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Berlin, Tegeler See

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Die Borsig-Villa auf der Halbinsel Reiherwerder ist von drei Seiten her vom See umgeben. Der mit dem Bau von Dampflokomotiven unermesslich reich gewordene Großindustrielle Ernst Borsig ließ sich das protzige, dem Potsdamer Schloss Sanssouci nachempfundene Palais in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg erbauen, um seinem Reichtum ein Denkmal zu errichten. Heute gehört die Villa der Akademie Auswärtiger Dienst und dient als Gästehaus des Außenministeriums. In ebendieser Villa sollte an diesem Februarnachmittag das inoffizielle Treffen der nordkoreanischen Delegation mit hochrangigen ehemaligen US-Diplomaten stattfinden. Offiziell kreuzten sich die Wege der beiden Gruppen überhaupt nicht. Die beiden im Gästehaus einquartierten US-Vertreter waren Teilnehmer einer Tagung zum Thema Brennpunkt Ostasien, die von der DGAP, der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik, veranstaltet wurde, einem Thinktank, ähnlich dem Aspen-Institut, der seine Zentrale in der Rauchstraße im Botschaftsviertel Berlin-Tiergarten hat. Die koreanische Delegation wiederum war zu Gast bei einer Kulturkonferenz unter dem Motto „East meets West“, die ebenfalls nicht in der Villa Borsig, sondern in den direkt daneben gelegenen neuen Gebäuden der Akademie Auswärtiger Dienst stattfand, wo das Auswärtige Amt Fortbildungsmaßnahmen veranstaltet. Die Borsig-Villa war gewählt worden, weil sie sich leicht abschirmen lässt und sich hier eine diskrete Begegnung gut arrangieren ließ. Punkt 17 Uhr, unmittelbar mit dem Ende der Kulturkonferenz, sollten die nordkoreanischen Delegationsteilnehmer von einer gepanzerten Limousine am Akademiegebäude abgeholt und die wenigen Meter zur Villa hinüberkutschiert werden, wo in einem Zimmer im ersten Stock die US-Diplomaten auf sie warteten.

Nach dem Attentat vom Vortag und einer Gefahrenwarnung aus Geheimdienstkreisen waren die Sicherheitsvorkehrungen verstärkt worden. Beamte der GSG 9 hatten die Umgebung weiträumig abgeriegelt. Der Tegeler See war auf einer Linie nördlich der Inseln Scharfenberg und Lindwerder bis hinüber zur Bernauer Straße für den Schiffsverkehr und das Landgebiet zwischen der DLRG-Rettungsstation an der Lieper Bucht und dem Malchseegraben für den Auto- und Fußgängerverkehr gesperrt worden. Diese Zone endete kurz vor der Landzunge, die die Nebenbucht Große Malche vom Tegeler See trennt. Dort steht unter alten Eichen die imposante Skulptur „Der archaische Erzengel von Heiligensee“, ein Denkmal für die in Berlin-Heiligensee verstorbene Künstlerin Hannah Höch.

Keine zehn Meter vom „archaischen Erzengel“ entfernt stieg an diesem sonnigen Februarnachmittag, von Bäumen und Schilf verdeckt und für die weiter oben an der Großen Malche positionierten Polizisten unsichtbar, eine in einen schwarzen Neoprenanzug gehüllte Gestalt lautlos in die eisigen Fluten des Tegeler Sees. Der kleine Buckel auf ihrem Rücken war eine Sauerstoffflasche. Das Wasser war hier flach, aber tief genug, dass man schwimmen und untertauchen konnte. Eine zweite dunkle Gestalt, die nun nicht mehr von Hilfe sein konnte, entfernte sich in Richtung Gabrielenstraße. Ein paar Luftblasen stiegen an die Oberfläche, und bald war da unter Wasser nur noch ein dahingleitender Schemen, der vielleicht eher ein Hecht oder ein anderer großer Raubfisch sein konnte. Doch steuerte der große Fisch nicht die streng bewachte Halbinsel Reiherwerder an, sondern wählte einen etwas längeren Weg. Als sich von den Bootsstegen des Ruder-Clubs Tegel 1886 her ein blau gestrichenes Polizeiboot näherte, tauchte der dunkle Fisch tiefer ab. Das Polizeiboot fuhr weiter, um nahe der Gaststätte Seepavillon am nördlichen Ende von Reiherwerder Position zu beziehen. Weitere Polizeiboote patrouillierten südlich zwischen der Lieper Bucht und der Südseite der weiter draußen im See liegenden unbewohnten Insel Hasselwerder.

