Читать книгу Korea Inc. - Karl Pilny - Страница 47

Bern-Oberbottigen

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„Nein danke, ich muss noch fahren.“

„Ach was, du kannst ... du musst heute hierbleiben.“ Ungerührt befüllte Mirjam Chloes Glas. „Wir haben uns so lange nicht gesehen. Und unser Gästezimmer ist sowieso immer gerichtet.“

„Ich habe heute Abend noch ein wichtiges Gespräch wegen der Bank, weißt du. Jetzt, wo mein Vater krank ist, geht es da drunter und drüber.“ Chloe dachte mit Bauchschmerzen an ihr bevorstehendes Treffen mit Dr. Welti. Wenn sie pünktlich sein wollte, musste sie zügig aufbrechen. Dabei war sie noch gar nicht dazu gekommen, ihr eigentliches Anliegen ernsthaft anzusprechen. Sooft sie es versucht hatte, Mirjams sorglos mäandernder Redefluss hatte stets schnell eine andere, unerwartete Richtung genommen.

Dem Begrüßungs-Crémant war, nach einer raschen Tasse Kaffee und dem Rückzug von Jobst, der die Freundinnen lieber allein ließ, ein etwas plumper Chasselas vom Bieler See gefolgt. Dazu hatte Mirjam ein rustikales Zvieri bereitet, mit Weggli und Bauernbrot, Bündnerfleisch und großlöchrigem Käse aus dem nahen Tal des Flüsschens Emme sowie – darauf war Mirjam besonders stolz – Appenzeller Mostbröckli; aus Pferdefleisch, wie sie betonte. Als Chloe, die eine leidenschaftliche Reiterin war und selbst vier Shagya-Araber-Stuten besaß, auf ihre Vorbehalte gegenüber dem Verzehr dieser Freunde des Menschen verwies, antwortete Mirjam unbekümmert: „Weißt du, dass die besten Appenzeller Mostbröckli die aus Hundefleisch sein sollen? Leider sind die mittlerweile schwer zu bekommen, da die kommerzielle Verwendung von Hundefleisch als Nahrungsmittel in der Schweiz 2005 verboten wurde und die Appenzeller Bauern jetzt nur noch für den Eigenbedarf herstellen dürfen. Ich mag zwar Hunde – lebend, meine ich – und komme gut mit ihnen aus, aber irgendwie würde mich das schon reizen. Ich meine, man soll alles mal probiert haben, oder nicht? Einfach damit man weiß, ob einem nicht etwas entgeht. Tja, zur Not müssen wir doch mal nach Vietnam oder Korea fliegen.“

Chloe zuckte bei der Kombination „Hund“ und „Essen“ zusammen – egal, wer nun in wen biss. Aber das war jetzt vielleicht ein guter Einstieg. „Apropos Korea ...“

„Komm, jetzt probier doch mal.“ Die Freundin hielt ihr eine der hauchdünnen Räucherfleischscheiben hin. Todesmutig griff Chloe zu und biss hinein. Es schmeckte wie Fleisch. Eigentlich gut. Und immerhin kein Hund. Sie spülte das luftgetrocknete Pferd mit einem ordentlichen Schluck Weißwein hinunter. Vielleicht sollte sie Welti doch absagen. „Und ist total mager und gesund. Nicht, dass mich etwas Fett stören würde, ist schließlich ein wichtiger Geschmacksträger.“

Man sieht’s, dachte Chloe. Ein neuer Anlauf: „Apropos Hund, ich würde gern nochmal auf die Sache mit Marcus zurückkommen.“

„Tja, ein Jammer, dass es eines so scheußlichen Anlasses bedurft hat, dass wir wieder einmal zusammenkommen. Trotzdem: Ich glaube, du fantasierst dir da was zusammen. Was soll sein Tod denn mit Pak zu tun haben, wie du vorhin gemeint hast? Oder gar mit uns? Allmählich kommst du mir fast so paranoid vor wie mein Mann. Nein, sagen wir halb so paranoid. Jedenfalls ungeheuer paranoid.“

„Er hat seinen eigenen Onkel von Hunden zerreißen lassen, Mirjam. Unser netter Mitschüler Pak Un. Die Meldung ging um die Welt. Und nun ist Marcus, sein ehemaliger Mitschüler, auf die gleiche Weise gestorben. Und das soll nichts miteinander zu tun haben?“

