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3.

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Erschrocken wich Nelli zurück. Von draußen wurde am Fensterladen gerüttelt.

Die Fensterläden!, dachte sie und rannte los.

Üblicherweise wurden die Läden zur Nacht geschlossen und von innen verriegelt. So hatte es Nelli auch heute gehalten. Aber konnte sie völlig sicher sein, kein einziges Fenster vergessen zu haben? In Todesangst hastete sie von Zimmer zu Zimmer, riss die Türen auf, eilte zum Fenster, tastete im Halbdunkel nach der Verriegelung und rannte dann ins nächste Zimmer. Zwischendurch hörte sie immer wieder einzelne Wortfetzen von Adalbrand, die sich erst nach und nach zu ganzen Sätzen vereinigten. »Sei nicht albern, Nelli! Es war doch nur ein Streich. Ein geschmackloser, zugegeben, aber nur ein Streich. Sei nicht mehr böse, mach auf!«

Lügen, Lügen, Lügen!

Nur einmal sagte Adalbrand etwas anderes, nämlich bei dem Fenster, das Nelli tatsächlich übersehen hatte. Denn während sie die rasch geschlossenen Läden sicherte, vernahm sie ein nicht mehr ganz so sanftes »Mist!«.

Erst zum Schluss gelangte Nelli wieder in die Küche. »Sie sind zurück!«, rief sie zu den Kobolden. Doch die schien die Nachricht nicht zu kümmern. Sie standen immer noch auf den Stühlen am mittlerweile völlig mit Milch und Kuchenkrümeln vollgekleckerten Tisch, schwangen ihre Becher, schubsten und stupsten sich gegenseitig und gaben merkwürdige, glucksende Töne von sich. Von ihnen war offensichtlich keine Hilfe zu erwarten.

Seit Adalbrands Rückkehr hatte Nelli nicht einen besorgten Gedanken an die Küchenfenster verschwendet, da sie sich genau erinnerte, wie sie deren Läden verriegelt hatte. Während sie die Kobolde betrachtete und nach einem Weg suchte, ihre Aufmerksamkeit zu erlangen, erinnerten sie die vielen kleinen Pfützen auf dem Tisch an eine immer noch unbeantwortete Frage. Woher stammte die Milch? Aus dem Krug oder von draußen?

Sie rannte zur Tür und berührte ihren Knauf im selben Moment, als er auch von außen berührt wurde. Ein banger Augenblick verstrich, dann konnte Nelli aufatmen: Die Tür war verschlossen!

»Ich bin nicht allein«, sagte sie laut.

»Wer ist denn bei dir?«, fragte Adalbrand. »Hol ihn her, ich möchte mit ihm reden.«

»Sie schütteln den Kopf, aber du kannst sie ja hören«, behauptete Nelli und blickte zu den Kobolden. Doch die gaben momentan überhaupt kein Geräusch von sich und wirkten völlig in ihre Gedanken vertieft. Nelli zischte: »Macht Lärm!« Aber keiner der vier dachte daran.

»Ich glaube, du beschwindelst mich, Schatzi, und bist in Wirklichkeit ganz allein«, antwortete Adalbrand erheitert. »Nun mach schon auf. Es war ein dummer Scherz, der mir jetzt aufrichtig leidtut. So ist es doch, Kinnwolf? Sag, dass er mir leidtut.«

»Er tut ihm leid«, bestätigte Kinnwolf völlig gelangweilt.

»Auch Kinnwolf tut es leid«, knurrte Adalbrand gereizt.

Nelli hörte ihn ausspucken und brummen: »So ist es. Genau so.«

Lautes, aber unverständliches Zischen bewies, dass Adalbrand mit der lügnerischen Leistung seines Bruders nicht ganz zufrieden war. Beide gingen von der Tür weg, ohne sich jedoch vom Haus zu entfernen. Nelli eilte ins benachbarte Zimmer, spähte durch die Läden und folgte den Brüdern so lange im Innern des Hauses von Zimmer zu Zimmer, bis sie endlich stehen blieben.

