Читать книгу Herausgeforderter Glaube - Karl Hillenbrand - Страница 9

1. Hörend und lernend teilnehmen

Оглавление

Ein erstes Erlebnis bezieht sich auf die Einweihung der neuen Würzburger Synagoge im Jahr 1970. Ich stand damals kurz vor dem Abitur; ich erinnere mich noch genau, wie kurz darauf ein Mitglied der Israelitischen Kultusgemeinde, das den Naziterror überlebt hatte, bei uns im Religionsunterricht zu Gast war. Als wir ihn seinerzeit fragten, mit welchen Gefühlen er diese Einweihungsfeier erlebt habe, gab er unumwunden zu, dass zunächst schlimme Erinnerungen in ihm hochgekommen seien: an ermordete Angehörige, an die Vernichtung der beruflichen Existenzgrundlage und vieles andere mehr. Ein Zeichen der Hoffnung sei für ihn jedoch der Moment gewesen, als der damalige Würzburger Bischof Josef Stangl (1907–1979) dem Rabbiner und dem Gemeindevorstand eine Thorarolle überreichte, die 1938 ein Pfarrer aus der brennenden Synagoge seiner Gemeinde gerettet hatte. Ihm sei dabei aufgegangen, so dieser Zeitzeuge, dass eine versöhnte Zukunft von Juden und Christen nur im gemeinsamen Mühen um die Bewahrung des biblischen Gotteswortes möglich sein werde. Auf seine Weise hat Bischof Stangl, der sich schon vorher auf dem Zweiten Vatikanischen Konzil mit großem persönlichen Einsatz für eine wegweisende Erklärung der katholischen Kirche zum jüdischen Volk stark gemacht hatte, diese Einsicht im letzten Jahr seines Lebens (1978) noch einmal so formuliert: „Juden und Christen verstehen sich beide als Zeugen eines Gottes, von dem her keine Kluft zu dieser Welt hin besteht. Er ist ein Gott, dessen Nähe und Gegenwart uns gewährt ist. Diese Gegenwart Gottes gibt uns zu jeder Stunde Sicherheit und unseren tausend Ängsten Halt. So werden wir zu Trägern der Hoffnung für alle in dieser Welt, die leer sind und ohne Sinn dahinleben. Wir Christen wollen künftig noch mehr auf die Gotteserfahrung Israels achten. Wir möchten hörend und lernend an der Existenz Israels teilnehmen.“1

Hörend und lernend teilnehmen – in diesen Worten des damaligen Bischofs finde ich einen Zugang zu tragfähiger Versöhnung auf der Grundlage des gemeinsamen Glaubens an einen Gott, der über der Geschichte steht und zugleich in der Geschichte wirkt. Nur so lassen sich Misstrauen und Argwohn abbauen. Nur so wird aus der Rückschau in die Vergangenheit eine echte Zeitgenossenschaft zwischen heute lebenden Juden und Christen möglich. Denn es reicht nicht aus, dass sich Christen auf ihre jüdischen Wurzeln aus biblischer Zeit besinnen. Es gibt gerade in einer pluralen Gesellschaft wie der unseren, in welcher der Glaube nicht mehr das Fundament, sondern allenfalls ein Element im Ganzen darstellt, gemeinsame Herausforderungen und Aufgaben von Juden und Christen, die gerade im Horizont von Schuld und Versöhnung wichtig werden: etwa die Frage, wie mit ökologischen Problemen umzugehen ist, wenn die Welt im jüdischchristlichen Verständnis als Schöpfung Gottes gesehen wird; die Argumente in der Debatte um Fragen der Gentechnik und Bioethik, wenn es um die gemeinsame Sicherung der Menschenwürde und des Lebensschutzes geht; die Positionierung in der Familien- und Sozialpolitik oder auch um die Haltung im Streit um den Gottesbezug im Grundlagenvertrag einer europäischen Gemeinschaft, die ja nicht nur auf Werten des christlichen Abendlandes aufbaut, sondern auch Elemente der jüdischen Tradition integriert. Natürlich ist auch das Judentum insgesamt pluraler geworden – es gibt orthodoxe, reformierte und liberale Ausrichtungen; dazu kommt speziell bei uns die noch lange nicht abgeschlossene Aufgabe einer Integration jener jüdischen Mitbürger, die in den 90er Jahren nach der politischen Wende als Flüchtlinge aus den osteuropäischen Ländern kamen und oft mit den religiösen Fragen und Traditionen des Judentums überhaupt nicht mehr vertraut waren. Doch gerade in dieser Umbruchsituation aufgrund des gesellschaftlichen Wandels kann die gemeinsame Besinnung auf Gott und sein Wirken in der Welt eine Basis für das gemeinsame Mühen von Juden und Christen um die Schaffung einer gerechten Gesellschaft sein.2

Herausgeforderter Glaube

Подняться наверх