„Ach, soviel ich weiß, ist nicht einmal bewiesen, dass Pak Un und Kim Jong Un wirklich der gleiche Mensch sind. Ich meine, ich habe mir Bilder angesehen, ich erkenne da keine große Ähnlichkeit. Diese Koreaner schauen sowieso alle gleich aus. Gut, etwas pausbäckig ist Pak auch gewesen. Aber so fett? Nach nur fünfzehn Jahren?“

Schau dich doch selbst an, dachte Chloe. Mirjam prustete fröhlich auf. „Ja, ja, ich weiß, was du denkst, sag’s lieber nicht. Klar, Menschen können sich verändern. Körperlich und vom Wesen her. Ich hab Pak ja nie sonderlich gemocht – aber dass der gnadenlos Menschen zu Hunderten hinrichten lassen soll, bis in engste Familienkreise hinein ... also, das kann ich mir beim besten Willen nicht vorstellen.“

„Der Schüler Adolf hat auch keine Juden ermorden lassen. Und es besteht leider kein Zweifel, dass es auf der Welt viel mehr gibt, als wir uns vorstellen können. Selbst in unseren schlimmsten Alpträumen.“

„Mag sein. Aber doch nicht hier bei uns. Nicht in Oberbottigen.“

„Lass uns einfach mal sammeln, was wir von Pak wissen. Vielleicht stoßen wir auf irgendeine Spur. Schließlich ist das nun ein halbes Leben her, und zwei Gehirne erinnern sich besser als eins.“

Mirjam hob ihr Glas: „Auf die Gehirnzellen! Und die gute, alte Zeit, als wir zu den Liedern von Britney getanzt haben. Oops! I did it again, I played with your heart, got lost in the game, oh baby, baby.“

Chloe musste schmunzeln. „Zurück zu Pak. Ich hab ihn noch gut vor mir. Immer trug er diese Trainingsjacke.“

„Und die neusten Nike-Turnschuhe, blitzblank. Sein ganzer Stolz. Der eitle Schwachkopf. Weißt du noch, wie er am Anfang immer getreten hat, wenn ihm etwas nicht passte? Wie er ausrasten konnte? Wie er andere Jungs aus den nichtigsten Gründen angespuckt hat?“ Nein, das wusste Chloe nicht mehr. „Dann hat er sich aber relativ schnell eingepasst. Ich weiß noch, wie er mitten im Schuljahr in die Klasse gekommen ist. Dass er aus einem ‚kriegsversehrten Land‘ komme, hat die Lehrerin gesagt. Das hat meine Fürsorgeinstinkte aktiviert. Doch dann ist er immer mit einem Mercedes von der Schule abgeholt worden, der arme Kriegsversehrte. Da sind die guten Mirjam-Fürsorgeinstinkte wieder eingeschlafen.“

„Ich weiß nur noch, wie er ständig in der Nase gebohrt hat. Da sind bei mir sämtliche Bemutterungsinstinkte eingefroren.“

„Na ja, etwas hat er mir schon leidgetan. Immer der ernste Blick. Hast du ihn je lachen sehen? Und wenn er sein Basketball nicht gehabt hätte, wäre er völlig isoliert gewesen, schon weil er kaum Deutsch konnte. So hat er aber mit Marcus und Miguel seine basketballverrückten Freunde gefunden. Die drei und ihr Sport – die waren eine Zeit lang ganz dicke, bis Pak dann plötzlich von der Schule verschwunden ist. War das nicht auch die Zeit, als du und Marcus ...?“

„Volltreffer. Tja, meine wilde Jugendzeit.“

„Got lost in the game, oh baby, baby. Oops! You think I’m in love that I’m sent from above. I’m not that innocent.“

Definitiv schon etwas beschwipst. „Trotzdem habe ich mit Pak nicht viel zu tun gehabt. Es stimmt, er war öfters mal bei Marcus zu Hause oder Marcus hat Pak in seiner Wohnung in der Kirchstraße besucht, wo er mit seinen Betreuern gewohnt hat, irgendwelche obskuren Koreaner, die kein Deutsch konnten. Dort haben sie sich dann chinesische Actionfilme angeschaut, Bruce Lee und Jackie Chan. Da war ich aber nie dabei. Gut, als die Freundin von Marcus bin ich ihm schon öfters mal über den Weg gelaufen. Aber mit Mädchen hat es Pak ja sowieso nicht gehabt. Ich weiß bis heute nicht, ob er uns gegenüber eher schüchtern oder einfach nur verächtlich gewesen ist.“

