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Flughafen Tegel

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Unweit des Tegeler Sees, inmitten der Jungfernheide lag der Flughafen Tegel, der eigentlich längst hätte geschlossen werden sollen, aber wacker noch immer seinen Dienst tat. Seine Schließung mit Eröffnung des neuen Hauptstadtflughafens Berlin Brandenburg war beschlossene Sache, doch da dessen Eröffnung regelmäßig ausblieb, würde auf Tegel auch weiter Verlass sein. Und das war auch gut so. Der sechseckige Flughafen, nach Plänen des Architekten Meinhard von Gerkan bis 1975 gebaut, war einer der praktischsten Flughäfen der Welt. War man einmal im Innenkreis des Sechsecks, konnte man an jedem beliebigen Schalter einchecken und beinahe direkt aufs Rollfeld gehen. Wenn keine große Schlange an der Gepäckabfertigung war, konnte man also binnen 15 Minuten vom Taxi im Flugzeug sein.

An diesem Tag allerdings waren die Schlangen lang und die Verwirrung groß. Was genau los war, konnte Jeremy niemand sagen. Jedenfalls waren im Zusammenhang mit dem Anschlag auf die chinesische Botschaft die Sicherheits- und Personenkontrollen verschärft worden, auch wurde gemunkelt, dass die Gefahr weiterer Anschläge bestand und selbst der Flughafen zur Zielscheibe werden könnte.

In ebendem Moment, da das Taxi Jeremy im Innenhof des Terminals absetzte, hatte sein Handy geklingelt. Dr. Welti. Endlich. „Sie haben bei mir angerufen, Herr Gouldens? Ich habe es auch schon mehrmals bei Ihnen probiert. Ich hätte nämlich ein paar Fragen.“

„Gut, ich auch. Dann schießen Sie los.“

Das Ergebnis des Telefonats trug nicht gerade zu Jeremys Beruhigung bei. Zwar wusste auch Dr. Welti nichts Genaueres über illegale Geschäfte der Century Bank mit Nordkorea, doch war er, was die Gao-Feng-Stiftung selbst anging, bei der Überprüfung der Geschäftsbücher auf einige Vorgänge gestoßen, die er nicht recht einordnen konnte. Es hatte auf den Konten der Stiftung einen auffälligen Zu- und Abfluss von Geldern in Millionenhöhe gegeben, der unter anderem über Gesellschaften in Liechtenstein gelaufen war. In diesem Zusammenhang bestand auch der Verdacht auf Veruntreuung von Stiftungsgeldern. Außerdem waren die Überweisungen in Dutzende Tranchen von jeweils knapp unter hunderttausend Franken gestückelt worden, ein Indiz, dass jemand den gesetzlich vorgeschriebenen gesonderten Nachweis von Geldtransfers von über hunderttausend Franken hatte umgehen wollen. Mehrmals sei Dr. Welti dabei auf eine auf den Kanalinseln ansässige Sitzgesellschaft mit dem Namen „Koryo Capital“ gestoßen. Der Name sagte Jeremy nichts. Aber er klang nicht gut. Mit Chloe Bodmer habe Dr. Welti schon über seine Bedenken gesprochen und sie habe zugesagt, ihn noch heute zu einem Gespräch in Zürich aufzusuchen; Jonathan Creed, der für derlei Transaktionen zuständig sei, habe er aber noch nicht erreichen können. Na, dem werde ich gleich mal gründlich auf den Zahn fühlen, dachte sich Jeremy.

„Ich muss noch das eine oder andere überprüfen, aber in ein paar Stunden sehe ich bestimmt klarer“, hatte Welti hinzugefügt. „Daher sollten wir uns so bald wie möglich zusammensetzen und diese Dinge besprechen. Wenn es nach mir ginge, am besten noch heute Abend.“

Jeremy war erschrocken. „Ist es denn so eilig? Ich bin gegenwärtig in Berlin und wollte heute noch weiter nach London. Ich plane, morgen Nachmittag in Zürich zu sein, reicht das denn nicht?“

„Morgen bin ich den ganzen Tag verplant. Ich komme erst übermorgen wieder nach Zürich.“ Im weiteren Gespräch stellte sich heraus, dass Dr. Welti am nächsten Tag einen Privattermin hatte, den er nicht absagen wollte: ein „Outdoor-Event“, so Welti. Er hatte seinem siebzehnjährigen Neffen und Patenkind zum Geburtstag eine Mountainbike-Fahrt in den Bergen versprochen. Konkreter, eine Teilnahme am nur einmal im Jahr stattfindenden renommierten „Glacier Bike Downhill-Rennen“ in Saas-Fee. Deshalb sei ihm dieser Tag „heilig“. Heute Abend sei er aber verfügbar, wenn nötig bis spät in die Nacht, auch wenn er morgen in aller Früh aufbrechen müsse. Wenn Jeremy es einrichten könne, noch nach Zürich zu kommen, umso besser, ansonsten werde er den Abend für weitere Recherchen nutzen.