»Bärendienst«, hörte sie ihren Gatten sagen.

»So bin ich eben, wenn ich hungrig bin«, verteidigte sich Kinnwolf. »Das weißt du doch! Ihr Mittagessen war wieder einmal unter aller Sau. Was die sich jeden Tag erlaubt, das geht auf keine Kuhhaut! Davon soll ein erwachsener Mann satt werden? Jetzt hängt mir der Magen wieder bis zum großen Zeh. Weißt du, das wird mir alles zu albern. Ich hole jetzt die Axt, dann schlagen wir die Tür ein. Fertig, aus, gut!« Er ging zum Stall.

»Kinnwolf!«, rief ihm sein Bruder ungeduldig und vergeblich hinterher.

Kurz darauf trat Kinnwolf wieder aus dem Stall. In der Hand trug er die Axt. Die Kuh folgte ihm auf den Fersen. Offenbar hatte sie sich befreit.

Während Nelli fieberhaft nach einem Ausweg suchte und erwog, durch eines der Fenster auf der abgewandten Hausseite zu fliehen, solange noch Zeit dafür war, sah sie, wie die Kuh sich zutraulich an Kinnwolf rieb. Er stieß sie weg. Die Kuh gab ein beleidigtes Muhen von sich, ließ sich von der Unfreundlichkeit aber nicht abschrecken, sondern strich abermals an Kinnwolf entlang, dieses Mal so ungestüm, dass er stolperte und ein paar Schritte lang um sein Gleichgewicht kämpfen musste.

»Blödes Vieh!«, rief er und schlug ihr die Faust in die Seite. Erneut muhte die Kuh empört – und schubste so kräftig zurück, dass Kinnwolf stürzte. Ungeachtet seines Schimpfens trampelte sie über den Gestrauchelten und ließ sich auf ihm nieder. Umgehend verwandelten sich seine Wutschreie in gedämpfte Schmerzensschreie und Hilferufe.

Nelli war nicht weniger fassungslos als Adalbrand, der zu der Kuh rannte und sie so lange trat, bis sie sich unwillig erhob. Kinnwolfs Schreie klangen danach nicht weniger laut, sondern nur weniger dumpf. Anscheinend hatte ihm das Tier mehrere Knochen gebrochen.

Und das sollte noch nicht das Ende sein.

Während Adalbrand sich um seinen verletzten Bruder kümmerte, trottete die Kuh ein paar Schritte weg, wendete, senkte den Kopf und scharrte mit einem ihrer Vorderhufe herausfordernd den Boden.

Was ist das für eine Kuh?, dachte Nelli. Dann begriff sie endlich und murmelte: »Was ist das für eine Kuh, die überhaupt keine Kuh ist?«

Von wegen umgestoßene Eimer! Von wegen lästige Schläge mit dem Schwanz! Solch harmlosen Schabernack trieben Wechselbälger offenbar nur, wenn sie einen sehr, sehr guten Tag hatten. Die Kuh hatte keinen. Mit zornigem Brüllen griff sie an.

Adalbrand handelte bemerkenswert schnell. Er ließ seinen Bruder Bruder sein und rannte davon. Doch damit wurde er seine Verfolgerin nicht los. Eine Zeit lang scheuchte sie ihn zwischen Haus und Stall vor sich her. Als sie ihn schließlich schon fast auf den Hörnern hatte, besann sich Adalbrand auf die Überlegenheit des menschlichen Geistes und sprang im letzten Augenblick zur Seite. Wie erwartet schoss die kämpferische Kuh an ihm vorbei. Nicht ganz wie erwartet, schlug sie mit den Hinterbeinen aus. Nun stand auch Adalbrand nicht mehr. Die Kuh kehrte dorthin zurück, wo er liegen musste, trampelte eine Weile auf der Stelle und erleichterte sich dann in einem anhaltenden breiten Strahl. Er war so laut, dass Nelli unwillkürlich an einen Gebirgsbach nach mehreren Wochen herbstlichen Dauerregens denken musste.