„Wahrscheinlich beides. Obwohl, wenn er sich unbeobachtet glaubte, hat er dich in der Schule ja immer so angestarrt. Ich glaube fast, der war in dich verknallt.“ – „Ach Quatsch, das bildest du dir doch nur ein. Ich glaube eher, dass er dich angestarrt hat.“ – „Vielleicht hat er ja alle Mädchen angestarrt. Typisch verklemmter Sonderling, der sich nichts traut. Aber nach außen hin so tun, als wären wir Mädchen praktisch inexistent.“ – „Na ja, bis auf das eine Mal.“ – „Bis auf ein Mal, korrekt. Da ist er aufgetaut. Aber ordentlich.“ – „Du erinnerst dich also noch?“ – „Marcus’ Geburtstagsparty? Mensch, Chloe, daran hab ich sicher über zehn Jahre nicht mehr gedacht. Aber klar erinnere ich mich. An das meiste jedenfalls. Dieser scheußliche Apfelkorn.“ – „Du hast gekotzt.“ – „Genau. Das heißt ... das ist eben der Teil, an den ich mich nicht mehr erinnere. Aber ist das jetzt wichtig? Du, Chloe, ich hol uns nochmal so ein Fläschchen, ja?“

Und weg war sie. Chloe schwirrte der Kopf. Sie nutzte Mirjams Abwesenheit für einen kurzen Anruf bei Dr. Welti. Für heute Abend war Zürich jedenfalls gestorben. Aber Welti war ein Gentleman. Ja, kein Problem. Morgen? Nein, morgen ginge nicht, wichtiger familiärer Anlass. Outdoor. Übermorgen sehr gerne. Außerdem würde eventuell Herr Gouldens noch heute Abend bei ihm eintreffen, der könne Chloe ja dann morgen in Kenntnis setzen. Uf Wiederluege.

Jeremy? Flog heute noch in die Schweiz? Dann musste bei der Stiftung wirklich Land unter sein. Chloe schenkte sich ein Glas Wasser ein und versuchte sich jenen fünfzehnten Geburtstag ins Gedächtnis zu rufen. Der scheußliche Apfelkorn. Der scheußliche Koreaner.

Mirjam kam zurück. Wollte die Flasche öffnen und stellte fest, dass sie sich im Regal vergriffen hatte und die Flasche statt des üblichen Drehverschlusses einen „Zapfen“ hatte. Sie verschwand, um den Korkenzieher zu suchen, und ließ Chloe mit ihren Gedanken allein.

Zuerst war es eine ganz normale Geburtstagsfeier gewesen, auf der Schwelle vom Kinder- zum Jugendgeburtstag. Statt lustige Spiele zu spielen, hatten sie zusammen Pizzableche belegt, alkoholfreie Cocktails gemixt und sich Musikvideos auf MTV angesehen. Britney Spears und so weiter. Bis Marcus dann irgendwann diese Flasche Apfelkorn hervorgezaubert hatte. Da waren die meisten schon gegangen. Außer Mirjam und ihr, den einzigen Mädchen, waren nur noch Marcus und Miguel da gewesen. Und eben Pak. Es war, soweit sie sich erinnerte, das einzige Mal, dass er je bei einer ihrer Partys dabei war.

„Der isch aba guat.“ Mirjam ließ ihrem Probierschluck ein reich gefülltes Glas folgen und beschickte Chloes Glas auf ähnliche Weise. Chloe erhaschte einen Blick auf das Etikett. Statt des leichten Schweizer Chasselas hatte Mirjam im Nachbarregal des Weinkellers einen gereiften burgundischen Montrachet erwischt, der wohl irgendetwas zwischen 40 und 400 Franken gekostet hatte. Jedenfalls endlich ein Wein in einer Kategorie, die Chloe etwas zu sagen hatte.