„Gut, dann werde ich es mir überlegen, ob ich nicht doch heute noch kommen kann, ich kann es aber nicht versprechen. Eigentlich müsste ich dringend zu meiner Frau nach London fliegen.“

Für diesen Fall wolle Dr. Welti heute Abend noch ein Dossier über seine bisherigen Ergebnisse anlegen und es Jeremy mailen, damit er übermorgen bei ihrem Treffen vorbereitet sei. Jeremy hatte ihm daraufhin seine private E-Mail-Adresse gegeben, da er auf die Mails an die Stiftung nur von seinem Büro aus Zugriff hatte, er aber möglichst noch am Abend einen Blick in Weltis Dossier werfen wollte.

Und jetzt saß Jeremy seinem alten Freund Jonathan gegenüber, den er seit Jugendjahren kannte, dann aber lange aus den Augen verloren hatte. Ihre Wege hatten sich wieder gekreuzt, als Jeremy in Shanghai als Anwalt arbeitete. Jonathan Creed war dort während dieser Zeit ein hohes Tier bei der UBS-Bank gewesen. Kurz nach Jeremys Übersiedlung nach London hatte Jonathan seinen Posten bei der Bank aufgeben müssen. Die Zürcher Century Bank, die mit der Verwaltung der Stiftungsfinanzen betraut war, suchte damals einen kundigen Banker als Leiter ihres Londoner Büros, und Jeremy war es gelungen, Beat Bodmer davon zu überzeugen, dass Jonathan für diesen Posten genau der Richtige war. Seither war Jonathan für die Anlage der Stiftungserträge zuständig, und für Jeremy war es sehr günstig, seinen Freund auch als Finanzgeschäftspartner, an den er sich jederzeit wenden konnte, in seiner Nähe zu haben. Von kleineren Diskrepanzen, vor allem was unterschiedliche Ansichten zum Thema Anlagerisiko und -moral anging, einmal abgesehen, hatten sie bisher gut zusammengearbeitet. Jeremy hoffte, dass dies auch in Zukunft so bleiben würde.

Sie hatten im Bistro Leysieffer im zentralen Abflugbereich des Flughafens Platz genommen, wo sie die Anzeigetafeln gut im Blick hatten. „Koryo Capital“, wiederholte Jonathan grübelnd. Er betrachtete seine manikürten Finger und die Manschetten des maßgeschneiderten Hemdes von Turnbull & Asser, das er unter seinem perfekt sitzenden Maßanzug aus der Savile Row trug. Jonathan hatte schon immer hohen Wert auf schicke und teure Kleidung gelegt. Dann blickte er Jeremy aus seinen stahlblauen Augen direkt ins Gesicht. „Koryo Capital – ja, das sagt mir etwas.“

„Was ist das für eine Firma?“

„Schwer zu sagen. Einer der Kontakte, die ich von Beat übernommen habe. Der hat da ein ganzes Netzwerk aufgebaut. Junge, ich sag dir, von dem Alten können wir uns alle noch ein Scheibchen abschneiden. Hoffentlich ist er bald wieder auf den Beinen.“

„Wo kommt diese Firma her?“

„Nun ja – England. Also Großbritannien. Sitz auf den Kanalinseln.“

„Aber Koryo heißt doch Korea. So hieß dort ein mächtiges Reich im Mittelalter. Wird der Begriff nicht vor allem von nordkoreanischen Staatsunternehmen verwendet: Air Koryo und so weiter?“

„Nein, das verwendet der Süden genauso. Ich kann dir versichern, dass Koryo Capital kein nordkoreanisches Staatsunternehmen ist. Du weißt, es gibt ein Embargo gegen das Land, und in der Schweiz ist es sogar nordkoreanischen Privatbürgern nicht gestattet, ein Konto zu eröffnen, geschweige denn staatlichen Unternehmen. Ein ehrwürdiges Haus wie das von Beat Bodmer würde also den Teufel tun, an den Schweizer Gesetzen vorbei mit denen Geschäfte zu machen.“