Nun wusste sie, dass sie sich beruhigt schlafen legen konnte. Draußen war es viel zu gefährlich, als dass nochmals jemand es wagen würde, in das Haus einzubrechen.

Nelli erwachte mit dem ersten Sonnenstrahl, jäh herausgerissen aus einem aufschlussreichen, doch leider unvollendeten Traum, der ihr die Antwort auf all ihre Sorgen dieses und auch der kommenden sieben Jahre verkündet hatte. Zum Glück war er bei seinem abrupten Ende schon weit genug fortgeschritten, sodass sie wenigstens wusste, was sie die nächsten Augenblicke unternehmen sollte. Mit wehendem Nachtkleid eilte sie in die Küche. Sie blitzte vor Sauberkeit, da die Kobolde sie gründlich geputzt hatten. Danach hatten sie es offenbar für dringend erforderlich gehalten, den Tisch und die Stühle auseinanderzunehmen. Nun standen sie zwischen den auf dem Boden aufgereihten Einzelteilen und besprachen sich. Ein Wort, das immer wieder dabei fiel, lautete »Extras«. Manchmal in der Verbindung »nützliche Extras«, ein andermal als »notwendige Extras« und gelegentlich auch als »spaßige Extras«. Gerade nach Letzterem pflegten die Koboldgesichter ganz runzelig zu werden, und verstohlenes Lachen erklang.

Nelli kümmerte sich nicht um sie, sondern griff nach einem Messer. Denn so hatte es sie der unvollständige Traum geheißen: Öffne das verbotene Zimmer! Bestimmt haben die Brüder darin den Besitz deiner weniger glücklichen Vorgängerinnen verborgen!

Nelli strich mit dem Finger über die Klinge und hatte plötzlich einen neuen Einfall. »Ihr könnt doch sicher Türen öffnen?«

Brams erwiderte ihre Frage mit einem erwartungsvollen Blick.

»Ich kann euch jetzt nicht bezahlen«, erklärte Nelli. »Doch sollten wir uns je wieder treffen, so gelobe ich, für jeden von euch einen eigenen Kuchen zu backen!«

Ihr Vorschlag fand Gefallen. Nelli erkannte das daran, dass sie umgehend zur nächsten Tür geschoben und gezogen wurde. »Die andere«, sagte sie laut. »Es ist die andere Tür.«

Nun stand Nelli wieder in dem Flur mit der verbotenen Tür, an dessen Ende es zu Kinnwolfs Kammer ging. Der Anblick war ihr unheimlich, auch wenn sie wusste, dass er nicht darin war, nicht darin sein konnte. Niemand, dem die falsche Kuh der Kobolde so übel mitgespielt hatte wie ihm und seinem Bruder, wäre leichtfertig genug, sich so bald wieder herzuwagen.

Stumm deutete sie auf die Tür, um die es ihr ging. Der Kobold Pürzel sollte sie öffnen. Unter seinem Kapuzenmantel holte er mehrere Werkzeuge hervor und breitete sie vor sich aus. Plötzlich sagte irgendjemand ganz empört: »Man kann vielleicht vorher fragen. Ist das denn zu viel verlangt?«

Pürzel verharrte. »Oh, eine Tür!«, rief er verwundert.

»Oh, ein ganz Schlauer!«, äffte ihn die empörte Stimme nach. Brams trat zu Pürzel und sprach: »Was machst du hier?«

Nelli musste lachen: Eine Tür öffnen wollen und sich dann wundern, dass die Tür eine Tür war, das war ja gar zu ... gar zu ... eigentlich gar nicht lustig.

Nun gesellten sich auch die anderen beiden Kobolde hinzu. Alle vier tuschelten und flüsterten. Nelli verstand zwar nicht den Grund, wohl aber den Hinweis und trat als Zeichen guten Willens ein paar Schritte zurück.

