Читать книгу Korea Inc. - Karl Pilny - Страница 22
Berlin, Insel Schwanenwerder
Оглавление„Mie! Was machen Sie hier?“
„Ist die Frage nicht etwas unhöflich, verehrter Herr? Ich dachte, wir haben eine Verabredung. Oder habe ich Sie da missverstanden?“
„Nein ..., das heißt, ja, entschuldigen Sie ... Ich dachte nur ...“ Sie lächelte ihn undurchdringlich an, was ihn vollends aus der Fassung brachte. Das Lächeln wirkte zugleich vorwurfsvoll wie ironisch und spielerisch, so dass es Jeremy unmöglich war zu entscheiden, ob sie den Vorwurf ernst meinte. Seine offenkundige Verwirrung ließ ihr Lächeln nur breiter werden. Aber es schien eher ein liebevolles Lächeln zu sein. Ihre Mandelaugen strahlten und sofort war er wieder ihrem Bann verfallen. „Ich dachte nur, Sie kämen nicht und ... Ich freue mich so, dass Sie da sind!“ Das war vielleicht ein wenig zu enthusiastisch aus ihm herausgeplatzt – schließlich hatte er es hier mit einer reservierten Asiatin zu tun, die er kaum kannte –, deshalb schob er sofort nach: „Aber wie sind Sie auf das Grundstück gekommen?“
„Durch die Gartenpforte am See. Aber ...“ Sie griff von innen nach der Klinke des Seitentürchens am Tor und siehe da: Die Tür öffnete sich. „... heraus geht es durch die Vordertür.“
„Moment!“ Jeremy trat hinein. „Jetzt möchte ich selbst noch einen näheren Blick auf das Geburtshaus meiner Großmutter werfen.“
„Bitte sehr.“ Mie machte eine tiefe Verbeugung wie ein koreanischer Pförtner vor einer hochgestellten Persönlichkeit und wies die Auffahrt zur ockergelben Villa hinauf. „Wir sind ungestört. Hier war mit Sicherheit seit Wochen keiner zu Hause.“
Während sie sich dem Haus näherten, erfuhr Jeremy von Mie die Einzelheiten ihres unverhofften (und doch so erhofften) Erscheinens. Tatsächlich war er der Unpünktliche gewesen. Mie war pünktlich um drei am Haus gewesen, und als Jeremy nicht erschienen war, hatte sie begonnen, das Umfeld zu erkunden. Beim Versuch, um das Haus herumzugehen, hatte sie sich jedoch in einem Gewirr aus vermeintlichen Gehwegen, Büschen und Mauern verirrt und war plötzlich unten am Wannsee-Ufer gestanden. Nun hatte sie sich einen Weg durch Schilf und Schlamm bahnen müssen, bis sie sich vor einer Gartenpforte mit der Aufschrift „Inselstraße 40a“ wiedergefunden hatte.
„Und nun bin ich hier.“
Ja, das war sie. Ihr schwarzes Haar glänzte in der schwächer werdenden Nachmittagssonne und ihre dunklen Augen blitzten, wie wenn es einzelnen Sonnenstrahlen gelingt, durch dichtes Astwerk einen Weg auf den schwarzen Spiegel eines verborgenen Waldsees zu finden. Schön war sie. Schön, rätselhaft und abgründig – wie der Waldsee. Und mutig. Brach die einfach in das Grundstück einer leerstehenden Millionärsvilla ein, als sei das das Selbstverständlichste der Welt!
„Hier ist also Ihr eigentliches Elternhaus?“ Sie waren vor der stattlichen ockergelben Villa angelangt, die mit ihren verschlossenen Fensterläden aus braunem Holz wie schlafend dalag.
