zu bemühen. Er nahm sich vor, dem Meister seine tiefe Dankbarkeit zu zeigen, und er wusste auch schon, wie er das am besten tun konnte!
Dass ausgerechnet ihm das passieren musste! Ihm, Ek Chen, dem einzigen Sohn des allmächtigen Präfekten!
Es war einfach unglaublich. Erst weigerte dieses dumme Mädchen, ihm zu Willen zu sein, und dann fügte ihm ausgerechnet ein Mönch, der noch dazu waffenlos war und kaum dem Jünglingsalter entwachsen sein konnte, eine derartige Niederlage zu!
Diese Schande musste auf jeden Fall gesühnt werden, koste es, was es wolle. Beide würden mit dem Leben bezahlen müssen, das stand fest. Bevor er das Mädchen töten würde, musste es jedoch ihm gehören. Jawohl, das dumme Ding sollte wissen, was es versäumt hatte!
Doch wie sollte er seiner habhaft werden? Er kannte weder den Namen, noch wusste er, wo es wohnte. Sicher wäre es mit Hilfe seines Vaters ein Leichtes gewesen, dies herauszufinden, doch dann würde er diesem seine Schande eingestehen müssen. Und das wollte er um keinen Preis!
Nein, es musste eine andere Möglichkeit geben. Auch wenn es Jahre dauern würde, er würde Rache nehmen. Und diese Rache würde er auskosten!
Diesen frechen Mönch jedoch musste er nicht suchen. Hier würde es leichter sein, ihn zu erwischen. In Stücke würde er ihn reißen!
Bei diesen Gedanken umspielte ein grausames Lächeln seinen Mund.
Die kommenden Wochen brachten Li Ning wenig Abwechslung. Den Tag verbrachte er mit der Erfüllung seiner Pflichten sowie mit mehrstündigem Training. Um dem Meister seinen Dank zu zeigen, trainierte er nun mit noch mehr Hingabe.
Meister Shu bemerkte es durchaus und zeigte dies auch bisweilen durch ein Lächeln. Er sagte allerdings nichts.
Li Nings Nächte vergingen ebenfalls eine wie die andere: Jiao erschien ihm im Traum, allerdings ohne diesen Ek Chen. Er träumte, wie sie neben ihm durch den Wald ging und vergeblich versuchte, ihre körperlichen Reize unter den zerrissenen Kleidern zu verbergen. In jedem Traum wurden diese Bemühungen jedoch geringer, bis sie es schließlich ganz aufgab. Und auch er bemühte sich nicht mehr, seinen Blick von ihr abzuwenden. Im Gegenteil. Er nahm ihren zerbrechlichen Körper schützend in seine Arme. Die Träume wurden immer intensiver, und seine Sehnsucht wuchs. Mehr und mehr wünschte er den Tag herbei, an dem er die Klostermauern wieder verlassen konnte.
„Bruder Ning“, sagte der Meister endlich eines morgens. „Wir sind der Meinung, dass nun genügend Zeit verstrichen ist. Da Ek Chen seit dem Vorfall weder in der Nähe des Klosters noch in der Nähe des Hauses der Familie Ling gesehen wurde, können wir wohl davon ausgehen, dass er nicht auf Rache sinnt. Du kannst also wieder deinen gewohnten Pflichten nachkommen. Ich möchte dich aber trotzdem bitten, kein unnötiges Risiko einzugehen. Entferne dich noch nicht zu weit vom Kloster, und verständige uns bei drohender Gefahr sofort.“
Scheinbar gelassen gab Li Ning dem Meister dieses Versprechen. Er hätte jedoch vor Freude in die Luft springen können!
Von nun an verbrachte er wieder viel Zeit im Wald, mehr noch als früher. Die Wege, die er dabei zurücklegte, wurden immer größer. Trotzdem verging noch eine ganze Reihe von Tagen, bis er sich in die Nähe des Zieles seiner Träume wagte.
Jiao hatte sich an den ersten Tagen nach dem schrecklichen Erlebnis wie verabredet ausschließlich im Haus aufgehalten. Da sie sonst den weitaus größten Teil des Tages im Garten zugebracht hatte, fühlte sie sich eingesperrt. Doch ihre Gedanken ließen sich nicht einsperren! Immer wieder wanderten sie zu dem jungen Mönch, den sie kaum kannte und der ihr doch so vertraut schien.
Als sie sich endlich wieder in den geliebten Garten wagen durfte, war sie zwar sehr erleichtert, doch glücklich war sie nicht. Sie war von einer seltsamen Sehnsucht ergriffen, die ihr keine Ruhe ließ. Immer wieder ertappte sie sich dabei, wie ihr Blick in die Richtung wanderte, in der sie das Kloster wusste.
