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Kapitel 6

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Am nächsten Tag machten sich alle auf den Heimweg. Meister Shu und seine Begleiter würden wieder einige Tage wandern müssen, bis sie das heimische Kloster erreichten. Der Rückweg würde jedoch kurzweiliger werden, denn es gab viel zu erzählen. Die beiden neuen Freunde allerdings beteiligten sich in der ersten Zeit nicht an diesen Gesprächen. Der Eindruck des gerade Erlebten hielt sie noch zu sehr gefangen.

Li Ning konnte sein Glück noch immer nicht fassen. Man hatte ihm zum Meister ernannt - zum zweifellos jüngsten Meister, den es je gegeben hat! Und schon bald sollte er andere Meister in seinem Kampfstil unterrichten. Dieser Gedanke machte ihn unendlich stolz, aber auch unsicher. War er dieser Aufgabe schon gewachsen? Mutete man ihm da nicht zu viel zu? Zum Glück würde er nicht allein sein. Und Meister Shu war schließlich ein erfahrener Lehrer. Dieser Gedanke nahm Li Ning viel von seiner Unsicherheit.

Auch Hua Feng war mit seinen Gedanken beschäftigt. Durch einen Fehler, den er zutiefst bereute, war er aus seinem Kloster verbannt worden. Doch gerade diese Verbannung würde ihn als ersten Mönch eines fremden Klosters in den Genuss bringen, die neue Kampfmethode zu erlernen. Und dem selben Fehler hatte er es auch zu verdanken, dass er einen neuen Freund gewonnen hatte. Einen Freund, dem wohl kein Kung Fu-Kämpfer des gesamten Reiches der Mitte gewachsen war!

So vergingen die ersten beiden Tage der Heimreise. Am dritten Tag hatten sie jedoch ein Erlebnis, das keinen geringeren Einfluss auf ihre Zukunft haben sollte, als der vergangene Wettkampf mit dem für sie so glücklichen Ausgang.

Es war bereits später Nachmittag, und es zogen Regenwolken auf. Vor ihnen lag ein kleines Dorf, und sie beschlossen, dort nach einer Übernachtungsmöglichkeit zu fragen. Als sie den Rand des Dorfes erreichten, sahen sie plötzlich Männer, die laute Befehle riefen, aber auch Frauen und Kinder, die ängstlich schrien. Einige flohen in den angrenzenden Wald.

Keiner der Mönche konnte sich dieses Verhalten erklären. Doch als sie auf dem Dorfplatz ankamen, mussten sie feststellen, dass bewaffnete Männer eine Reihe von wehrlosen Bauern, Frauen und Kindern bedrohten. Drei Menschen lagen reglos am Boden. Die Mönche erstarrten. Was hatte das zu bedeuten? Hatte das Dorf die Steuern nicht bezahlt? Die Bewaffneten machten jedoch nicht den Eindruck, als seien sie Steuereintreiber. Wer waren diese Männer also?

Die folgenden Worte des bis an die Zähne bewaffneten Anführers gaben ihnen Aufschluss.

"Wir warten nicht mehr lange. Wenn nicht sofort die verlangten zehn Rinder hergebracht werden, töten wir alle Frauen und Kinder und brennen das gesamte Dorf nieder."

Nun wussten die Mönche, wen sie vor sich hatten. Eine Verbrecherbande terrorisierte das Dorf, und diese Menschen waren ihr hilflos ausgeliefert. Sie hatten weder Waffen, noch konnten sie sich anderweitig verteidigen. Kurzentschlossen trat Meister Shu vor. "Was müssen wir sehen? Wie könnt ihr es wagen, diese armen Menschen zu bedrohen? Was haben sie euch getan?"

Die Banditen, die offensichtlich noch keine Notiz von den Mönchen genommen hatten, drehten sich um.

Der Anführer, ein völlig verroht aussehender Bursche, grinste. "Nichts."

"Dann lasst diese Menschen in Frieden. Alles, was sie besitzen, haben sie sich mit viel Schweiß erarbeitet. Ohne Rinder haben sie keine Milch für die Kinder und können den Acker nicht bestellen. Wenn ihr ihnen ihre Tiere nehmt, müssen sie Hunger leiden."