„Nein, nicht eigentlich mein Elternhaus. Meine Großmutter mütterlicherseits, eine geborene Goldmann, ist hier aufgewachsen, bevor die Familie in den dreißiger Jahren zum Verkauf des Hauses gezwungen wurde. Sie ist dann nach London emigriert. Das Haus wurde zwangsversteigert. Vermutlich hat es sich irgendeine Nazigröße unter den Nagel gerissen. Keine Ahnung, wer heute hier wohnt.“
„Momentan offenbar niemand. Jedenfalls nicht heute.“
„Sicher das Sommerhäuschen eines reichen Unternehmers, der über schmutzige Waffengeschäfte mit Despotenstaaten ein Vermögen angehäuft hat, das er den Winter über auf den Bahamas zum Fenster hinauswirft, während andere dafür hungern und sterben müssen.“ Jeremy zuckte die Schultern. „Meines Wissens hat die Familie meiner Großmutter nach dem Krieg ein Verfahren zur Rückerstattung angestrengt, das aber unter fadenscheinigen Begründungen abgewiesen wurde. Gleich nebenan befand sich übrigens die Reichsbräuteschule, wie ich gelesen habe. Dort wurden die angehenden Frauen der SS-Größen in den Grundlagen von Rassenkunde und Vererbungslehre unterrichtet mit dem Ziel, sie im Sinne der nationalsozialistischen Familienpolitik für die arische Fortpflanzung zu instrumentalisieren. Indoktrination bis ins Ehebett hinein! Können Sie sich ein derart totalitäres Regime vorstellen, das es sich zum Ziel gesetzt hat, bis in die intimsten Bereiche seiner Bürger einzudringen und sie zu kontrollieren? Der reinste Orwell! Und doch hat es das wirklich gegeben – hier, auf dieser friedlichen Insel, unter diesen hundertjährigen Bäumen.“ Jeremy machte mit den Armen eine ausladende Bewegung. „Was sagen Sie dazu?“
Mie zögerte, wirkte irritiert und schien nach den passenden Worten zu suchen. Mit einem jähen Schreck merkte Jeremy, dass er sich zu weit hatte mitreißen lassen. Er hatte hier eine Art erstes Rendezvous mit Mie, einer Koreanerin – ein Volk das höfliche Reserviertheit über alles stellt –, und ließ sich sogleich über die Intimbereiche des Ehelebens aus: ein schwerer Verstoß gegen die Regeln von Gibun und Nunchi. Schnell irgendwas sagen, Jeremy!
„Haben Sie vorhin nicht etwas von Gartenpforte und Wannsee-Ufer erwähnt? Bei meinem Rundgang habe ich feststellen müssen, dass es zwischen den Häusern nirgendwo einen Zugang zum Wasser gibt. Das wollen die elitären Bewohner wohl so. Damit der Pöbel wegbleibt. Wollen wir denen nicht ein Schnippchen schlagen? Am Ufer hat man sicher einen schönen Blick auf die sinkende Sonne.“
„So ein Zufall, das Gleiche wollte ich gerade vorschlagen! Dort unten ist auch eine Bank, da ist es sehr schön.“
„Also, gehen wir!“, antwortete Jeremy erleichtert. „Wenn uns bis jetzt keiner gestört hat, wird auch keiner mehr kommen.“ Mit Mie an seiner Seite machte sich eine gelöste Abenteuerstimmung in ihm breit. Das war eine Frau, mit der man wahrlich Pferde stehlen könnte. Und jetzt hatte sie genau das Gleiche sagen wollen. Wieder ein Beweis dafür, wie ähnlich sie dachten und wie sie sich geradezu intuitiv verstanden. Wie Seelenverwandte. Wie damals er und Yukiko. Diese gefühlte Seelenverwandtschaft war auch der Grund gewesen, warum er eben so vorgeprescht war. Wie oft hatte er mit Yukiko über dunkle Vergangenheiten gesprochen – auch über das Dritte Reich, aber mehr über dessen damaligen Bündnisgenossen Japan und dessen schreckliche Kriegsverbrechen – und dabei kein Blatt vor den Mund genommen. Er, so wurde ihm bewusst, war unversehens in seine alte Rolle gegenüber Yukiko zurückgefallen, hatte für einen Moment vergessen, dass er hier nicht die altvertraute Japanerin, sondern eine fremde Koreanerin vor sich hatte. Lass dich nicht gehen, Jeremy! Du bist hier mit einer netten Schauspielerin, die du zur Hauptrolle deines Films auserkoren hast. Erträum dir nicht das Blaue vom Himmel herunter!
Kurze Zeit später saßen sie schweigend nebeneinander auf einer grün gestrichenen Bank unten am Ufer und sahen in die späte Nachmittagssonne und über den Großen Wannsee und die hier seenartig verbreitete Havel hinaus. Ein atemberaubender Anblick aus Blau und Grün und dem leuchtenden Schimmer über dem Wasser, mit dem die Sonne eine Verbindungsstraße zum anderen Ufer zu legen schien. Über diese Straße wollte Jeremy mit Mie auf ihren gestohlenen Pferden reiten, im goldenen Licht, immer der großen Sonne folgen, auf dass sie nie untergeht!
Mie hatte sich dicht neben Jeremy gesetzt, ohne ihn aber zu berühren, und die körperliche Nähe verschlug ihm die Sprache. Er wollte sie so viel fragen – ob sie mit J. D. gesprochen und die Rolle angenommen hatte, warum er sie telefonisch nicht hatte erreichen können, was sie überhaupt für ein Mensch war und welche Bedeutung sie im Begriff stand, für sein Leben anzunehmen. Aber Ersteres konnte noch ein wenig warten, die Frage nach den Anrufen könnte ihr unangenehm sein, gegen ihr koreanisches Taktgefühl verstoßen, und er würde sie also zurückstellen, bis er das mit der Rolle geklärt hatte. Und auf die beiden letzten Fragen hätte wohl auch sie keine Antwort gewusst.
