Читать книгу Der Shaolin - Karl-Heinz Jonas - Страница 8
Kapitel 5
ОглавлениеFünf Jahre waren vergangen. Für Li Ning waren es fünf Jahre des intensivsten Trainings – aber auch des Vergessens.
In jüngster Zeit hatte er nur noch sehr selten an Jiao denken müssen. Auch taten die Gedanken an das schöne Mädchen nicht mehr weh. Sicher hatte sie längst den richtigen Mann gefunden und war glücklich verheiratet.
Ek Chen hatte er ganz vergessen.
Nur das Kung Fu hatte es in diesen fünf Jahren für ihn gegeben. Das Kung Fu, das ihm geholfen hatte zu vergessen, und das er gemeinsam mit seinem Meister vervollkommnet und in wesentlichen Punkten erweitert hatte.
Li Ning befand sich gemeinsam mit vier weiteren jungen Mönchen und Meister Shu auf dem Weg zum benachbarten Kloster.
„Haben noch weitere Klöster Einladungen zu dem Turnier erhalten, Meister?“
„Ja, Bruder Ning. Es werden sicher Brüder aus vielen Klöstern am Start sein. Ihr wisst, dass bis vor einigen Jahrzehnten unsere Kampkunst ein streng gehütetes Geheimnis war. Dann hat unser Kloster den Bitten unserer Glaubensbrüder nachgegeben, sie in unserer Kampfkunst zu unterrichten. Um die Fortschritte dieser Mönche festzustellen, wurde irgendwann begonnen, im Abstand von einigen Jahren Vergleichswettkämpfe durchzuführen. Dies ist zur Tradition geworden, und um der Chancengleichheit willen wechseln die Orte dieser Veranstaltungen. Und ihr könnt mir glauben, nicht immer haben Kämpfer aus unserem Kloster den Sieg davongetragen.“
Meister Shu schmunzelte.
„Ihr werdet uns doch keine Angst machen wollen, Meister.“ Auch auf Li Nings Gesicht erschien ein Lächeln.
„Nein, natürlich nicht. Ihr alle habt fleißig trainiert und werdet sicher gut abschneiden. Trotzdem dürft ihr die anderen Mönche nicht unterschätzen.“
Li Ning nahm sich vor, die Worte des Meisters ernst zu nehmen.
Obwohl das stundenlange Wandern mit Gepäck ungewohnt und daher recht anstrengend war, freuten sich die jungen Mönche doch, auf diese Weise einen Teil ihrer Heimat kennenzulernen.
Als die Wanderer nach sechs Tagen ihr Ziel erreichten, waren sie von dem Treiben im gastgebenden Kloster überrascht. Sie waren bei weitem nicht die ersten, die angekommen waren, und stündlich wurden es mehr. Es herrschte eine Stimmung wie auf einem Volksfest.
Meister Shu und seine jungen Kämpfer wurden vom Abt des Klosters auf das Herzlichste begrüßt, ebenso wie alle anderen auch. Sie erfuhren, dass Kämpfer aus zwanzig Klöstern ihre Teilnahme angekündigt hatten. Kämpfer aus der gesamten Provinz Henan würden also am Start sein!
Meister Shu hatte in jungen Jahren des öfteren an solchen Turnieren teilgenommen und auch mehrmals gewonnen. Doch eine solch große Teilnehmerzahl war auch in seinen Augen ungewöhnlich.
Bis zum Turnierbeginn waren noch zwei Tage Zeit. Sie wurden genutzt, um sich an die ungewohnte Atmosphäre zu gewöhnen, andere Mönche kennenzulernen, aber auch, um noch ein wenig zu trainieren. Im Einvernehmen mit seinem Meister achtete Li Ning darauf, die neuen Techniken noch nicht zu zeigen. Diese würde er erst im Wettkampf anwenden.
Endlich war es soweit, der Wettkampftag brach an. Alle Teilnehmer und deren Meister waren schon sehr früh auf den Beinen, um sich so gut wie möglich auf den Wettkampf vorzubereiten.
Dann versammelte man sich auf dem Kampfplatz, um der Eröffnung beizuwohnen.
Die Eröffnungsworte des berühmten Meisters Tang Fu brachten für alle Anwesenden eine Überraschung.