„Jiao ist im Garten“, sagte die Mutter, nachdem Li Ning im Wohnraum einige Zeit mit ihr geplaudert hatte. „Sie wird sich sicher freuen, ihren Retter zu sehen. Kommt, ich begleite Euch hinaus. Ihr müsst wissen, Jiao verbringt die meiste Zeit bei ihren Blumen.“
Li Ning hatte heute allerdings kein Auge für die Blumen. Die Vorfreude auf das Wiedersehen mit Jiao ließ sein Herz bis zum Hals schlagen, und als er sie dann endlich erblickte, raste es geradezu. Er konnte nur hoffen, dass keine der beiden Frauen etwas davon bemerkte.
Dass es Jiao nicht anders erging, konnte er nicht ahnen.
Da beide sehr darum bemüht waren, ihre Gefühle zu verbergen, war die Mutter bei dem nun folgenden Plauderstündchen Alleinunterhalterin. Das störte diese jedoch in keinster Weise, war sie doch froh, ihrem Mitteilungsbedürfnis einmal ungehindert freien Lauf lassen zu können.
Jiao und Li Ning beschränkten sich darauf, ab und zu einen heimlichen Blick auf den anderen zu werfen. Um so mehr erschraken beide, als sich ihre Blicke einmal trafen. Obwohl dieser Blick nur einen Lidschlag währte, war er immerhin lange genug, beiden die Hoffnung zu geben, dass die eigenen Empfindungen erwidert werden. Aus Angst, sich vielleicht getäuscht zu haben, vermieden sie nun gegenseitige Blicke. Stattdessen beteiligten sie sich jetzt ebenfalls an dem Gespräch.
Jiaos Mutter machte sich weder über die anfängliche Schweigsamkeit der beiden Gedanken, noch über deren plötzliche Beredsamkeit. Wie hätte sie denn auch ahnen können, was in den beiden vorging. War doch Jiao in ihren Augen noch ein Kind, und der junge Mann war schließlich ein Mönch!
Der Nachmittag verging viel zu schnell, und Li Ning musste sich viel zu früh verabschieden. Doch er musste vor Anbruch der Dunkelheit das Kloster erreichen.
Von nun an besuchte Li Ning die Familie Ling regelmäßig, jedoch nicht so häufig, dass es aufdringlich wirkte.
Für Jiaos Mutter waren diese Besuche eine willkommene Abwechslung, für die beiden Liebenden die Erfüllung ihrer sehnsüchtigsten Träume.
Eines Tages öffnete auf Li Nings Klopfen niemand. Enttäuscht wollte er sich schon entfernen, als Jiao um das Haus gelaufen kam. „Also habe ich mich doch nicht geirrt“, rief sie erfreut. „Kommt, wir gehen in den Garten.“
„Eure Mutter ist nicht zu Hause?“
„Nein, sie ist in der Stadt, bei Bekannten.“
Li Ning folgte Jiao hinter das Haus in den Garten. Sie setzten sich ins Gras, direkt neben einem der wunderschönen Blumenbeete.
Es war für beide eine völlig neue Situation, allein zusammen zu sein. Erst nach längerem schüchternen Schweigen unterbrach Li Ning die Stille, und sie unterhielten sich über belanglose Dinge, obwohl sie sich doch so unendlich Wichtiges zu sagen hatten!
Sie saßen ziemlich nah beieinander, viel näher, als es sich für die beiden gehörte.
Jiaos Haar duftete verführerisch, und zusammen mit den vielfältigen Düften der Blumen und Gräser war die Wirkung auf den jungen Mönch betörend. Vorsichtig tastete seine Hand nach der ihren, und sie ließ sein zärtliches Streicheln zu. Er schaute ihr in die leuchtenden braunen Augen, fühlte ihr Verlangen, und er wusste sich nicht länger zu beherrschen.
„Jiao“, flüsterte er.
„Li Ning.“
„Jiao, Jiao.“
Sie fielen einander in die Arme…
Aus vielen Träumen gibt es ein schreckliches Erwachen, doch weder Jiao noch Li Ning konnten ahnen, welch unsägliches Leid gerade ihr Traum nach sich ziehen sollte!
Als Li Ning sich verabschiedete, tat er dies mit sehr gemischten Gefühlen. Einerseits war er unendlich glücklich, andererseits überkam ihn große Angst vor der Zukunft. Er wusste, dass ihn sein Gelübde an das Kloster band und nichts auf der Welt dieses Gelübde rückgängig machen konnte!
Noch weit mehr sorgte er sich um Jiao. Was sollte aus ihr werden, wenn jemand das Geschehene erführe? Eine Frau durfte nur mit ihrem Ehemann intim sein – und dieser würde er niemals sein können!
Die Verantwortung lag allein bei ihm. Durch seine Unbeherrschtheit hatten sie sich eines der schlimmsten Vergehen schuldig gemacht. Niemand durfte jemals davon erfahren; ihre Liebe musste für immer ein Geheimnis bleiben!
Je mehr er sich dem Kloster näherte, desto mehr plagte ihn sein schlechtes Gewissen. Wie sollte er nur seinen Brüdern unter die Augen treten?