Wie seltsam, dachte sie. Noch vor einem Tag hatte sie Kobolde nur aus Fabeln gekannt. Sie hatte gehört, dass sie hilfreich, aber auch launisch und boshaft sein konnten. Nur einen Tag später war sie gewohnt, Geschäfte mit ihnen einzugehen, und überzeugt, dass das Schlechte, was man über sie sagte, gar nicht stimmte. Doch vielleicht – und hierbei rührte sich leichtes Unbehagen – dachten auch diejenigen so, die mit den verderbten Geschöpfen des Schinderschlundes paktierten. Sie sahen den Nutzen, den Vorteil, aber nicht das lauernde Böse. Womöglich war alles nur eine Frage zunehmender Gewöhnung.

Diese grauen Gedanken verschwanden fast gänzlich, als sich plötzlich die Tür öffnete. Pürzel verstaute wieder sein Werkzeug, von dem Nelli hätte schwören können, dass er es überhaupt nicht benutzt hatte. Doch maß sie diesem Umstand keine weitere Bedeutung bei. Sie betrat das muffig riechende Zimmer und öffnete die Fensterläden, damit Licht hereinkam. Weder der Boden noch die Decke dieser Kammer wiesen Schäden auf. Doch das hatte Nelli längst geahnt. Stattdessen entdeckte sie Berge aufgeschichteter Frauenkleidung und Regale, in denen Gläser mit milchigen Flüssigkeiten standen. Undeutliche Schemen verrieten, dass sie noch anderes enthielten, wovon Nelli lieber nichts wissen wollte. Das war zwar nicht genau das, was ihr Traum versprochen hatte, nämlich Adalbrands und Kinnwolfs wohlsortierte Schatzkammer, kam ihm aber sehr nahe. Nelli durchstöberte die Kleiderbündel und fand bald, was sie erhofft hatte: Gürtelschnallen, Broschen, Medaillons, Kettchen. Keines der Stücke war für sich allein sonderlich wertvoll, doch alle zusammen würden ihren Verlust mehr als nur ersetzen. Während sie nach diesen bescheidenen Reichtümern suchte, hielt Nelli die eine Hand wie eine Scheuklappe ans Gesicht, da sie nicht versehentlich einen Blick auf das erhaschen wollte, was die Gläser womöglich enthielten. Das bewahrte sie jedoch nicht davor, die Meinung der Kobolde mit anhören zu müssen. Voller Unbehagen riefen sie: »Ganz schlechter Streich! Ganz, ganz schlechter Streich! Ganz, ganz, ganz schlechter Streich!« Je länger es dauerte, desto erregter klangen sie, sodass ihre »schlechten Streiche« schließlich von stattlichen Ganzherden angeführt wurden. Das war nicht leicht zu ertragen. Nelli wollte deswegen schon ihre Suche nach Gegenständen von Wert beenden, als ihre Finger auf etwas Hartes stießen. Ihre Hände legten eine Schatulle frei. Nach den geschnitzten, ineinander verwobenen Mustern zu urteilen, stammte sie keinesfalls aus der Gegend, sondern wahrscheinlich aus einem fernen Land.

Nelli versuchte sie zu öffnen, fand aber keinen Verschluss. Sie drehte die Schatulle zwischen den Händen und hob sie auf Augenhöhe hoch, um sie eingehend von allen Seiten zu betrachten. Schließlich gab sie auf und wandte sich zu den Kobolden, um sie zu bitten, das Kästchen zu öffnen. Doch plötzlich sprang es ganz von alleine auf, und ein hellgrüner Qualm drang heraus. Vor Schreck ließ Nelli es fallen. Gebannt sah sie zu, wie die Qualmwolke die Form eines durchscheinenden Wesens mit spitzer Schnauze, großen Ohren und Stummelflügeln auf dem Rücken annahm.

Plötzlich schossen ihr die eigenartigsten Gedanken durch den Kopf, die überhaupt keinen Sinn für sie ergaben und die sie dennoch aussprechen musste: »Vielleicht haben die Unterdessenmieter meinen Kuchen doch noch nicht gefunden! Ich verstecke ihn ja immer in dem blauen Schrank ganz oben. Wenn wir uns beeilen, sind wir vielleicht gerade rechtzeitig zu Hause, um das Schlimmste zu verhindern. Andererseits meint Brams, dass rechtzeitig viel zu spät sei. Aber was nützt es, früher aufzubrechen, um rechtzeitig da zu sein, wenn auch das schon zu spät ist? O weh! Nach allen unseren Missionen sollten mir solche Fehler nicht unterlaufen. Immerhin hat sie uns einen Kuchen gebacken und schuldet jedem noch einen weiteren ...«

Nelli schüttelte sich. Seit wann verstand sie ihre eigenen Gedanken nicht mehr?

