Читать книгу Der Shaolin - Karl-Heinz Jonas - Страница 7
Kapitel 4
ОглавлениеLi Ning trainierte wie ein Besessener. Es war für ihn die einzige Möglichkeit zu vergessen. Und er musste vergessen, wollte er nicht schwachsinnig werden! Die damit verbundenen körperlichen Qualen empfand er
als gerechte Strafe für seine Sünde. Jede freie Minute nutzte er zum zusätzlichen Training. All seine Energie, jeden Gedanken konzentrierte er von nun an auf das Kung Fu. So konnte er seinem Meister seine Dankbarkeit am besten beweisen; und er wollte Jiao vergessen!
Sein Körper passte sich der übermenschlichen Belastung an, und bald gab es keine Technik mehr, egal ob mit oder ohne Waffe, die er nicht nahezu perfekt beherrschte. Doch nicht nur das. Er begann, über die seit Generationen unverändert überlieferten Techniken nachzudenken, sie abzuwandeln, zu verbessern, ja neue Techniken zu entwickeln.
So vergingen viele Monate.
Meister Shu verfolgte Li Nings Tun zuerst mit einiger Skepsis. Auch er hatte sich sein Leben lang mit dem Kung Fu beschäftigt. Alle Techniken beherrschte er präzise, und er war auch in der Lage, sie im Kampf schnell und wirksam einzusetzen. Und er war der Meister des legendären Klosters von Shaolin! Aber er wäre nie auf den Gedanken gekommen, die traditionellen Techniken zu verändern!
Je länger er Li Ning beobachtete, desto überzeugter war er, dass in seinem Schüler ein junger Mönch heranwuchs, der in der Lage war, die, wie er bisher geglaubt hatte, perfekte Kampfkunst des Klosters von Shaolin entscheidend weiterzuentwickeln. Dieser Gedanke faszinierte ihn, und er war entschlossen, Li Ning zu unterstützen, so gut er konnte.
„Bruder Ning“, sagte er eines Tages. „Ich sehe, du planst große Dinge. Ich würde mich freuen, wenn ich dir bei deinem Vorhaben behilflich sein könnte. Du hast sehr gute Ideen, viel Fantasie, doch ich habe mehr Erfahrung.“
Li Ning hatte natürlich bemerkt, dass der Meister ihn in jüngster Zeit intensiver als sonst beobachtete. Er hatte schon befürchtet, dieser könne sein Vorhaben für lächerlich halten, es ihm vielleicht sogar untersagen. Doch nun erwies sich diese Befürchtung als grundlos. Im Gegenteil, der Meister bot ihm sogar seine Unterstützung an! Li Ning war begeistert.
Von nun an verbrachten Meister und Schüler noch viel mehr Zeit miteinander, und beide gingen in ihrer Tätigkeit völlig auf. Nur noch selten dachte Li Ning an die schöne Jiao, Sie ganz zu vergessen, gelang ihm jedoch nicht.
„Sun Ling, wir müssen mit dir reden“, sagte Jiaos Mutter.
„Ihr müsst mit mir reden? Beide?“ Der Vater saß da und konnte seine Verblüffung nicht verbergen. Noch nie war es geschehen, dass Mutter und Tochter etwas gemeinsam mit ihm zu bereden hatten. Er schaute die beiden Frauen an und erschrak über den Ausdruck in ihren Augen. Nur einmal hatte er sie so verängstigt gesehen. Er hatte geglaubt, das sei vergessen. Hatte die Vergangenheit sie nun doch eingeholt? Hatte dieser EK Chen seine Tochter gefunden? Wurde sie bedroht? Nur mit Mühe hatte er sich unter Kontrolle.
„Redet schon“, sagte er. „Hat der Schuft Jiao gesehen?“
„Ja, es geht um Jiao, doch mit Ek Chen hat es nichts zu tun. Es ist viel schlimmer.“ Frau Ling rang nach Worten.
Sun Ling wollte seinen Ohren nicht trauen. Schlimmer als Ek Chen? „Sprich weiter, Frau!“
Doch Frau Ling war nicht in der Lage zu antworten. Verzweifelt schlug sie die Hände vor das Gesicht und schluchzte.
Sun Lings Blick wanderte zwischen Frau und Tochter hin und her.
„Vater“, brach Jiao das unerträglich gewordene Schweigen. „Ich bekomme ein Kind.“
Jiaos Worte hatten eine vernichtende Wirkung auf den armen Mann. Er sackte in sich zusammen und schaute ungläubig drein. Wie sollte das geschehen sein? Und wann? Wer sollte seine Tochter geschändet haben, wer brachte so etwas fertig, wenn es nicht dieser Ek Chen war?