Der große Fisch stieg wieder auf. Mit kräftigen Zügen schwamm er knapp unter der Wasseroberfläche auf das gut fünfhundert Meter entfernte Nordufer von Hasselwerder zu. In den Schatten der dicht am Ufer stehenden Bäume tauchte er auf, verwandelte sich wieder in eine schwarze Gestalt und verschwand im Buschwerk. Aus einem Versteck zog die Gestalt das Präzisions-Scharfschützengewehr M 40, das, zerlegt und in einem wasserdichten schwarzen Sack verpackt, zwei Tage zuvor dort verborgen worden war. Mit geübten Handgriffen setzte sie die Waffe zusammen und schraubte ein Infrarot-Zielfernrohr auf. Damit konnte man noch über eine Entfernung von einigen Hundert Metern hinweg ein Ei treffen. Die Gestalt band es sich mit Gummischlaufen auf den Rücken ihres Neoprenanzugs und kroch nahezu unsichtbar zwischen den Baumstämmen auf die der Halbinsel Reiherwerder zugewandte Spitze der kleinen Insel zu. Sie kannte den Weg.

An der Spitze der Insel neigte eine Weide ihre kahlen Äste ins Wasser und bot in den wachsenden Schatten der Dämmerung hinreichend Schutz vor etwaigen drüben auf Reiherwerder positionierten Scharfschützen. Die dunkle Gestalt befand sich nun direkt gegenüber dem etwa 250 Meter entfernten Bootssteg der Borsig-Villa, von dem, zwischen entlaubten Bäumen, ein schnurgerader Weg die wenigen Meter bis zum ringförmigen Vorplatz der Villa führte. Stolz wehte die deutsche Flagge auf dem Dach des stattlichen neobarocken Baus.

Die Gestalt blickte auf ihre Taucheruhr. 16.57 Uhr. Punkt 17 Uhr sollte die Veranstaltung in der Akademie Auswärtiger Dienst beendet sein und unmittelbar danach eine Mercedes-Limousine auf den Vorplatz der Villa gerollt kommen. Die Gestalt würde warten, bis der Wagen hielt und die Türen sich öffneten. In dem Moment, wo die Insassen den Wagen verließen, musste sie handeln. Sobald die Ausgestiegenen auch nur zwei, drei Schritte zur Villa hin zurückgelegt hätten, wären sie aus diesem Winkel nicht mehr zu erreichen.

Minuten vergingen. Die Gestalt atmete tief durch. Wenn sich der Wagen weiter verspätete, würde es schwierig. 17.09 Uhr war Sonnenuntergang, dann wäre es bald zu dämmrig für einen präzisen Schuss.

Dann, Autoscheinwerfer. Ein dunkler Wagen fährt langsam an, stoppt. Jemand steigt aus. – Halt, noch nicht. Der Fahrer.

Der Chauffeur geht um den Wagen herum, öffnet die Türen. Eine vorn, zwei hinten. Drei Männer in Anzügen kommen heraus. Das ist der Augenblick, auf den die dunkle Gestalt gewartet hat. Jetzt.

Konzentriert hebt sie das lange Gewehr, legt an, zielt sorgfältig, atmet ein und hält die Luft an. Jetzt, oder es ist zu spät.

Der Finger krümmt sich am Abzug. Jetzt.

Die dunkle Gestalt drückte ab. Es klickte.

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