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2. Im Dienst von Erinnerung und Versöhnung
ОглавлениеEine andere prägende Erinnerung in der Aufarbeitung des Geschehens vor siebzig Jahren fällt in die Zeit, als ich für die Priesterausbildung in unserem Bistum verantwortlich war (1983–1996). Neben dem Seminargelände befindet sich das Grundstück, auf dem von 1841 bis 1938 die Hauptsynagoge der jüdischen Gemeinde Würzburgs stand.3 Nach dem Krieg wurde dieses Areal von einer jüdischen Organisation in Amerika, die von der dortigen Regierung als Rechtsnachfolgerin der früheren Gemeinden festgesetzt war, an die Diözese verkauft, die es dem Priesterseminar überließ. Diese Aktion geschah gegen den ausdrücklichen Willen der noch in Würzburg verbliebenen Juden, für die dieser Vorgang, wie Zeitzeugenberichte dokumentieren, äußerst schmerzlich war. Hintergrund dieses Verkaufs war die damals vorherrschende Einstellung im internationalen Judentum, dass im Land der Täter niemals mehr Nachkommen der Opfer wohnen könnten. Die Überlebenden des Holocaust saßen noch lange Zeit nach ihrem eigenen Bekunden „auf gepackten Koffern“, weil unklar war, welche Perspektiven für jüdisches Leben in Deutschland überhaupt möglich sein würden, zumal die meisten Zeugnisse einer über Jahrhunderte gewachsenen Kultur des Judentums nahezu völlig vernichtet waren. Der Wiederaufbau jüdischen Lebens in Deutschland konnte nach diesem radikalen, gewaltsamen geschichtlichen Einschnitt also nicht einfach an Vergangenes anknüpfen, sondern war zu einer völlig neuen Standortbestimmung genötigt. Gerade wenn man dies bedenkt, kann man es nachfühlen, wie schmerzhaft Maßnahmen wie die damalige Grundstücksveräußerung gegen den Willen der Überlebenden von diesen empfunden werden musste. Umso mehr hat es mich beeindruckt, als der langjährige Vorsitzende der israelitischen Kultusgemeinde in Unterfranken, Senator David Schuster (1910–1999), bereit war, dieses Gelände im November 1988 erstmals seit der Zerstörung der Synagoge wieder zu betreten, um in einer Gedenkstunde an die Pogromnacht die Studenten unseres Priesterseminars zu einem aktiven Aufarbeiten der Geschichtslasten zu ermutigen. „Gerade Sie als künftige Priester der katholischen Kirche müssen im Wissen um die jüdischen Wurzeln des christlichen Glaubens aktiv im Dienst der Erinnerung und Versöhnung stehen“, so lautete ein Satz seiner Ansprache. Uns alle hat dieser Schritt über trennende Gräben der Vergangenheit hinweg sehr bewegt. Schon damals klang auch der Wunsch an, der jüdischen Gemeinde den Rückerwerb dieses Grundstücks zu ermöglichen. Als ich David Schuster seinerzeit fragte, warum denn gerade dieser Ort für ihn so von Bedeutung sei, wo doch der Standort der Synagogen in Würzburg im Lauf der Jahrhunderte mehrfach gewechselt habe, gab er zur Antwort: „Die Jahrzehnte vom 19. bis ins 20. Jahrhundert waren erstmals die Zeit, in der Juden in Deutschland bürgerlich gleichberechtigt waren – deshalb ist für uns gerade dieser Platz so wichtig, weil er eine Mahnung ist, dass das künftige Miteinander von Juden und Christen als Dialog auf Augenhöhe geführt werden muss.“ Diese Begründung hat mich überzeugt; heute ist das ehemalige Synagogengrundstück wieder im Besitz der jüdischen Gemeinde und zu einem würdigen Ort des Gedenkens gestaltet worden. Der „Dialog auf Augenhöhe“ ist freilich eine bleibende Aufgabe, die in jeder Generation neu angegangen werden muss. Der 2003 abgeschlossene Staatsvertrag, der Ausdruck des erklärten Willens ist, dass deutsche Staatsbürgerinnen und Staatsbürger jüdischen Glaubens ein wichtiger Bestandteil unseres Landes sein sollen, kann dabei nur die rechtliche Grundlage für alle persönlichen Bemühungen bilden, sich immer wieder neu für ein Miteinander im Begegnen und Verstehen einzusetzen. Deshalb ist es ermutigend, wenn die Grundlagen für dieses Miteinander so früh wie möglich ansetzen, sei es im Religions- und Geschichtsunterricht oder wenn Schulklassen jüdische Kulturzentren und Synagogen besuchen. Nur aus der Bereitschaft zur Begegnung können Verständnis und Wertschätzung wachsen; dies ist auch der beste Weg, gerade junge Menschen gegen neues antisemitisches Gedankengut immun zu machen. Erinnerung braucht Zukunft.