„Liebe Brüder, verehrte Meister“, begann er. „Ich bin sehr glücklich, dass so viele Kung-Fu-Kämpfer den Weg in unser Kloster gefunden haben. Zeigt es doch, wie intensiv unsere traditionelle Kampfkunst in den Klöstern unserer Provinz betrieben wird. Dies freut mich umso mehr, da am heutigen Tag auch in allen anderen Provinzen des Reiches der Mitte ein ebensolches Turnier stattfindet. Die Sieger dieser Turniere werden an den erstmals stattfindenden Meisterschaften des gesamten Reiches teilnehmen. Deshalb möge der Beste von euch den Sieg davontragen und unsere Provinz Henan bei den großen Meisterschaften würdig vertreten.“
Nach den letzten Worten Meister Fus ging ein Raunen durch die Menge. Eine Kung Fu-Meisterschaft des gesamten chinesischen Reiches! Damit hatte das heutige Turnier beträchtlich an Bedeutung gewonnen. Aber nur der Sieger würde berechtigt sein, an diesen Meisterschaften teilzunehmen.
Meister Fu gab nun den Ablauf des heutigen Wettkampfes bekannt. Es war denkbar einfach: Das Los entschied über die Reihenfolge, in der die Kämpfer aufeinander trafen. Die Sieger kamen eine Runde weiter, während die jeweiligen Verlierer ausschieden. Auf diese Weise halbierte sich die Anzahl der im Wettkampf verbliebenen Teilnehmer nach jedem Durchgang, bis nur noch zwei Kämpfer ohne Niederlage waren. Diese beiden würden dann um den Sieg streiten.
Auch die Regeln, nach denen die Sieger ermittelt wurden, waren leicht zu verstehen und selbstverständlich allen bekannt. Derjenige, der seinen Gegner in eine ausweglose Position zwang, war der Sieger. Dies konnte dadurch erreicht werden, dass ein Schlag oder Stoß so angesetzt wurde, dass er den Gegner im Ernstfall kampfunfähig machen oder gar töten würde. Eine zweite Möglichkeit bestand darin, den Gegner mit Hilfe der Arm, Beine oder eines anderen Körperteil auf den Rücken zu werfen, sodass diesem die Möglichkeit zur Gegenwehr genommen wurde. Eine Zeitbegrenzung war nicht vorgesehen, was beim Aufeinandertreffen gleich starker Gegner zu recht langwierigen Auseinandersetzungen führen konnte.
Da alle Kämpfe nacheinander und auf derselben Fläche ausgetragen wurden, hatte jeder Teilnehmer die Möglichkeit, seinen nächsten Gegner zu beobachten.
Li Ning führte eine sorgfältige Erwärmung seines Körpers durch. Er wollte und durfte seine Gegner nicht unterschätzen, auch wenn sicher keiner der hier anwesenden Mönche so intensiv trainiert hatte wie er.
Seine ersten Gegner besiegte er dann auch ohne große Mühe und binnen kurzer Zeit.
Er war erfreut, dass auch seine Brüder ihre ersten Duelle siegreich gestalten konnten, wenn auch mit mehr Mühe.
Gegen Abend waren nur noch vier Mönche unbezwungen, davon allein drei Schüler Meister Shus. Dies erfüllte ihn selbstverständlich mit großem Stolz, und gern hörte er die lobenden Worte der anderen Meister.
Li Ning war Hua Feng, der einzige aus einem anderen Kloster stammende und noch im Turnier befindliche Mönch, bereits während der ersten Kämpfe aufgefallen. Er bestach durch traumhafte Sicherheit seiner Bewegungen und extremer Schnelligkeit sowohl im Angriff als auch in der Verteidigung.
Diesem gelang es nun auch als erstem durch einen recht überlegenen Sieg über Li Nings Freund Shen Wu das Finale zu erreichen.
Zhong Fong, ein guter Freund und nächster Gegner Li Nings, wusste ob dessen Überlegenheit, wollte sich aber trotzdem nicht widerstandslos geschlagen geben. Er leistete erbitterte Gegenwehr, solange es ihm möglich war. Li Nings Erreichen des Endkampfes konnte er allerdings nicht verhindern. Er gab ihm die Hand und wünschte ihm für den letzten Kampf viel Erfolg. Li Ning bedankte sich.
Auch Meister Shu kam vor dem entscheidenden Kampf noch einmal zu ihm.
„Bruder Ning“, sagte er. „Du weißt, worum es jetzt geht. Hua Feng ist kein Unbekannter. Man sagt, er sei noch unbezwungen.“
„Ich werde mein Bestes tun, Meister.“
„Das weiß ich. Ich weiß auch, dass du bisher ohne die neuen Techniken ausgekommen bist. Du solltest dich jedoch nun nicht länger vor der Anwendung scheuen, sollte es notwendig sein.“
„Wäre das nicht unfair, Meister?“
„Nein, Bruder Ning, im Gegenteil! Alle Techniken sind von dir selbst erdacht und entsprechen den Regeln. Und bedenke noch eins: Wie willst du in Erfahrung bringen, ob sie im Ernstfall wirksam sind, wenn du sie nicht im harten Wettkampf erprobst? Besonders, wenn du zeigen kannst, dass sie gegen sehr starke Gegner zum Erfolg führen. Unfair wäre es wohl eher, behieltest du diese Techniken für dich. Sie sollten allen Kung Fu-Kämpfern zugänglich sein. Und deshalb darfst du dich nicht scheuen, sie anzuwenden.“
„Gut, Meister. Wenn es notwendig ist, tue ich es.“
Li Ning wurde zum Kampf gerufen.
