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Das Geheimnis der Erlösung heißt Erinnerung Juden und Christen

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Der Stein schreit aus der Mauer“ (Hab 2,11). Mit dieser alttestamentlichen Bibelstelle hat ein Zeitzeuge sein tiefes Entsetzen darüber ausgedrückt, was vor mittlerweile mehr als 70 Jahren geschehen ist: In einer bis dahin nicht erlebten Verwüstungsaktion, die von der Naziregierung organisiert war, wurden in der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 überall in Deutschland jüdische Synagogen und Friedhöfe geschändet, angezündet oder zerstört, jüdische Geschäfte, Häuser und Wohnungen wurden geplündert und demoliert. Über 400 Juden kamen dabei gewaltsam ums Leben; in den folgenden Tagen wurden weitere 30 000 in Konzentrationslager verschleppt. Die damaligen Ausschreitungen waren eine weitere Radikalisierung der Judenverfolgung, die schon seit 1933 mit einer systematischen Einschränkung der Rechte von knapp 600 000 jüdischen Mitbürgern im Deutschen Reich begonnen hatte. Am Ende des Zweiten Weltkrieges waren von denen, die nicht rechtzeitig fliehen konnten, 180 000 ermordet; weltweit kamen in diesem unvorstellbaren Holocaust, der durch den menschenverachtenden Rassenwahn eines verbrecherischen Regimes ins Werk gesetzt worden war, sechs Millionen jüdischer Männer, Frauen und Kinder ums Leben.

Die Erinnerung an die sogenannte Reichspogromnacht darf allerdings nicht bei einem bloß historischen Rückblick auf einen der schlimmsten Tage deutscher Geschichte stehenbleiben. Es stellt sich die Frage, welche Art des Gedenkens für uns als Christen angemessen ist, damit aus der bedrückenden Einsicht in die Vergangenheit eine befreiende Aussicht auf die Zukunft erwachsen kann. Dabei darf gerade im Blick auf die damaligen Vorgänge nichts beschönigt werden, denn im Unterschied zu den späteren Mordaktionen in den Vernichtungslagern der Nazis spielten sich die Vorgänge in der Nacht des 9. November vor aller Augen ab. Es gab damals viel Gleichgültigkeit und Gemeinheit bis zur Beteiligung an den Plünderungen, zum Teil unverhohlene Schadenfreude, aber auch Zeichen des Mitgefühls und der Empörung. „Der Stein schreit aus der Mauer“ – der eingangs erwähnte Bibelvers wirkt auch heute noch wie eine Anklage, wenn es darum geht, das Unfassbare von damals ins Wort zu bringen.

Es geht gerade für uns Christen um ein Lernen aus der Schuldgeschichte am jüdischen Volk; denn man kann sich nicht mit der Zukunft beschäftigen und dabei das Vergangene ignorieren, indem man einfach einen Schlussstrich zieht. Das ist nicht möglich. Perspektiven für ein tragfähiges Miteinander von Juden und Christen lassen sich nur gewinnen, wenn das Geschehene – sicher oft mühsam – aufgearbeitet und in einen neuen Zusammenhang gestellt wird. Den Schlüssel dafür sehe ich in der Inschrift, die über der Gedenkstätte Jad Waschem in Jerusalem steht, die den Opfern der Shoa gewidmet ist: „Das Geheimnis der Erlösung heißt Erinnerung.“ Darin liegt ein wichtiger Hinweis, wie wir heute von Schuld, Leid und Versöhnung reden können, ohne dass Belastendes verdrängt und zugleich Ermutigendes übersehen wird. Ich möchte dabei aber nicht im Allgemeinen bleiben, sondern an persönliche Erlebnisse im Umgang mit den Folgen des Geschehens von damals anknüpfen und damit Gedanken verbinden, die vielleicht für uns alle wichtig sind.

Herausgeforderter Glaube

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