„Nicht Ek Chen?“
„Nein, nicht Ek Chen.“
Sun Ling spürte, wie der Zorn in ihm emporstieg. Mit Mühe richtete er sich wieder auf. „Er muss sterben“, sagte er. „Wer immer es ist, dafür wird er sterben. Eine solche Schande! Wer war es, redet endlich. Wer ist dieser Schuft?“
Am ganzen Leib bebend erzählte Jiao ihm, wie sich alles zugetragen hatte.
Er war umzingelt. Jeder von ihnen hatte eine Waffe in der Hand, mit der sie auf ihn einschlugen. Dabei schrien sie alle wild durcheinander. Die Worte drangen zwar an seine Ohren, doch deren Bedeutung verstand er nicht. Ein dumpfes Dröhnen war in seinem Kopf, körperliche Schmerzen verspürte er kaum. Am meisten schmerzte Sun Ling, dass er all diese Männer gut kannte. Sie waren einmal seine Freunde gewesen! Er wollte sich wehren, doch seine Arme und Beine gehorchten ihm nicht. Langsam sackte er auf den Boden und blieb reglos liegen. Er schaute in die wutverzerrten Gesichter der Männer, die noch immer auf ihn einschlugen.
Das Dröhnen in seinem Kopf wurde immer stärker; die Schläge nahm er nur noch aus weiter Ferne wahr, als gehörte dieser furchtbar gepeinigte Körper gar nicht zu ihm. Dann spürte er, wie er an Händen und Füßen gepackt und über den Rand eines tiefen Abgrunds geworfen wurde. Und plötzlich verstand er die Worte, die die Männer noch immer schrien. „Schande über dich und deine Hurentochter!“ „ Schande über euch!“ „Schande!“ „Schande!“
Er fiel und fiel, und mit zunehmender Geschwindigkeit verstärkte sich das unerträgliche Dröhnen in seinem Schädel. Die Schreie der Männer wurden durch das Echo vervielfacht: „Schande! Schande!“
Nahm denn diese Schlucht gar kein Ende? Wann würde ihn der Aufprall endlich von seinen Qualen erlösen?
Es war jedoch nicht der Aufprall, sondern die vertraute Stimme der über alles geliebten Tochter, die ihn aus seinen furchtbaren Gedanken in die Wirklichkeit zurückholte – in eine Wirklichkeit, die wohl nicht schlimmer sein konnte.
Alles Blut war aus seinem Gesicht gewichen, die Augen waren ausdruckslos. „Meine Tochter geschändet, geschwängert. Geschwängert von einem Mönch. Und du liebst ihn trotzdem?“ Er sah Jiao fassungslos an.
„Ja, Vater, ich liebe ihn.“
„Weiß er, dass er Vater wird?“
„Nein, Vater.“
Vater! Dieses Wort war es, das ihn sich an Jiaos Geburt erinnern ließ. Wie er das erste Mal sein Kind in den Armen hielt, sein eigen Fleisch und Blut! Er erinnerte sich an das unbeschreibliche Gefühl, das er empfunden hatte, als ihn die Augen der Tochter anstrahlten, die kleinen Händchen nach ihm griffen, und er spürte, dass ihm dieses kleine Wesen alle Liebe schenkte, die in seinem winzigen Herzen wohnte. Als ihm klar wurde, dass ihm dieses kleine Geschöpf viel mehr bedeutete als selbst das eigene Leben. Wie er gelitten hatte, wenn Jiao erkrankt war, wie er des Nachts kein Auge schließen konnte, aus Angst um das Leben seines Kindes. Und wie schnell die Qualen vergessen waren, wenn er Jiao außer Gefahr wusste.
Wäre es nicht die größte Strafe für einen Vater, all das niemals empfinden zu dürfen? Jawohl, diese Strafe war gerecht. Dieser Li Ning hatte kein Recht auf sein Kind!
„Er weiß es nicht“, flüsterte er mit kraftloser Stimme. „Das ist gut. Und er soll auch nicht erfahren. Niemals!“
Mühsam erhob er sich. Mit gebeugtem Rücken und gesenktem Kopf, als sei er in den letzten Minuten um Jahre gealtert, ging er zur Tür. Immer wieder schüttelte er den Kopf und wiederholte dabei die Worte: „Niemals sollst du es erfahren, du Schuft. Niemals.“
Mutter und Tochter sahen einander ebenso traurig wie hilflos an.