Li Ning schaute auf die am Boden Liegenden und erschrak. Erst jetzt bemerkte er, dass sie tot waren. Von den Bewaffneten gnadenlos erschlagen! Sein Schrecken wurde noch größer, als er unter den Toten ein kleines Kind enddeckte. Er wollte schlucken, doch sein Hals war wie zugeschnürt. Als Mönch war er friedlich erzogen worden. Das Leben, besonders das menschliche, war ihm heilig. Und dort standen Männer, die für ein paar Rinder das Leben wehrloser Menschen auslöschten, und dabei auch vor dem Mord an Frauen und Kindern nicht zurückschreckten!

Ihn war auch gelehrt worden, dass kein Mensch das Recht hatte, über andere Menschen ihrer Taten wegen zu richten. Doch waren das dort überhaupt noch Menschen? Zum ersten Mal in seinem Leben verspürte er Hass in sich emporsteigen.

Eine junge Frau nahm das noch blutende Kind in die Arme und schluchzte herzzerreißend.

Als Li Ning wieder zu den Banditen aufsah, versuchte er nicht, seine Gefühle zu verbergen.

Was hingegen Meister Shu fühlte, war ihm nicht anzumerken. Er blieb ganz ruhig. Offensichtlich war er darauf bedacht, weiteres Blutvergießen zu verhindern. In beherrschtem Ton fuhr er fort: "Wir erwarten, dass ihr auf der Stelle das Dorf verlasst. Dann werden wir zum Herrn beten, dass er euch eure Schandtaten vergeben möge." Er schaute traurig auf die junge Mutter mit ihrem toten Kind. "Mit eurem Gewissen allerdings müsst ihr alleine ins Reine kommen."

Der Anführer grinste noch immer, was Li Ning die Zornesröte ins Gesicht trieb. "Ihr seid Mönche, und wir haben nichts mit euch zu schaffen", sagte er mit fester Stimme. "Und niemand will euch etwas zuleide tun. Doch wir werden uns durch eure Anwesenheit nicht von unserem Vorhaben abbringen lassen. Deshalb mischt euch nicht in Angelegenheiten, die nicht die euren sind."

"Ihr irrt euch", antwortete Meister Shu, noch immer ruhig, "wenn ihr meint, dass diese Menschen uns nichts angingen. Sie sind in Not und bedürfen unserer Hilfe. Wir haben nicht das Recht, ihnen diese zu verweigern. Auch käme uns dieser Gedanke niemals in den Sinn." Bei diesen Worten wandte er sich zu seinen jungen Begleitern um, die sofort an seine Seite traten.

Dort standen sie nun, sieben unbewaffnete Mönche, und schauten auf eine Horde bewaffneter Räuber und Mörder. Sie mussten durchaus damit rechnen, dass die Banditen sich nicht scheuen würden, ihre Waffen auch gegen Mönche zu erheben.

"Wie sollte diese Hilfe wohl aussehen?" Die Stimme des Anführers war nun voller Hochmut. "Wenn ihr diesen Menschen wirklich helfen wollt, dann sagt ihnen, sie sollen herausgeben, was wir verlangen. Dann verlassen wir das Dorf, und keinem Weiteren geschieht etwas."

Woher Meister Shu die Ruhe nahm, war Li Ning unerklärlich. Am liebsten hätte er sich auf diesen kaltblütigen Mörder gestürzt; doch musste er sich beherrschen.

"Wie ich bereits sagte," hörte er die Stimme seines Meisters, "brauchen diese Menschen ihre Rinder. Wenn ihr sie ihnen trotzdem fortnehmen wollt, werdet ihr uns vorher töten müssen. Ich glaube nicht, dass ihr es wirklich wagt, Hand an uns zu legen."

Diese Worte machten durchaus Eindruck - doch bei weitem nicht auf alle seiner Kumpane. Nur wenige schienen sich einen Rest Gottesfurcht bewahrt zu haben.

Nun erhob der Dorfälteste seine Stimme. "Liebe Diener des Herrn", sagte er an Meister Shu gewandt. "Ihr seid ohne Zweifel mutig und unerschrocken, und wir danken Euch von Herzen. Doch könnt Ihr uns leider nicht helfen. Ihr seht doch, diese Menschen haben keine Skrupel. Niemals würden wir uns verzeihen, wenn Ihr oder Eure Begleiter durch uns zu Schaden kommt. Wir geben ihnen lieber, was sie verlangen." Er gab einigen Bauern ein Zeichen, die sich auch sofort anschickten, seiner Anweisung nachzukommen.

"Warum denn nicht gleich so. Währet ihr sofort vernünftig gewesen, hätte niemand sterben müssen." Die Stimme des Anführers ging Li Ning durch Mark und Bein.

