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Kapitel 3
ОглавлениеJiao ging ihrer Lieblingsbeschäftigung nach, der Pflege ihrer Blumen. Doch ihre Gedanken waren woanders. Immer wieder wanderte ihr Blick zum Eingang des Gartens, und jedesmal war ihre Enttäuschung groß. Seit nun schon drei Monaten waren ihre Blicke vergeblich. Li Ning kam nicht, und der Grund dafür war ihr unbegreiflich. Sicher war es ihre Schuld. Niemals hätte sie sich ihm hingeben dürfen! Verachtete er sie am Ende deshalb? Aber sie hatte doch gespürt, dass sein Verlangen ebenso groß gewesen war wie das ihre. Warum also kam er nicht?
Jiao fühlte sich schwach und elend. In jüngster Zeit hatte sie häufig mit Schwindelanfällen zu kämpfen und musste sich des öfteren übergeben. Auch hierfür hatte sie keine Erklärung und machte ihre Sehnsucht dafür verantwortlich.
„Jiao, Li Ning war lange nicht hier.“ Wie ein Schlag ins Gesicht trafen sie die Worte ihrer Mutter, die sich ihr unbemerkt genähert hatte.
„Nein“, hauchte sie, ihrer Stimme kaum mächtig.
„Er kommt nicht mehr?“
Sie glaubte das Rauschen eines Sturmes zu hören, doch kein Lüftchen regte sich. „Ich weiß es nicht.“ Lauter und lauter wurde das Rauschen in ihren Ohren.
„Du hast dich ihm hingegeben?“
Alles um sie herum schien in Bewegung geraten zu sein. „Du weißt….?“ Sie sah die Blumen auf sich zukommen, dann spürte sie nichts mehr.
„Jiao, Jiao, komm zu dir.“
Wie aus weiter Ferne drang die Stimme der Mutter an ihr Ohr. Nur langsam kam sie wieder zu sich, aber damit kam auch die Erinnerung an die letzten Worte ihrer Mutter zurück. Sie wusste es also! Was würde sie jetzt tun? Wusste auch der Vater schon davon? Welch eine Schande hatte sie ihren geliebten Eltern angetan. Wenn sie doch wenigstens sterben könnte! Mühsam erhob sie sich.
Frau Ling las die Verzweiflung in den Augen ihrer Tochter und nahm sie in die Arme, wie schon seit Jahren nicht mehr. Mit einem tiefen Seufzer umschlang Jiao den Hals ihrer Mutter. Sie war nicht länger in der Lage, die Tränen zurückzuhalten.
„Weine nur, mein Kind. Weinen erleichtert.“
Als Jiaos Tränen versiegt waren, hielt Frau Ling sie noch immer in den Armen. Sie musste ihrer Tochter jetzt sehr weh tun, aber es hatte keinen Sinn, es länger hinauszuzögern.
„Du musst jetzt sehr tapfer sein, Jiao. Ich weiß, du fühlst dich in letzter Zeit häufig unwohl. Und glaube mir, es wird noch schlimmer.“
„Mutter, ich liebe ihn“, brach es aus der jungen Frau heraus. „Ich kann an nichts anderes denken, nichts macht mir mehr Freude. Ich weiß, dass auch er mich liebt, warum nur kommt er nicht?“
„Jiao, du musst ihn vergessen.“
Sie riss sich von ihrer Mutter los. „Li Ning vergessen? Das könnte ich niemals! Und warum sollte ich?“
„Er kommt nicht wieder. Nie mehr!“
Jiao knickte in den Knien ein, und hätte die Mutter sie nicht gehalten, wäre sie erneut auf das Blumenbeet gesunken. Was hatten diese Worte der Mutter zu bedeuten? Woher konnte sie wissen, dass Li Ning nicht wiederkommen würde? „Ist ihm etwas geschehen?“, rief sie. „Um Himmels Willen, Mutter, so sage doch etwas!“
„Nein, es ist ihm nichts geschehen, aber er kommt trotzdem nicht wieder.“
„Aber warum nicht?“
„Sein Gelübde verbietet es ihm. Du musst ihn vergessen.“
Gelübde! Vergessen! Jiao konnte die Worte der Mutter nicht begreifen. Sollte Li Ning wirklich schon das Gelübde abgelegt haben? Aber es gab doch keine Möglichkeit, von diesem Gelübde entbunden zu werden. Also sagte die Mutter die Wahrheit. Sie würde Li Ning nie wiedersehen. Doch vergessen? Vergessen würde sie ihn ebenso wenig, auch das wusste sie.
„Jiao, ich muss dir noch etwas sagen. Etwas noch viel Schlimmeres.“
Ungläubig schaute sie die Mutter an.
„Es ist wahr, Jiao, dass die Sehnsucht nach einem Menschen sehr weh tut. Und wenn man weiß, dass diese Sehnsucht niemals in Erfüllung geht, ist es umso schlimmer. Doch diese Sehnsucht, mein Kind, ist nicht der alleinige Grund für dein Unwohlsein.“
Jiao war kaum eines vernünftigen Gedankens fähig. Welchen Grund konnte es wohl sonst geben?
„Kannst du dir wirklich nicht denken, was ich meine?“
Jiao schaute ihre Mutter verständnislos an und schüttelte den Kopf.
Frau Ling wusste, dass ihre Tochter am Ende ihrer Kräfte war, doch sie musste ihr die Wahrheit sagen. Je eher sie es wusste, desto schneller würde sie auch darüber hinwegkommen, sofern das überhaupt möglich war.
„Jiao, mein Kind. Wenn Mann und Frau sich vereinigen, dann ist es durchaus möglich…“ Ihr versagte die Stimme.
In Jiao keimte ein Gedanke, der völlig unfassbar schien. Nicht auch das noch! „Nein“, schrie sie. Dann verließen sie die Kräfte, und auch Frau King war außerstande, ihre Tochter zu halten. Lautlos glitt Jiao auf das Blumenbeet.