Zum Glück begegnete ihm im Hof kaum jemand, und den wenigen schien nichts aufzufallen. Er glaubte schon, niemand würde etwas bemerken, da begegnete ihm der Meister. Ein Ausweichen war unmöglich, und gerade den Meister würde er nicht täuschen können! Keiner kannte ihn so gut wie Meister Shu, und niemand konnte den Menschen ihre Gedanken so sicher von den Augen ablesen wie er. Li Ning wusste, dass sein Blick für den Meister wie ein offenes Buch war. Vor Scham schlug er die Augen nieder.
Meister Shu verriet jedoch mit keinem Wort, keiner Geste, sein Wissen über Li Nings schlechtes Gewissen.
An den nächsten Tagen verhielt sich Li Ning äußerlich völlig normal. Seine Brüder schienen nichts gemerkt zu haben, und der Meister tat weiterhin, als sei nichts geschehen.
Li Ning wagte selbstverständlich nicht, die Besuche bei der Familie Ling fortzusetzen, das konnte er Jiao unmöglich antun. Und wenn er sie schon nicht glücklich machen konnte, musste er versuchen, sie zu vergessen!
Beim Training gelang ihm das wenigstens teilweise. Doch spätestens abends, wenn er allein in seiner Kammer war, kehrte die Erinnerung zurück. Die Sehnsucht nach Jiao und sein schlechtes Gewissen führten in seinem Inneren einen aussichtlosen Kampf.
L Ning wusste sich irgendwann nicht mehr zu helfen und beschloss, sich dem Meister anzuvertrauen. Er war sich durchaus bewusst, welche Konsequenzen daraus für ihn erwachsen konnten. Er lief Gefahr, in Schande aus dem Kloster ausgestoßen zu werden, was praktisch seinen Tod bedeutet hätte. Ein ausgestoßener Mönch war ein Mann, der seine Ehre verloren hatte und zwangsläufig dazu verurteilt, sich das Leben zu nehmen. Doch alles wäre Li Ning lieber gewesen als der jetzige, unerträgliche Zustand.
Eines Abends, als er den Meister im Garten bemerkte, suchte er, wie zufällig, dessen Nähe.
„Bruder Ning“, sprach der Meister seinen Lieblingsschüler an. „Du möchtest etwas Wichtiges mit mir besprechen?“
„Ja, Meister. Es ist mir nicht möglich, mein schändliches Verhalten länger für mich zu behalten.“ Wie sollte er es dem Meister nur sagen? Doch dann sprudelten die Worte nur so aus seinem Mund: „Meister, ich habe unserem Kloster große Schande bereitet.“ Schamrot, mit gesenktem Kopf, beichtete er sein Vergehen.
Lange währte das Schweigen des Meisters, sehr lange. Zu ungeheuerlich musste die Tat in seinen Augen sein.
Li Ning fürchtete das Allerschlimmste.
„Nun, Bruder Ning“, begann Meister Shu endlich. „Auch ich war einmal jung. Auch ich habe hübsche Mädchen kennen gelernt, und auch ich habe sie begehrt. Doch dass du dich so weit vergessen konntest, hätte ich nicht für möglich gehalten. Ich muss dir sicher nicht sagen, dass ich sehr enttäuscht bin. Du bist dir der möglichen Folgen deiner Tat bewusst?“
„Ja, Meister.“
„Du wirst sie nie wiedersehen.“
Diese Worte fuhren Li Ning wie Messerstiche ins Herz. Ihm war, als höre sein Blut auf zu fließen. Aber er hatte keine Wahl. Und war er sich dessen nicht schon vorher bewusst gewesen? Hatte er es nicht schon selbst so beschlossen? Trotzdem brachte er die Worte nur mit Mühe über die Lippen: „Nein, Meister. Niemals.“
„Gut. Dein Verhalten kann ich nicht billigen, doch kann und will ich dich nicht verurteilen. Dies zu tun, ist einzig unserem Herrn vorbehalten. Aber ich verlasse mich auf dein Wort. Du wirst sie nie wiedersehen.“
„Nein, Meister“, wiederholte Li Ning. Obwohl ihm das Herz brechen wollte, so war er doch auch erleichtert. Der Meister hatte ihn nicht verurteilt, und er würde ihn auch nicht verraten. Tiefe Dankbarkeit erfüllte den jungen Mönch.
Doch auch die tiefste Dankbarkeit konnte die Erinnerung an Jiao nicht völlig verdrängen. Abends, wenn er einzuschlafen versuchte, erschien ihm das Bild der jungen Frau, als sei sie gegenwärtig. Er glaubte sie zu spüren, sie in den Armen zu halten. Und wenn er in die Wirklichkeit zurückgekehrt war, fühlte er sich allein und unglücklich. Die Wiederholung des schönsten Erlebnisses seines Lebens würde für immer ein Traum bleiben. Nie wieder würde er den Duft ihrer Haare einatmen, nie wieder die Sehnsucht in ihren Augen lesen und nie wieder ihren verlangenden Körper spüren. Nie wieder!
Oft holte ihn nun auch wieder dieser furchtbare Traum ein, in dem ihm Jiao als Ermordete erschien. Und wenn er erwachte, war er ebenso schweißgebadet wie beim ersten Mal.