Ihr fiel auf, dass die vier Kobolde ebenfalls murmelten. Krümelines leise Worte vernahm sie am besten: »Er ist ein stattlicher Mann und macht auch einen sehr netten Eindruck. Zudem bewirtschaftet er einen eigenen Hof mit seinem Bruder zusammen. Etwas einsam gelegen vielleicht, aber das stört mich nicht. Eine große Auswahl habe ich in meinem Alter sowieso nicht mehr. Ich hätte gleich ja sagen sollen, bevor mir noch eine andere zuvorkommt ...«

Nelli errötete, denn was Krümeline sprach, war ihr nur zu bekannt. Am liebsten wäre sie im Boden versunken.

Auch das seltsame Wesen schien nicht unempfänglich für diesen Zauber zu sein. »Ich habe nicht viele Geheimnisse«, sprach es, »doch dieses eine muss gewahrt werden, selbst wenn er nur gelogen haben sollte. Der schlechteste Streich, den man sich denken kann, wäre es, wenn alle erfahren müssten, dass unser Guter König ... nein, ich darf seinen Namen nicht einmal denken ... überhaupt nicht nett ist, sondern bösartig und griesgrämig. Hoffentlich bleibt er noch lange mit seinen Fischen und Fledermäusen in dieser Höhle eingeschlossen, gleich bei dem kleinen See, der gar nicht so tief ist, wie man meinen könnte ...«

Ein schepperndes Lachen erklang. Das Wesen beendete sein Murmeln und rief triumphierend: »Na, das ist doch etwas! Euch werde ich lehren!« Schon löste es sich wieder in Dunst auf und verschwand. Die Kobolde hörten augenblicklich auf zu murmeln.

»Wir gehen jetzt!«, verkündete Brams. Keiner widersprach, schon gar nicht Nelli. Die Kobolde holten ihre erbeutete Kuh hinter dem Haus ab, und obwohl alle mit anfassten, kam es Nelli so vor, als trüge der Kobold Rempel Stilz die Hauptlast. Nun ging es auf geradem Weg in den Wald. Nelli sah sich immer wieder vorsichtig um, denn irgendwo mussten sich ja auch Adalbrand und Kinnwolf versteckt haben.

Nach kurzer Zeit kamen sie und ihre Kobolde an einer Tür vorbei. Sie lehnte mitten im Wald an einem Baum, war aber nicht so leicht zu entdecken, wenn man nicht um sie wusste. »Wir haben einiges miteinander zu besprechen«, sagte Brams eindringlich. »Aber später, sehr viel später!«

Mit wem er eigentlich sprach, war für Nelli nicht ersichtlich, da ihm niemand zuzuhören schien. Vielleicht mit der Tür, dachte sie und musste innerlich bei der Vorstellung lachen. Wie albern das doch war!

Die Kobolde nahmen die Tür mit. Brams und Pürzel trugen sie und überließen die Kuh ihren Gefährten Rempel Stilz und Krümeline. Nelli vermeinte nun alles zu begreifen. Die Kobolde hatten also außer der Kuh noch eine Tür gestohlen! Vermutlich hatten sie auch statt ihrer einen Wechselbalg hinterlassen. Davon hatte sie zwar noch nie gehört – keine Fabel berichtete davon –, aber sehen bedeutete wissen, und von Türen, die immerzu knarrten, schlugen oder bei denen es kühl hereinzog, hatte sie schon öfter gehört. Anscheinend waren auch sie Koboldwerk – wieder etwas gelernt!