Sein Gegner erwartete ihn bereits an der Wettkampffläche.
Als sie einander gegenüberstanden, begrüßten sie sich durch die übliche höfliche Verbeugung.
Li Ning war fest entschlossen, sofort den Angriff zu suchen und die erste Möglichkeit zur Beendigung des Kampfes zu nutzen.
Hua Feng wehrte sich, so gut er konnte, doch war schon bald abzusehen, dass er Li Ning auf Dauer nicht gewachsen sein würde. Li Ning bedrängte seinen Gegner permanent und ließ diesem keine Möglichkeit zu eigenen Angriffen. Doch gelang es Hua Feng immer wieder, den Angriffen im allerletzten Moment auszuweichen.
Li Ning sah den unbändigen Ehrgeiz in den Augen Hua Fengs brennen und wusste, dass dieser alle ihm zur Verfügung stehenden Mittel nutzen würde, um den Sieg davonzutragen.
Beim nächsten Angriff Li Nings geschah es dann: Um die sichere Niederlage zu vermeiden, führte Hua Feng einen scheinbar unkontrollierten Fußstoß gegen Li Nings Unterleib.
Obwohl Li Ning mit einer solch unfairen Handlung seines Gegners nicht rechnen konnte, gelang es ihm, durch eine blitzschnelle Körperdrehung dem Fuß auszuweichen. Gleichzeitig schlug er mit dem eigenen Fuß Hua Feng das Standbein weg, sodass dieser krachend auf dem Rücken landete. Sofort setzte er ihm nun ein Knie auf die Brust und deutete einen Fauststoß zum Kopf Hua Fengs an, der im Ernstfall tödlich gewesen wäre.
Jubelrufe belohnten diesen Erfolg, und Li Ning wurde sofort von seinen begeisterten Kameraden umringt. Sie alle freuten sich mit ihm.
Obwohl der unfaire Angriff Hua Fengs und die erfolgreiche Abwehr Li Nings sehr schnell ausgeführt worden waren, waren sie doch nicht allen verborgen geblieben. Besonders die Meister straften den Unterlegenen mit vorwurfsvollen Blicken. Da einige ihren Unmut auch laut äußerten, trat die Wettkampfleitung zusammen. Die beiden jungen Mönche bat man ebenfalls hinzu.
„Hua Feng“, ergriff dessen Meister als Erster das Wort. „Wir sind zu einem friedlichen Wettstreit eingeladen und sehr freundlich empfangen worden. Doch du hast sehr unsportlich gekämpft und Schande auf dich und damit auch auf unser Kloster geladen. Ich schäme mich für dich und möchte die Wettkampfleitung bitten, für dein Verhalten eine angemessene Strafe festzulegen.“
Hua Feng senkte den Kopf. Die Scham hatte sein Gesicht rot gefärbt.
Nach einer kurzen Zeit des Schweigens hob er den Kopf und sagte: „Ich habe mich schändlich benommen und bin deshalb nicht wert, ein Mönch zu sein. Ich bin bereit, jede Strafe auf mich zu nehmen.“ Wieder senkte er den Kopf und erwartete die Verkündung der Strafe.
In Li Ning erwachten Erinnerungen. Hatte er nicht vor wenigen Jahren ebenso vor seinem Meister gestanden wie nun Hua Feng? Hatte nicht auch er die jahrhundertealten Gesetze der Kirche auf die schlimmstmögliche Weise verletzt? Er hatte seine Tat bereut und war nicht bestraft worden. Bewies nicht Hua Feng mit seinen Worten, dass auch er seine Tat bereute und niemals wieder so handeln würde?
Li Ning bat ums Wort. Alle schauten ihn erstaunt an, man bat ihn jedoch zu sprechen.