"Nein", sagte nun Meister Shu und trat noch einen Schritt vor. Die jungen Mönche folgten ihm auf der Stelle.

"Die Rinder gehören euch, und niemand hat das Recht, sie euch zu nehmen. Ein solches Unrecht lassen wir nicht zu. Diese Männer werden es nicht wagen, uns zu töten. Und sollten sie es doch versuchen, so werden wir uns zu verteidigen wissen."

Wie auf ein Zeichen ließen die Mönche ihre Kutten fallen, sodass ihre nackten Oberkörper sichtbar wurden. Dann traten sie einen weiteren Schritt auf die Banditen zu. Li Ning stand nun direkt vor dem Bandenführer.

Überrascht gaben einige Banditen zu verstehen, dass sie nicht bereit waren, gegen waffenlose Mönche zu kämpfen. Sie zogen sich einige Schritte zurück und steckten ihre Waffen fort. Die anderen jedoch drangen nun mit erhobenen Schwertern auf die Mönche ein.

Was nun folgte, ging rasend schnell. Keiner der Banditen rechnete mit ernstem Widerstand - und keinem von ihnen gelang es, die Waffen zu gebrauchen.

Li Ning vermochte seinen Zorn nicht mehr im Zaum zu halten. Die weinende Frau und ihr totes Kind vor Augen, schlug er mit aller Kraft zu. Er traf den Anführer in der Herzgegend. Knirschend gab dessen Brustkorb nach, und der Getroffene brach auf der Stelle zusammen. Den nächsten Gegner traf Li Nings Fuß im Gesicht, sodass dem Mann der Kopf nach hinten gerissen wurde. Das Knacken im Genick zeigte Li Ning, dass auch dieser sein verbrecherisches Leben beendet hatte. Dem dritten gelang es, Li Nings Schlag so weit auszuweichen, dass die Handkante nur den Unterarm traf. Die Unterarmknochen gaben nach, die Hand öffnete sich, und die Waffe entfiel ihm. Ein Schlag an den Hals nahm ihm die Sinne, ohne ihn jedoch zu töten.

Li Ning wollte sich einem weiteren Gegner zuwenden, fand jedoch keinen mehr. Seine Brüder hatten ebenso schnell gehandelt. Ringsum lagen tote oder kampfunfähige Banditen. Nur diejenigen, die sich rechtzeitig entfernt hatten, waren unversehrt. Ihre Münder waren vor Staunen ebenso geöffnet wie die der Dorfbewohner.

Sobald die an dem Kampf unbeteiligten Wegelagerer ihre Fassung zurückgewonnen hatten, verschwanden sie im nahe gelegenen Wald, so schnell ihre Füße sie trugen. Niemand hinderte sie daran. Sie hatten eine Lehre fürs Leben erhalten, so hoffte Li Ning.

Der Dorfälteste kam langsam auf die Mönche zu. Er schaute sie noch immer ungläubig an. Plötzlich brach er in Tränen aus und sank vor ihnen auf die Knie. "Ein Wunder, es muss ein Wunder geschehen sein. Der Herr hat endlich meine Gebete erhört und Hilfe gesandt." Er wandte sein Gesicht dem Himmel zu und rief: "Ich danke Dir, Herr, ich danke Dir von ganzem Herzen."

Meister Shu fasste ihn bei den Schultern und zog ihn hoch. "So steht doch auf, guter Mann", sagte er freundlich. "Sicher hat der Herr unseren Weg in Euer Dorf gelenkt, doch sind wir nichts weiter als ein paar Mönche, die sich auf dem Weg zu ihrem Kloster befinden. Wir freuen uns, dass wir euch davor bewahren konnten, euer Hab und Gut zu verlieren. Leider kamen wir für einige von euch zu spät..." Mit trauriger Miene schaute er auf die am Boden legenden Toten und dann auf die ihr Kind noch immer in den Händen haltende junge Mutter.

Konnte ihre Hilfe für diese Frau ein Trost sein? Li Ning bezweifelte es. Heute hatte er getötet - zum ersten Mal in seinem Leben. Und es tat im nicht im geringsten leid. Diese Männer hatten nichts als ihre gerechte Strafe erhalten.

Die ersten Verletzten regten sich.

"Wir müssen sie einsperren und den Präfekten verständigen," sagte Meister Shu. Bis sie abgeholt werden, sollten sie bewacht werden." Er wandte sich an den Dorfältesten. "Habt Ihr eine Möglichkeit, sie sicher unterzubringen?"

Der alte Mann nickte.