Gemäß ihrer Vereinbarung geleiteten die Kobolde Nelli fast bis zum Ende des Waldes. Dann sagte ihr Anführer Brams zu ihr, dass sie nun allein weitergehen solle. Er und seine Gefährten beteuerten, dass sie sich sehr auf ein Wiedersehen mit ihr freuten. Nelli antwortete dasselbe und fügte zur Bekräftigung hinzu: »Beim Guten König Raffnibaff!«, wie sie es ihre Begleiter oft hatte sagen hören. Auch dieses Mal entging ihr nicht, dass Brams bei der Nennung dieses Namens seltsam unwohl zu sein schien.

Tatsächlich war sich Nelli jetzt, da ihr keine Gefahr mehr drohte, gar nicht mehr so sicher, ob sie ihren Abschiedsgruß und vor allem die Hoffnung auf ein Wiedersehen ernst meinte. Sehr sicher war sie sich jedoch, dass sie niemandem erzählen durfte, auf wie freundschaftlichem Fuße sie mit Kobolden stand. Selbst alte Freunde, selbst die besten, würden sie unter lauten Entsetzensschreien für verrückt erklären und umgehend das einleiten, was sie für eine angemessene Hilfe hielten. Die Folge wäre wochenlanges Beten mit den Hohen Meistern und tagelanges Fasten zur Reinigung von Leib und Seele. Danach bekäme sie sicherlich eine verantwortungsvolle Tätigkeit zugewiesen, wie etwa für den Rest ihres Lebens Vögel von den Rapsfeldern und Zwetschgenbäumen fernzuhalten. Wie man es eben mit denen hielt, denen der Verstand abhandengekommen war und denen man nicht zutraute, dass sie ihn jemals wiederfänden.

Nelli war erst wenige Hundert Schritt allein gewandert, als die Neugier sie übermannte und sie heimlich zu den Kobolden zurückkehrte. Sie waren immer noch da. Die Tür hatten sie mittlerweile aufrecht hingestellt, und zwar so, dass sie von alleine stand. Brams unterhielt sich mit jemandem, dessen Wortschatz überwiegend aus »Toll!«, »Wunderbar!« und anderen Begeisterungsbekundungen zu bestehen schien. Welcher seiner Gefährten es war, konnte Nelli jedoch nicht zuordnen. Nun wurde es drollig, da Brams so tat, als wolle er die Tür öffnen. Er zog sie auf und – das Grauen griff nach Nelli und ließ sie winseln!

Hinter der Tür zeigte sich ein Meer purpurfarbener, lodernder Flammen. Dunkle Schatten bewegten sich in ihnen, wurden größer und formten sich zu Fratzen. Dieser Anblick war nicht nur schrecklich, sondern auch verwirrend, da das Feuer nicht im Wald wütete, sondern irgendwo anders. Als habe die Tür bislang ein Loch in der Welt verdeckt.

Die Kobolde schien das alles nicht zu berühren. Gelassen und ohne ihre jeweiligen Unterhaltungen zu unterbrechen, stiegen sie einer nach dem anderen in das Flammenmeer. Brams ging als Letzter und zog die Tür hinter sich zu. Als sie sich schloss, vernahm Nelli erneut die begeisterte Stimme. »Wirft das Los!«, forderte sie und verstarb jäh. Im selben Augenblick verschwand auch der gesamte Spuk. Nun gab es nichts Ungewöhnliches mehr im Wald zu sehen: keine Kobolde, kein Feuer, keine bedrohlichen Fratzen. Nelli war noch eine Zeit lang wie erstarrt, dann fasste sie sich ein Herz und ging zögernd zu der Stelle, wo die Tür gestanden hatte. Sie fand weder angesengtes Laub, noch schnupperte sie den Geruch von Verbranntem. Allerdings entdeckte sie einen Abdruck, der sehr gut zu der Unterkante einer Tür passte.

»So muss das sein!«, sprach sie mit sich selbst. »Es war eine Täuschung. Es ist alles eine Täuschung, damit ihnen niemand folgt.«

Das stimmte zwar nicht ganz, doch rings um sie herum gab es niemanden mehr, der ihr hätte widersprechen können.

König der Kobolde

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