„Ehrwürdige Herren“, begann er. „Ich weiß, dass es sich für mich nicht ziemt, in dieser Angelegenheit das Wort zu ergreifen. Umso dankbarer bin ich Euch, dass Ihr mich anhören wollt.“ Bei diesen Worten verneigte er sich vor den wesentlich älteren Mitgliedern der Wettkampfleitung. Dann fuhr er fort. „Hua Feng war unbeherrscht, das ist richtig. Wie ich hörte, ist er zuvor noch nie bezwungen worden und deshalb nicht gewohnt, zu unterliegen. Sicher war er genau wie ich voller Ehrgeiz, unsere Provinz bei dem großen Turnier vertreten zu dürfen. Er ist noch sehr jung und wird lernen, die Überlegenheit eines anderen anzuerkennen. Außerdem ist niemandem ein Schaden entstanden. Sicher, Hua Feng hat falsch gehandelt, doch er bereut seine Tat. Ich weiß nicht, ehrwürdige Herren, ob es viele Menschen gibt, die von sich behaupten können, immer richtig gehandelt zu haben. Ich jedenfalls kann es nicht.“ Wieder verneigte er sich, um das Ende seiner Rede zu bekunden. Dann schaute er seinem Meister fest in die Augen. Dessen kaum merkliches Lächeln bedeutete Li Ning, dass dieser wusste, worauf er anspielte, und dass er seine Worte billigte.
Ein leises Raunen ging durch die Reihen der Anwesenden.
Nachdem einige Augenblicke verstrichen waren, erhob sich Meister Fu, und es trat Ruhe ein.
„Li Ning“, sagte er. „Du bist nicht nur ein guter Kung Fu-Kämpfer, du hast auch ein großes Herz. Hua Feng hat einen Fehler begangen, der bei dir zu einer großen Verletzung hätte führen können. Durch dein schnelles und umsichtiges Handeln ist dir jedoch nichts geschehen. Wenn du nun selbst für ihn sprichst, haben wir wohl kein Recht, ihn zu verurteilen.“ Meister Fu nahm wieder Platz.
Damit schien die Angelegenheit abgetan, doch es meldete sich noch einmal Hua Fengs Meister zu Wort. Alle schauten ihn erwartungsvoll an. „Auch ich bin dir, Li Ning, und Euch, Meister Fu, sehr dankbar für eure Milde. Doch dadurch wird die Schande nicht von unserem Kloster genommen. Hua Feng kann dorthin nicht zurück.“
Eisiges Schweigen folgte. Li Ning sah in viele betroffene Gesichter.
Wieder war es Meister Fu, der Rat wusste. „Meister Shu,“ sagte er. „Wir alle durften heute die Kampfkunst und den Großmut Eurer jungen Mönche bewundern. Wer wäre wohl geeigneter, eine solche Aufgabe zu übernehmen als Ihr? Deshalb frage ich Euch: Seid Ihr bereit, Hua Feng in das Kloster von Shaolin aufzunehmen und ihn zu lehren, dass er Kampfstärke und Ehrgeiz mit Fährnis in Übereinstimmung bringen muss, will er einmal ein wirklich großer Kung Fu-Kämpfer werden?“
„So soll es sein“ war die kurze, das Problem endgültig beendende Antwort.
Vielen Anwesenden schien ein Stein vom Herzen zu fallen, denn Li Ning vernahm ein anerkennendes Murmeln. Er schaute seinen Meister dankbar an, dann richtete er seinen Blick auf Hua Feng. In dessen Augen konnte er deutlich lesen, dass er einen Freund gefunden hatte, der sich für ihn, sollte es nötig sein, in Stücke reißen lassen würde.
Man löste die kleine Versammlung auf und ging ins Freie, um die bereits von allen erwartete Ehrung des Siegers vorzunehmen.
Meister Fu wünschte Li Ning in aller Namen für die in wenigen Wochen in der benachbarten Provinz Jiangxi stattfindende Meisterschaft viel Erfolg. „Liebe Brüder“, sprach er weiter. „Wir haben am heutigen Tag viele schöne und spannende Kämpfe sehen können. Dafür möchte ich mich bei allen Teilnehmern, aber auch bei allen an der Vorbereitung ihrer Schüler beteiligten Meister recht herzlich bedanken.
Ihr alle wisst, dass auch der morgige Tag als Wettkampftag vorgesehen war. Da die heutigen Kämpfe jedoch weniger Zeit als erwartet in Anspruch genommen haben, möchten wir euch etwas völlig Neues vorschlagen: Die Wettkampfleitung hat sich entschlossen, morgen ein Turnier der Meister auszutragen. Selbstverständlich steht jedem Meister die Teilnahme frei. Alle interessierten Meister können sich im Anschluss bei der Wettkampfleitung anmelden“
Nach diesen Worten wendete sich Meister Fu um und ging langsam auf das Klostergebäude zu, die Zurückbleibenden in ihrer Überraschung allein lassend.
Die sonst so zurückhaltenden jungen Mönche brachen in Jubelrufe aus. Eine solche Möglichkeit, Kung Fu in Vollendung miterleben zu dürfen, war ihnen noch nie geboten worden!
Die anderen Mitglieder der Wettkampfleitung folgten nun Meister Fu, um die Meldungen entgegenzunehmen.