Mittlerweile waren auch die vor der Bande Geflohenen zurückgekehrt, und die gesamte Dorfbevölkerung hatte sich auf dem Platz versammelt. Der Dorfälteste gab einige Anweisungen, die noch lebenden Banditen wurden ergriffen und gemeinsam in einen verschließbaren Stall gesperrt.

"Nun bekommen sie doch noch ihren Willen", feixte ein junger Bursche. "Sie wollten doch unbedingt zu unseren Rindern."

Der Dorfälteste sah den jungen Mann strafend an, und dieser senkte beschämt den Blick.

Niemand machte sich sie Mühe, die Verletzungen der Banditen zu versorgen. Sie hatten sich die Schmerzen selbst zuzuschreiben. Auch konnten sie kaum hoffen, mit dem Leben davonzukommen. Sicher würden die Soldaten des Präfekten nicht viel Federlesens mit ihnen machen.

Der Dorfälteste benannte zwei junge Männer, die sich sofort auf den Weg in die Stadt machten, um dem Präfekten Bericht zu erstatten.

Li Ning ging zu der Mutter des toten Kindes, um ihr Trost zu spenden. Doch als er in ihre Augen sah, wusste er, dass keine Worte der Welt den schlimmsten Schicksalsschlag, der eine Mutter treffen konnte, würden lindern können. Traurig ging er zu den anderen zurück. Dort erfuhr er, dass auch ihr Mann kürzlich von Wegelagerern ermordet worden war. Nun hatte sie niemanden mehr. Und wie ihr war es schon einigen aus dem Dorf ergangen. Immer wieder waren Bauern überfallen, ausgeraubt und ermordet worden. Und der Präfekt konnte oder wollte nichts dagegen unternehmen.

In diesem Augenblick, als ihm das Leid dieser Menschen so deutlich vor Augen stand, fasste Li Ning den Entschluss, diesen Menschen zu helfen. Sie mussten lernen, sich der Banditen zu erwehren. Er nahm sich vor, bei nächster Gelegenheit Meister Shu seine Gedanken mitzuteilen.

Am Abend saßen die Mönche mit den Bauern beisammen. Immer wieder wurde die Frage aufgeworfen, wie es möglich sein konnte, dass sieben unbewaffnete Mönche eine solche Übermacht an Bewaffneten besiegen konnten. Einigen war deutlich anzusehen, dass sie daran zweifelten, dies könne mit rechten Dingen zugegangen sein.

"Ihr könnt uns glauben", sagte Meister Shu deshalb. "Wir sind ganz normale Mönche aus dem Kloster von Shaolin. Allerdings beschäftigen wir uns sehr intensiv mit der Kunst der Verteidigung. Dabei haben wir gelernt, unsere eigenen Körperteile als Waffen zu gebrauchen. Es ist durchaus nichts Übernatürliches daran, sondern reine Übungssache."

Die Bauern nickten zwar höflich mit den Köpfen, doch ihre Augen sagten etwas anderes. Mit Worten waren sie nicht zu überzeugen.

Meister Shu sah Li Ning an, und dieser verstand. Beide standen auf.

"Macht bitte ein wenig Platz", bat Meister Shu, und diesem Wunsch kamen die Bauern erwartungsvoll nach.

Die beiden Mönche stellten sich einander gegenüber. Blitzschnell griff Li Ning unter Einsatz von Armen und Beinen an, und ebenso schnell wehrte Meister Shu die Angriffe ab.

Da die Bauern nicht in der Lage waren, den für sie viel zu schnellen Bewegungen zu folgen, waren sie nun noch verwirrter als zuvor.

"So", sagte Meister Shu. "Nun schaut genau zu."

Jetzt griff er an. Sowohl seine Angriffe als auch Li Nings Verteidigungsbewegungen wurden nun ganz langsam ausgeführt, sodass sie für jeden verfolgbar waren. Sowohl schnell als auch langsam wiederholten sie die Bewegungen daraufhin noch einmal.

"Ihr seht", sagte Meister Shu, "nichts davon hat irgend etwas mit übernatürlichen Kräften zu tun. Jede einzelne Bewegung ist erlernt. Und so wie wir, kann jeder andere auch, egal, ob Bauer oder Mönch, diese Kunst erlernen. Natürlich muss man jede einzelne Bewegung viele Male üben, bis man sie beherrscht."

Und als hätte er Li Nings Gedanken erraten, sprach er weiter: "Wir würden euch gern dabei behilflich sein. Wählt einige Männer aus, die bereit sind, eine harte Ausbildung auf sich zu nehmen. Wir werden sie dann in unserem Kloster das Wichtigste lehren, und sie wiederum können dann die anderen unterrichten."