„Allerdings hat die Century Bank, wie ich erfahren habe, lange Zeit Geschäfte mit der Banco Delta Asia in Macao gemacht, die auf einer schwarzen Liste der USA steht, weil sie im Verdacht steht, gefälschte Dollarscheine aus Nordkorea in Umlauf gebracht zu haben.“

„Das ist ein alter Hut. Jeremy: Ich weiß von Beat, dass er nach diesem Skandal 2007 alle Kontakte zur Delta Asia abgebrochen hat.“

„Es gibt Geschäftsbeziehungen zu weiteren Banken in Macao.“

„Jeremy: Century hat Geschäftsbeziehungen zu so gut wie allen Bankenzentren im Fernen Osten. Nur eben nicht nach Pjöngjang.“

„Und wer steckt dann hinter Koryo Capital?“

„Jeremy, ich bin nicht Jesus. Ich bin ein Geschäftsmann, ich lege Gelder an, achte darauf, dass die Rendite stimmt, und vermehre so den Besitz der wohltätigen, ehrenwerten Gao-Feng-Stiftung. Wie du weißt, ist die moderne Finanzwelt ein sehr komplexes Gebilde und oft ist es schwer nachzuvollziehen, mit wem und womit man seine Geschäfte macht. Als es 2007 zum großen Bankencrash kam, waren sehr viele Geldanleger ausgesprochen überrascht zu erfahren, ihr Geld über viele Ecken letztlich in die faulen Kredite überschuldeter amerikanischer Häuslebauer gesteckt zu haben. Shit happens, Jeremy, und niemand ist ganz davor gefeit, dass auch ihm dergleichen passiert. Du weißt, du kannst mir vertrauen, wegen meiner Geschäfte hat die Stiftung bisher jedenfalls keinen Penny verloren. Aber, um auf dieses obskure Koryo Capital zurückzukommen: Ich werde der Sache nachgehen. Versprochen. Wenn wir uns übermorgen in Zürich treffen, weiß ich schon mehr. Ich verstehe nur nicht, welche Probleme Dr. Welti und seine Treuhandgesellschaft Fiducia mit dieser Sache haben. Um ganz ehrlich zu sein: Meines Erachtens ist der Junge allzu, na ja ... übereifrig. Kannst du mir seine Bedenken genauer darlegen?“

Jeremy erzählte in allen Details den Inhalt seines Gesprächs mit Dr. Welti. „Er ist da anscheinend gerade mitten in etwas drin und ziemlich aufgeregt. Am liebsten würde er sich gleich heute Abend noch mit mir treffen; ich bin noch am Überlegen, ob ich das wirklich ...“

„Ich sag’s ja, übereifrig. Das wird doch bis morgen Zeit haben!“

„Morgen fährt er mit seinem Neffen zu einer Mountainbiketour ins Berner Oberland und bleibt dort über Nacht, daher geht es erst übermorgen wieder. Auf alle Fälle aber mailt er mir heute noch seine bisherigen Erkenntnisse, wenn ich es nicht mehr nach Zürich schaffe.“

„Na, hoffentlich kann er beim Radeln seinen überstürzten Leistungsdrang abreagieren. Überhaupt: Mountainbike? Im Februar?“

„Klar. Biken im Schnee ist gerade groß in. Sie wollen nach Saas-Fee fahren. Da gibt es ein Rennen den Gletscher hinunter.“

„Dann lass ihn ruhig fahren. Und du fliegst nach London. Heut noch in die Schweiz, ich glaub’s ja nicht! Da plustert sich aber einer auf. Ich bin mir jedenfalls sicher, das wird sich alles als heiße Luft erweisen. Zerbrich dir nicht den Kopf, du hast genug andere Sorgen. Apropos, hast du Cathy inzwischen angerufen?“

Cathy! Jeremy überlief es siedend heiß. So viele Telefonate wie er seit seinem Besuch in der BND-Zentrale geführt hatte ... „Gut, dass du mich erinnerst. Das mache ich gleich nachher.“

„Mach es jetzt.“ Jonathan sah auf die Uhr, dann nahm er den letzten Schluck aus seiner Pilstulpe. „Ich hab noch etwa zwanzig Minuten, bis ich zu meinem Flug muss. Ich lass dich jetzt mal auf eine Zigarettenlänge allein und du bringst deine Eheangelegenheiten in Ordnung. Viel Erfolg! Und das mit der Schweiz erwähnst du lieber gar nicht erst.“ Er lachte sein leises Lachen, das Jeremy irgendwie an das Hecheln eines Hundes erinnerte und das zu den Eigenheiten seines Freundes gehörte, die er weniger mochte. Dann war Jonathan auch schon aus dem Raum und Jeremy hatte Cathys Nummer gewählt.