Keinem der anwesenden Meister kam es in den Sinn, seine Teilnahme zu verweigern, und alle begaben sich sogleich in den Melderaum.
Auch Meister Shu ging in den Raum, der noch vor wenigen Minuten ein Gerichtssaal gewesen war. Er hatte einen Entschluss gefasst, von dem er nicht sicher sein konnte, wie man ihn aufnehmen würde. Er wartete, bis alle Meister versammelt waren, dann bat er ums Wort. Meister Fu fragte nach seinem Anliegen.
„Ehrwürdige Meister“, begann er. „Ich bitte im Voraus um Vergebung für meinen ebenso ungewöhnlichen wie ernstgemeinten Vorschlag. Ich möchte Euch bitten, Bruder Ning die Teilnahme am morgigen Turnier der Meister zu gestatten.“
Er schaute sich um und sah, wie nicht anders zu erwarten, in ungläubige Gesichter. Doch unbeirrt fuhr er fort: „Ich weiß sehr wohl, wie mein Vorschlag auf Euch wirken muss, einem Schüler zu gestatten, sich im Wettkampf mit Meistern zu messen. Doch Bruder Ning ist kein gewöhnlicher Schüler. Ihr alle habt gesehen, wie er zu kämpfen versteht. Doch was Ihr nicht wissen könnt, ist folgendes: Bruder Ning beherrscht nicht nur unsere jahrhundertealte Kampfkunst in hoher Perfektion, er hat sie auch weiterentwickelt, ja sogar neue Techniken ersonnen und im Training erprobt. Er beherrscht also viel mehr, als er heute gezeigt hat.“
Meister Shu ließ seine Worte einige Zeit wirken, dann fuhr er fort: „Ihr alle kennt mich lange genug, und ich denke, dass Ihr mich als guten Kämpfer schätzt. Verzeiht mir, wenn ich Euch daran erinnere, dass sich niemand in diesem Raum befindet, der mich jemals zu bezwingen vermochte. Doch obwohl ich täglich mit Bruder Ning zusammen trainiere und alle seine neuen Techniken kenne, weiß ich, dass ich ihn nicht besiegen könnte.
In jungen Jahren habe ich an vielen Turnieren teilgenommen und seitdem meine Erfahrungen an viele Schüler weitergegeben. Und ich sage Euch, dass mir noch niemals ein so ungewöhnlich begabter Kämpfer begegnet ist. Ich bin fest davon überzeugt, dass es schon jetzt keinen Kung Fu-Kämpfer im gesamten Reich der Mitte gibt, der ihm gewachsen ist. Und dass, obwohl er erst dreiundzwanzig Jahre zählt und noch lange nicht den Zenit seiner Leistungsfähigkeit erreicht hat. Deshalb wiederhole ich meine Bitte: Lasst Bruder Ning am morgigen Turnier der Meister teilnehmen.“
Meister Shu war ein sehr geachteter Mann, der eher als zurückhaltend galt. Es konnte also kein Zweifel an der Ernsthaftigkeit seiner Bitte bestehen. Nun, ob man ihm Glauben schenkte oder an seinen Worten zweifelte, Meister Shu hatte in ihnen Neugier geweckt, als auch an ihrem Stolz gerührt. Sollte ein so junger Mann wirklich schon über derartige Fähigkeiten verfügen, dass er Meister besiegen konnte? Hong Shu jedenfalls musste fest davon überzeugt sein, sonst hätte er diesen Antrag niemals vorgebracht.
„Meister Shu, bitte bringt Bruder Ning zu uns“, bat Meister Fu.
Dieser tat wie ihm geheißen.
„Bruder Ning“, begann Meister Fu, als beide wieder den Raum betreten hatten. "Meister Shu ist des Lobes voll über dich und dein Können. Er ist davon überzeugt, du seist in der Lage, die hier anwesenden Meister zu besiegen und hat gebeten, dich am morgigen Turnier teilnehmen zu lassen, um dies zu beweisen.“
Li Ning war beschämt. Warum hatte der Meister nicht gesagt, warum man ihn sprechen wollte? Nun waren alle Blicke auf ihn gerichtet – freundliche, aber auch zweifelnde.
„Wir alle haben gesehen“, hörte er den alten Meister fortfahren, „dass du über ausgezeichnete Fähigkeiten verfügst. Doch müssen wir zweifeln, dass wir alle dir nicht gewachsen sein sollen. Meister Shu ist sich jedoch ganz sicher, dass du uns mit Hilfe von dir selbst erdachter Techniken überlegen bist. Ich schlage deshalb vor, dich an dem Turnier teilnehmen zu lassen, um uns zu überzeugen. Wende deine Techniken an, damit wir sehen, ob sie wirksam sind.“
Sicher waren nicht alle von diesen Worten begeistert, doch sprach sich auch niemand dagegen aus.
