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1. Begegnung
ОглавлениеEine erste Erinnerung, die sich mir bleibend von den Umwälzungen vor 20 Jahren eingeprägt hat, läuft unter dem Stichwort: Begegnung. Blenden wir zurück: Innerhalb weniger Wochen vollzog sich damals eine ganz rasante Entwicklung: Mussten zunächst Menschen noch mit großem Risiko Hindernisse wie Mauer und Stacheldraht überwinden, um ein Leben in Freiheit führen zu können, waren dazu wenig später immerhin noch weite Umwege über Nachbarländer nötig, so wurde kurze Zeit später gleichsam über Nacht das Unvorstellbare möglich: Willkürlich errichtete Sperren öffneten sich, trennende Mauern wurden auf einmal durchlässig, Menschen, die trotz geographischer Nähe getrennt voneinander leben mussten, konnten unbehindert und angstfrei zusammenkommen: Die Möglichkeit der Grenzüberschreitung eröffnete ganz neue, ungeahnte Perspektiven. Aber ist die damals errungene Reisefreiheit schon alles? Was ist darüber hinaus noch nötig, damit Begegnung wirklich gelingt?
Mir ist vor allem noch jene Situation im Sommer 1989 in Erinnerung, als der deutsche Außenminister den in die Prager Botschaft geflüchteten DDR-Bürgern mitteilte, dass sie noch in derselben Nacht ausreisen könnten. Wir wissen um die Reaktion: Jubel und Freudentränen, ungläubiges Staunen und dann Begeisterung … Manche haben seinerzeit diesen Auftritt kritisiert, ihn als politische Profilierungssucht bezeichnet und eingewandt, diese Mitteilung hätte doch auch viel einfacher geschehen können. Aber wäre es wirklich dasselbe gewesen, wenn man eine solche Nachricht bloß schriftlich oder über Funk und Fernsehen verbreitet hätte? Gewiss, die Kunde davon hätte sich auch herumgesprochen – und doch wären Unsicherheit und Zweifel geblieben, ob diese Meldung denn auch wirklich wahr sei. Anders gesagt: Es kommt nicht bloß auf den Inhalt einer Botschaft an – in bestimmten Situationen ist die persönliche Begegnung einfach unersetzbar, weil sie Sicherheit schafft und Grenzen der Angst und der Ungewissheit überwindet.
Mir ist damals neu aufgegangen, wie unersetzbar Begegnung auch im Glauben ist; denn das Evangelium ist keine anonyme Botschaft, sondern eine grenzüberschreitende Begegnung, die von Gott selbst ausgeht. Er kommt in unsere Welt und spricht uns an. Das zeigt sich in der Begegnung Jesu mit den verschiedensten Menschen: Da wird deutlich, wie Grenzen fallen: Menschen, die an äußeren und inneren Verwundungen leiden, erfahren Heilung; Versager dürfen erleben, wie sich neuer Lebenssinn eröffnet, weil sie nicht abgeschrieben sind; solche, die sich bislang an den Rand gedrängt fühlen, dürfen durch Jesus spüren, dass sie für Gott wichtig sind. Überall da geschieht Grenzüberschreitung, weil in der Begegnung mit Jesus soziale und gesellschaftliche Barrieren ihren trennenden Charakter verlieren. In diesem Aspekt der christlichen Botschaft könnte ein erstes Merkmal für eine vertiefte Erinnerung an die Wende vor 20 Jahren liegen, das Konsequenzen im Glauben hat. Im Gefolge der Wende hatte man kirchlicherseits mitunter überzogene Erwartungen, es müsse zu einem großen religiösen Neuaufbruch mit einem spürbaren Zustrom an neuen Mitgliedern für die christlichen Kirchen kommen.7 Dass dies nicht eintrat, hat verschiedene Gründe – unter anderem den, dass die Religionsferne vieler Menschen speziell im Osten Deutschlands zu tiefe Wurzeln hatte, als dass sie sich durch neue Freiheitsbedingungen allein geändert hätte. Aber gerade diese Wahrnehmung braucht uns als Christen nicht mutlos zu machen. Es wäre falsch, wegen enttäuschter Wendehoffnungen zu resignieren und sich in ein binnenkirchliches Schneckenhaus zurückzuziehen. Im Gegenteil: Weil die Wende die Erfahrung vertieft hat, wie wichtig und unersetzlich im Leben die Begegnung ist, ergibt sich für den Glauben daraus eine sehr direkte Erkenntnis: Vom Verhalten Gottes her, das ganz ursprünglich Begegnung ist, ist unser Glaube von der ständigen Einmischung geprägt! Damit ist nicht besserwisserisches Belehren gemeint, sondern ein ständiges Vermitteln der Erfahrung, dass Gott selbst sich in Jesus Christus unumkehrbar in unsere Welt einmischt, indem er unser Leben annimmt. Jesu Verhalten macht dabei deutlich, dass Gott keinen Lebensbereich ausgrenzt – Verwundungen ebenso wenig wie Versagen und Leiden, nicht einmal das Sterben. Diese Einmischung Gottes macht mir Mut, in meinen Begegnungen mit den unterschiedlichsten Menschen Barrieren zu überwinden, weil ich mich von seiner grenzüberschreitenden Liebe getragen weiß, die allen gilt.