„Kannst du dich noch daran erinnern, dass du ihn geküsst hast? Bevor du gekotzt hast?“ – „Pak? Wahrscheinlich war das ebender Grund, warum ich gekotzt hab.“ – „Wer ist denn auf die Idee mit dem Flaschendrehen gekommen?“ – „Keine Ahnung. Einer der Jungs, wahrscheinlich Marcus. Fand es wohl lustig, seinen koreanischen Freund in die dekadenten Spielchen der westlichen Jugend einzuweisen. Der hat sich erst etwas geziert, aber später, so ab dem dritten Glas Apfelkorn, hat er ganz schön die Sau rausgelassen. Also, ich meine ... Zunge hatten wir jedenfalls nicht ausgemacht.“

Verschwommene Erinnerungen stiegen in Chloe auf, an eine Zeit, da alles Sexuelle noch verwirrend, verboten, diabolisch und wunderbar war, Lust und Schuld eng beieinanderlagen. Wie der Mädchen gegenüber sonst so abweisende Koreaner plötzlich kaum mehr zu bändigen gewesen war, das pubertäre Spiel plötzlich zu kippen drohte: in einen Abgrund, der voller Verheißung war. Unheimlich, mit welcher Gewalt sich der Kerl einfach nahm, was er wollte, und wenn es nur ein Kuss war; brutal, animalisch, aber doch (und eben deshalb) auch von einem verführerischen exotischen Reiz. Und dann war Mirjam auf der Toilette verschwunden, und Marcus und Miguel durchstöberten die Bar von Marcus’ Vater nach Flaschen, bei denen es nicht auffallen würde, wenn etwas fehlte, und sie war mit Pak allein im Raum gewesen und dann ... Und dann? Sie war offenbar auch sehr betrunken gewesen. Dann waren sie übereinander hergefallen. Tatsächlich. Jetzt erinnerte sie sich wieder. Er über sie? Sie über ihn? Vielleicht die Welt über sie beide, sie wusste es nicht. Aber dass sie diesen Moment all die Jahre über vergessen – verdrängt? – hatte ... Und da war noch was, da lag ihr noch etwas auf der Zunge ... nicht nur der fremde, würzige Geschmack des sich gegen sie drängenden Asiaten. Was war das ...

„Wie ist der Abend denn ausgegangen?“

Chloe schreckte hoch. Mirjams Frage riss sie aus dem Flashback in ihre Jugend. Nein, es war nicht wirklich etwas passiert. Ihre Jungfräulichkeit hatte sie erst Jahre später verloren, erst in Küsnacht. Aber irgendwas war eben doch geschehen, in jener Küssnacht in Liebefeld.

„Entschuldige mich bitte einen Augenblick.“ Einen Moment später stand sie im Bad, kippte sich Wasser übers Gesicht, rieb sich Hände und Arme mit Seife ein. Minuten darauf war sie wieder bei Mirjam im Wohnzimmer. Und die war unerbittlich.

„Jetzt sag schon. Das große Finale!“

„Nix Finale. Antiklimax. Ich erinnere mich jetzt, dass Pak noch versucht hat, mich zu küssen, als ihr alle aus dem Raum wart. Ganz ohne Flasche. Aber dann bist du wieder reingekommen, Gott sei Dank, mit kreidebleichem Gesicht, und kurz darauf hat ihn, wie immer, der Mercedes abgeholt. Marcus’ Vater hat uns nach Hause gebracht. Wir haben ihm irgendwas vorgeschwindelt, du hättest dir an den Erdnussflips den Magen verdorben oder so. Wie das damals eben so war.“

„Tja, die wilden Jahre. Aber man kann nun mal nicht ewig fünfzehn sein. Und dreißig plus hat auch Vorteile. Prost!“ Sie ließen die Kelche klirren. „Und dann?“, fragte Mirjam. „Wie ging das mit Pak eigentlich weiter? Waren wir nicht noch ...“

„Am Montag drauf war er abweisend wie immer. Ich bin ihm auch aus dem Weg gegangen. Klar, bei den peinlichen Erinnerungen.“

„Und du meinst, deshalb hat er Marcus jetzt umbringen lassen? Weil ihm das mit dem Flaschendrehen peinlich ist? Damit keiner erzählen kann, dass er in seiner Jugend mal knülle mit Mädchen geknutscht hat? Das ergibt doch keinen Sinn. Vielleicht machen die drüben in Nordkorea so was. Aber doch nicht hier in der Schweiz.“

Ja, seufzte Chloe. Das sah sie ähnlich.

„Außerdem ist da immer noch Miguel, der meines Wissens jetzt irgendwo in Brasilien im Regenwald Paranüsse anbaut, dort dürfte er schwer zu finden sein. Und du und ich natürlich.“

„Nun gut“, sagte Chloe langsam. „Das ist eben das Problem. Das ließe sich ändern.“ Ruckartig wandte sie sich zu Mirjam. „Du, ich bräuchte jetzt dringend mal eine Zigarette. Habt ihr einen Balkon oder soll ich vor die Tür gehen?“

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