Da nun Li Nings Teilnahme beschlossene Sache war, führte Meister Shu Li Ning wieder hinaus.
„Bruder Ning“, sagte er. „Ich weiß, was ich von dir verlange, hätte ich vorher mit dir besprechen müssen. Doch da mir die Idee wie eine Eingebung kam, blieb mir dafür keine Zeit. Wie wichtig deine Techniken nach meiner Überzeugung für unser Kung Fu sind, habe ich dir bereits gesagt. Gibt es eine sicherere Möglichkeit, auch die anderen Meister dafür zu begeistern, als sie damit zu besiegen?“
Es war beschlossen, Li Ning hatte keine Wahl. Je länger er darüber nachdachte, desto mehr musste er dem Meister Recht geben. Er würde alles daransetzen, Meister Shu nicht zu enttäuschen.
Was wäre jedoch, wenn er nicht siegte? Er, und noch viel mehr der Meister, wären bis auf die Knochen blamiert! Hatte Meister Shu vielleicht mit seiner Bitte übereilt gehandelt? Aber egal, wie er bei dem Turnier auch abschneiden würde, er war entschlossen, an der Verbesserung seines Kampfstils weiterzuarbeiten. Er glaubte fest daran, dass er damit langfristig erfolgreich sein würde.
Doch was war nun eigentlich das Neue an seinem Kampfstil? Es war ganz einfach: Jeder Kung-Fu-Kämpfer war darauf bedacht, seinen Gegner in eine unterlegene Position zu zwingen. Eine der wichtigsten Möglichkeiten hierfür bestand darin, diesem das Gleichgewicht zu nehmen, um ihn zu Boden zu werfen. Keinem Kämpfer wäre es auch nur in den Sinn gekommen, freiwillig das eigene Gleichgewicht zu opfern oder sich gar in die Bodenlage zu begeben. Doch gerade darin lag Li Nings Geheimnis. Dadurch ergaben sich ganz neue Kampfsituationen, in denen auch viele neue Techniken zur Anwendung kommen konnten.
Lange dachte Li Ning an diesem Abend nach, und er verbrachte eine unruhige Nacht. Das morgige Ereignis war einfach zu wichtig.
Während der Eröffnung des Wettkampfes wurde die Teilnahme Li Nings bekannt gegeben. Besonders seine Freunde waren hellauf begeistert, und alle jungen Mönche - unter ihnen selbstverständlich auch Hua Feng – wünschten ihm viel Erfolg. Selbstverständlich gab es nicht wenige unter ihnen, die ein erfolgreiches Abschneiden Li Nings nicht ernsthaft für möglich hielten.
Der Zufall wollte es, dass Li Ning erst einen der letzten Kämpfe des ersten Durchgangs bestritt. So konnte er mit Befriedigung feststellen, dass Meister Shu seine Auseinandersetzung recht überlegen gewann. Dabei hatte er allerdings vermieden, etwas Neues anzuwenden. Dies wollte der Meister offensichtlich ihm überlassen.
Li Nings erster Gegner war fast doppelt so alt und deshalb viel erfahrener. Li Nings Vorteile lagen vielleicht in seiner überragenden Schnelligkeit, doch dies glich der Ältere zweifellos durch die Sicherheit in seinen Bewegungen aus. Es würde wahrscheinlich ein langer Kampf werden, und der Ausgang war völlig ungewiss. Li Ning war durchaus klar, dass seine Aussichten auf einen Sieg mit zunehmender Kampfzeit. schwanden. Und die Körpersprache seines Gegners ließ vermuten, dass auch dieser das wusste.
Li Ning hatte seinen Kontrahenten beobachtet und sich daraufhin eine seiner selbst erdachten Techniken in den Kopf gesetzt, mit der er zum Erfolg kommen wollte. Dazu musste er auf den richtigen Moment warten. Doch sein Gegner reagierte nicht wie von Li Ning vorausgesehen. Wider Erwarten hatte er einige Male die Möglichkeit, mit anderen Techniken den Kampf zu beenden, doch nutzte er sie nicht. Nun kam er plötzlich selbst öfter in Bedrängnis, aus der er sich nur mit größter Mühe befreien konnte.
Li Ning schaute zu seinem Meister. Dieser schüttelte verständnislos den Kopf. Er hatte kein Verständnis für den ungewohnten Eigensinn seines Lieblingsschülers.
Auch die anderen Meister hatten sich von Li Nings Kampfkünsten offensichtlich mehr versprochen. Meister Fu hingegen hatte eine undurchdringliche Miene aufgesetzt. Niemand sah ihm an, dass er Li Nings Teilnahme kein zweites Mal befürwortet hätte.