Anders als von Jonathan vorgeschlagen, würde Jeremy einfach an Cathys nüchternen Verstand appellieren, ihr die Sachlage erklären und letztlich sie entscheiden lassen, ob es unter den gegebenen Umständen überhaupt sinnvoll war, für ein paar Stunden nach London zu hetzen. Sie war sofort am Apparat. „Hallo Schatz, ich bin’s. Jeremy.“

„Jeremy? Ich kenn keinen Jeremy. Oh, jetzt erinnere ich mich, lang, lang ist’s her. Doch nicht etwa Jeremy Gouldens, mein verschollen geglaubter Göttergatte? Was verschafft mir die unglaubliche Ehre?“

Der bösartig ironische Tonfall an der Grenze zum Umschlagen in blanke Wut verriet nichts Gutes. Dieses Gespräch würde kein leichtes sein. Dann überschlug sich ihre Stimme auch schon. Was ihm denn einfalle, tagelang nichts von sich hören zu lassen und sie dann einfach abzuwürgen, wenn sie ihn anrufe, und wieder 24 Stunden in die Versenkung abzutauchen. Ob er vergessen habe, dass er verheiratet sei? Nein, habe er nicht. Dass er sich für heute Abend in London angekündigt habe? Natürlich auch nicht, das sei ja ausgemacht und deshalb sei es auch nicht nötig, dass er anrufe, solange nichts dazwischenkomme, wobei er bei der Gelegenheit vorsichtig nachhaken wolle, ob... Und dass heute Abend das Charity Dinner im Dorchester Hotel stattfinde, für das sie sich vor Wochen angemeldet hätten? Charity Dinner. Gut, das hatte er doch tatsächlich vergessen.

„Klar, das Dinner.“ Vergiss die Schweiz, Jeremy. Hier ist Schadensbegrenzung angesagt. „Das Dorchester-Dinner ... das ist eben auch ein Grund, warum ich anrufe. Heute Abend um acht, nicht wahr? Hör mal, Schatz, hier in Berlin gibt es eine Terrorwarnung und alle Flüge haben Verspätung. Es ist dumm, aber ich glaube, ich werde es wohl leider nicht mehr rechtzeitig schaffen. Wenn ich Glück habe, kann ich noch nachkommen. Könntest du nicht vielleicht ...“

Eine Flut von Vorwürfen und Verwünschungen ergoss sich über ihn. Mit jedem Ansatz, sich zu entschuldigen, schien er alles nur schlimmer zu machen. „Vielleicht hätten wir uns lieber gar nicht erst anmelden sollen“, brachte er schließlich heraus. Er wusste, dass es sinnlos war, das jetzt zu sagen, aber ihm fiel nichts anderes ein. Außerdem merkte er, dass er allmählich anfing wütend zu werden und dass seine Strategie, ihr den Wind aus den Segeln zu nehmen, indem er den verständnisvollen Dulder mimte, einmal mehr nicht aufging. „Schon aus ethischen Gründen. Schließlich gehört das Hotel dem Sultan von Brunei, der in seinem Land gerade die Scharia einführt, die für Schwule und Ehebrecher den Tod durch Steinigung vorsieht. Das Hotel wird international von einem Großteil der Prominenz boykottiert.“

Aber der Appell an Cathys ausgeprägtes moralisch-soziales Gewissen fruchtete heute nicht. „Ach was, Prinzessin Kate hat kürzlich auch dort getafelt. Außerdem sind das alles doch nur fadenscheinige Ausflüchte. Als ob du nicht schon vor ein paar Wochen von diesem Scharia-Dings gewusst hättest.“ Was stimmte. Nur daran gedacht hatte er nicht. Fakt war, dass er sich aus all dem High-Society-Schnickschnack nichts machte. Im Unterschied zu seiner Frau.

„Weißt du was“, platzte es aus ihr heraus. „Du kannst mir gestohlen bleiben. Wenn du dich lieber in Berlin und Zürich mit andern Frauen rumtreibst – bitte schön. Ich finde schon jemand, der mit mir hingeht. Die Männer in London sind auch nicht hässlicher als die Frauen in Zürich. Und mein Begleiter wird mit Sicherheit nicht Jeremy Gouldens heißen. Pah! Wer ist das überhaupt?!“ Sie hatte aufgelegt.

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