Die Bauern sahen einander an, doch niemand sprach ein Wort.

Nach einiger Zeit des Schweigens räusperte sich der Dorfälteste. "Eure Taten und Eure Worte haben mich überzeugt. Es gibt keine andere Möglichkeit als zu lernen, uns selbst zu helfen." Der Dorfälteste genoss großes Ansehen im Dorf, und seine Meinung zählte viel.

Während die heutigen Erlebnisse den Bauern Gesprächsstoff bis weit in die Nacht lieferten, begaben sich die Mönche bald zur Ruhe. Dankbar nutzten sie die ihnen angebotenen Schlafplätze.

Obwohl Li Ning sehr müde war, fand er lange keine Ruhe. Das Schicksal der jungen Frau beschäftigte ihn zu sehr. Gab es irgendeine Möglichkeit, ihr zu helfen? Hatte sie nach dem Tod des Mannes und nun auch ihres Kindes noch weitere Verwandte im Dorf? Und wenn ja, würden diese sie über ihr Leid hinwegtrösten können? Li Ning wusste es nicht. Er grübelte darüber nach und kam zu keinem Ergebnis. Erst gegen Morgen schlief er ein. Trotzdem erwachte er wieder als erster.

Um die anderen nicht zu stören, wartete er geduldig, bis auch sie erwachten. Dann stand er auf. Unwiderstehlich zog es ihn zu dieser Frau. Er erkundigte sich nach dem Weg zu ihrer Hütte. Das ungute Gefühl, das er bereits die ganze Nacht über verspürte, verstärkte sich, und er beschleunigte unbewusst seine Schritte. Endlich angekommen, klopfte er an die Tür. Niemand antwortete. Er wiederholte sein Klopfen, doch wiederum ohne Erfolg. Er versuchte die Tür zu öffnen, und da sie nicht verriegelt war, gab sie nach. Er schaute in den durch das Tageslicht nur spärlich beleuchteten Raum. Li Ning näherte sich vorsichtig der Schlafstätte. Die junge Frau lag, noch immer ihr totes Kind in den Armen, friedlich in ihrem Bett. Schon glaubte Li Ning, seine Ahnung hätte ihn getrogen, doch dann sah er es: Blut!

Schnell schlug er die Decke zurück. Alles war blutüberströmt! Die Frau hatte sich die Pulsadern geöffnet. Das kleine Kind in die Arme nehmend, hatte sie sich hingelegt und war langsam verblutet. Nach dem Tod des Mannes hatte sie nur noch für ihren Sohn leben wollen, doch nun war auch er tot. Ohne die beiden geliebten Menschen wollte auch sie nicht länger auf dieser Welt bleiben und hatte sich auf den Weg zu ihnen gemacht.

Li Ning war zutiefst betroffen. Mit dieser unglücklichen, noch so jungen Frau, hatten die Banditen ein weiteres Leben ausgelöscht.

Schweren Schrittes ging er zurück zu seinen Gefährten und berichtete von seiner Enddeckung. Die erneute Schreckensnachricht bestürzte alle.

Als auch die Bauern davon erfuhren, hätten sie in ihrer unbändigen Wut am liebsten Rache an den Gefangenen genommen. Nur mit Mühe konnte Meister Shu, mit Unterstützung des Dorfältesten, sie von ihrem Vorhaben abbringen. Als die Gemüter sich wieder ein wenig beruhigt hatten, verabschiedeten sich die Mönche und machten sich wieder auf den Weg. Im Moment konnten sie nichts für die Bauern tun.

Der gestrige Tag und seine Folgen hatten alle tief getroffen. Erst bei einer Rast brach Meister Shu das allgemeine Schweigen.

"So wie diesen Menschen ergeht es sicher vielen anderen auch. Ich habe bereits mehrfach von solchen Banden gehört. Doch wie brutal und rücksichtslos sie vorgehen, davon haben wir erst jetzt einen Eindruck erhalten. Wir müssen etwas für die hilflosen Menschen tun."

Damit sprach er Li Ning nur allzu sehr aus dem Herzen. Diesen Banden musste Einhalt geboten werden, unter allen Umständen! Dieser Gedanke nahm ihn so gefangen, dass sein Erfolg bei den Wettkämpfen, ja selbst die bevorstehende Meisterschaft, in den Hintergrund seines Denkens verbannt wurden.

Der Shaolin

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