Li Ning wandte sich wieder seinem Gegner zu und war nun fest entschlossen, die nächste sich bietende Möglichkeit zu nutzen. Doch dann tat ihm der Ältere doch den nötigen Gefallen. Nach einigen Fauststößen, denen Li Ning auswich, schlug der Meister mit der Handkante von der Seite zu. Anstatt den Schlag mit den Armen abzufangen oder mit dem Oberkörper darunter wegzutauchen, blieb Li Ning aufrecht und spreizte seine Beine so weit, dass er auf dem Boden zu sitzen kam. Die gegnerische Hand fuhr über seinen Kopf hinweg, und bevor der Meister seinen Arm zurückziehen konnte, traf ihn ein angedeuteter Fauststoß Li Nings unter dem ungedeckten Brustbein. Dieser Stoß, mit aller Kraft ausgeführt, hätte den Gegner getötet.
Li Ning schaute in die Augen des besiegten Meisters. Dieser konnte nicht fassen, dass der junge Mönch ihn bezwungen hatte, obwohl, oder gerade weil dieser vor ihm saß.
Als Meister Fu Li Ning zum Sieger erklärte, blieb der Beifall zunächst aus. Vielleicht hielten die Zuschauer es für einen Zufall, oder glaubten, er sei ausgerutscht. Erst als die vier jungen Mönche aus dem Kloster von Shaolin zu jubeln begannen, und auch Meister Shu Beifall spendete, stimmten die anderen ein.
In der folgenden Kampfpause suchte Meister Shu Li Nings Nähe. Dieser schämte sich – trotz des Sieges. Durch seinen Starrsinn hätte er beinahe eine unnötige Niederlage erlitten. Er versprach, einen solch dummen Fehler nicht noch einmal zu begehen.
Sein nächster Gegner war etwa zehn Jahre älter als er, also für einen Meister noch recht jung. Trotz seiner Fehler im vorherigen Kampf hatte der letztendliche Sieg doch sein Selbstvertrauen gestärkt. Er bewegte sich nun so ungezwungen, als sei er beim Training im heimischen Kloster. Bereits nach wenigen Minuten bot, sich eine Gelegenheit, den Kampf zu beenden. Diese nutzte Li Ning konsequent aus. Als der junge Meister einen Fauststoß in Richtung Li Nings Kopfes führte und sich dabei ein wenig zu weit vorbeugte, unterlief ihn Li Ning blitzschnell. Gleichzeitig erfasste er die Arme seines Gegners und zog diesen nach vorn. Auf den Rücken gleitend setzte er seinen Fuß am Unterleib des jungen Meisters an, und indem er nun sein Bein streckte, führte er die Vorwärtsbewegung seines Gegners weiter. In hohem Bogen flog er über Li Ning hinweg und landete auf dem Rücken. Mit einer schnellen Rolle rückwärts kam Li Ning auf der Brust seines überraschten Gegners zu sitzen. Die Andeutung eines Fauststoßes zum Kopf beendete den Kampf.
Wieder hatte er gesiegt! Die Stimmung, besonders unter den jungen Mönchen, schwoll an. Doch auch die Meister sparten nun nicht mehr mit lobenden Worten.
In Ruhe konnte Li Ning nun den nächsten Kampf seines Meisters beobachten. Er freute sich, mit ansehen zu können, welch überragender Kämpfer Meister Shu war. Auch er benötigte nicht mehr Zeit als zuvor Li Ning, um einen entscheidenden Stoß auszuführen. Mit diesem Sieg hatte Meister Shu den Endkampf erreicht.
Der nächste Kämpf Li Nings würde darüber entscheiden, ob auch ihm dies gelang.
Meister Fong hatte Li Ning sehr gut beobachtet und war fest entschlossen, sich nicht von dem jungen Kämpfer überraschen zu lassen. Er griff sofort nach der Begrüßung mit einem Fußstoß zum Oberkörper Li Nings an. Dieser fing den Angriff ab, doch hatte er offensichtlich die Wucht des Angriffs unterschätzt. Er machte einige Schritte rückwärts, um sein Gleichgewicht zurückzugewinnen. Meister Fong setzte sofort nach, um den Kampf mit einem gesprungenen Fußstoß zu beenden. Doch genau das hatte Li Ning vorausgesehen. Wieder glitt er auf den Rücken und traf den über ihn hinweg fliegenden Meister seinerseits mit einem Fußstoß am Rücken. Im Ernstfall wäre die Wirbelsäule des Getroffenen gebrochen.
Nun konnten die Zuschauer nicht mehr an sich halten; alle jubelten Li Ning zu. Kaum jemand konnte wirklich verstehen, was dort geschah, es war einfach nicht zu fassen! Da besiegte ein junger Mönch reihenweise Meister, indem er die wichtigsten Grundregeln einer jeden Kung-Fu-Ausbildung missachtete!
Meister Shu ging auf Li Ning zu, und sie gaben sich die Hände. Der Triumph war vollkommen; beide waren von niemandem bezwungen worden und würden miteinander den Endkampf bestreiten. Und Li Ning hatte auf beeindruckende Weise die Überlegenheit des neuen Kampfstils bewiesen. Darüber war dieser sehr glücklich. Andererseits gefiel ihm der Gedanke, gegen seinen Meister kämpfen zu müssen, keinesfalls. Schließlich konnte es nur einen Sieger geben. Dies aber bedeutete auch, dass zwangsläufig einer der Unterlegene sein musste.
Sie wurden zum Endkampf gerufen. Wohl keiner der im Kloster anwesenden Männer fehlte. Würde der junge Mönch wirklich das Kunststück fertig bringen, auch den besten Meister zu bezwingen? Meister Shu hatte bereits geäußert, er fühle sich nicht in der Lage, Li Ning zu besiegen. Doch dies war vor dem Kampf gewesen. Nun würde er seinen ganzen Ehrgeiz daransetzen müssen, nicht zu unterliegen.
Die Spannung erreichte ihren Höhepunkt.
Meister und Lieblingsschüler standen einander gegenüber und verbeugten sich. Dann nahmen sie die Kampfstellung ein.
Li Ning konnte deutlich in den Augen seines Meisters lesen, dass auch ihm diese Situation aufs Äußerste missfiel. Beide begannen mit spielerischen Scheinangriffen und entsprechenden Abwehrbewegungen, wie sie es Tausende Male im Training miteinander geübt hatten.
Wieder standen sie sich gegenüber und schauten einander an. Plötzlich hatte Li Ning eine Idee!
Nach den nächsten Angriffen seines Meisters wusste er, dass dieser den gleichen Gedanken hatte. Natürlich konnten sie die Reaktion der Zuschauer und der Wettkampfleitung nicht voraussehen, doch dieses Risiko mussten sie eingehen. Sie vollführten nun einen Schaukampf, bei dem sie bekannte und neue Angriffsaktionen und entsprechende Abwehrbewegungen perfekt miteinander verbanden. Die Bewunderung der Zuschauer wurde größer und größer, Jubelrufe und Rufe des Erstaunens wechselten einander ab. Alle hatten längst bemerkt, dass die beiden nicht beabsichtigten, einander zu besiegen. So verging Minute um Minute.
Als sich beide wiederum gegenüberstanden, erhob sich Meister Fu und hob eine Hand. Damit war der Kampf unterbrochen.
Mit lauter Stimme sagte er: “Meister Shu, Bruder Ning, ich glaube im Namen aller zu sprechen, wenn ich sage, dass wir gerade das überragendste Kung Fu unseres Lebens gesehen haben. Ihr beide seid hervorragende Kämpfer, und es ist unwichtig, wer von euch am Ende den Sieg davongetragen hätte.“
Er richtete den Blick auf Meister Shu. „Wie wir alle sehen konnten, habt Ihr nicht übertrieben, was Bruder Nings Kampfkunst anbelangt.“ Er lächelte vielsagend. „Doch habt Ihr uns verschwiegen, dass auch Ihr die für uns neue Kampfesweise bereits perfekt beherrscht.“
Er ließ seinen Blick über alle Anwesenden hinwegschweifen, bevor er fortfuhr: „Was wir heute gesehen haben, darf nicht einigen wenigen Mönchen vorbehalten bleiben. Es gibt wohl niemanden unter uns, der nicht in dem neuen Kampstil unterwiesen werden möchte, auch wenn nicht viele von uns in der Anwendung jemals so perfekt sein werden wie Meister Shu und unser Bruder Ning - der längst kein Schüler mehr ist. Ich schlage vor, alle Meister des Kung Fu zusammenzurufen, um zu beraten, was zu tun ist. Deshalb frage ich Euch, Meister Shu und Euch, Meister Ning: Seid Ihr bereit, unsere Lehrer zu sein?“
Ein neuer Begeisterungssturm zeigte, dass Meister Fu die richtigen Worte gewählt hatte.
Überglücklich schaute Li Ning seinen Meister an. Als Teilnehmer eines Turniers war er gekommen, hatte sowohl alle Schüler als auch Meister besiegt und war nun selbst zum Meister ernannt worden. Er sollte andere Meister seine Kampfkunst lehren. Nichts auf der Welt hätte ihn glücklicher machen können!
Auch Meister Shu stand der Stolz ins Gesicht geschrieben. Nachdem sich beide wieder etwas gefasst hatten, antwortete er in beider Namen: “Wenn Ihr es wünscht, gern.“