So war er oft auch neben Yukiko gesessen, vor langen Jahren, sie hatten stumm geschwiegen, und er hatte sich ihr, der Japanerin aus einer fernen, fremden Kultur, die zugleich auch einfach eine schöne, begehrenswerte Frau war, so nah und zugleich so fremd gefühlt. Solange er schwieg, konnte er sich ganz auf diese Nähe konzentrieren, sie in sich aufsaugen und genießen. Und so schwieg er. Auch jetzt. Und Mie schien es offenbar ebenso zu gehen. Die Seelenverwandte.
Über das Gras neben ihnen hüpfte eine Amsel, ohne Scheu pickte sie hierhin und dorthin, flatterte ein Stück näher, pickte weiter. Beide richteten sie ihre Blicke auf die Amsel, als sei sie das interessanteste und seltenste Wesen der Welt. Ein Lied kam Jeremy in den Sinn. Eines seiner Lieblingslieder. Als Jugendlicher hatte er es sogar einigermaßen auf der Gitarre spielen können. Halblaut fing er an zu singen.
Blackbird singing in the dead of night
Take these broken wings and learn to fly
All your life – you were only waiting for this moment to arise
Blackbird singing in the dead of night
Take these sunken eyes and learn to see
All your life – you were only waiting for this moment to be free
Blackbird fly, blackbird fly – into the light of the dark black night
Mie sah ihn zuerst überrascht, dann leicht belustigt an und schließlich schien sie einfach nur zu lauschen. Als er geendet hatte, fragte sie: „Ein englisches Kinderlied? Sehr hübsch!“
Jeremy fuhr zu ihr herum: „Sagen Sie bloß, das kennen Sie nicht? Blackbird von den Beatles!“
Mie eröffnete ihm, leicht entschuldigend, dass sie sich nie viel aus westlicher Popmusik gemacht habe. Auch nicht aus K-Pop. Sie mochte die alte koreanische Musik. Volkslieder. Keinen seichten Pop.
„Aber Blackbird ist mehr als Pop! Das ist große Kunst. Mit einer großen politischen Aussage! Die Amsel, so hat Paul McCartney erklärt, das ist die unterdrückte schwarze Frau, die sich erhebt und frei wird. Das ist eine Hymne an die Bürgerrechtsbewegung, an Frauen wie Angela Davis und so weiter. Und ein großes poetisches Bild für die Freiheit als Ziel und Verheißung. So wie in dem deutschen Lied Auf einem Baum ein Kuckuck, wenn Sie schon Volkslieder wollen. Das hat mir meine Großmutter immer vorgesungen, als ich ein Kind war. Sie, die politisch Verfolgte, aus der Heimat Vertriebene, hat sich immer sehr für die Freiheit eingesetzt. Da geht es um einen Kuckuck, der auf einem Baum sitzt und singt, und dann wird er vom bösen Jäger erschossen und ist tot – aber im nächsten Jahr ist er wieder da und singt. Meine Großmutter hat erklärt, dass das Lied eine versteckte politische Hymne aus dem 19. Jahrhundert darstellt. Die Freiheit wird sich immer durchsetzen, egal wie oft und von wie vielen sie mit Waffengewalt, mit Mord- und Totschlag unterdrückt wird. Der Drang zur Freiheit ist nicht totzukriegen und wird letztlich siegen. Der Moment zum Aufsteigen, Davonfliegen und Freisein wird endlich kommen. We shall overcome!“
Jeremy merkte, dass er sich erneut in eine seltsame Erregung geredet hatte. Er sprang auf, hob einen flachen Kiesel vom Ufer auf und warf ihn knapp über der Wasserlinie in den windstillen See hinaus. Er sprang vier- oder fünfmal auf, bevor er im Wasser versank. Dann richtete sich Jeremy auf und blickte in der beginnenden Abenddämmerung nach Westen in Richtung Kladow und zur Pfaueninsel hinaus. „Kaum zu glauben, dass irgendwo dort drüben vor fünfundzwanzig Jahren noch die Mauer stand“, sagte er dann, zu Mie gewandt. „Macht Ihnen das nicht Hoffnung auch für die Zukunft Ihres Landes?“
Wieder dieses verlegen-höfliche Lächeln. Wieder hatte er sich zu weit hinreißen lassen. Man sprach, höflichkeitshalber, Koreaner nicht auf die Teilung ihres Landes an. Aber jetzt war es zu spät, schnell das Thema zu wechseln. Mie wandte ihm ihr Gesicht zu. „Ich sehe, Sie sind ein politisch bewegter Mensch“, sagte sie, weiterhin lächelnd. „Ein Mann mit einer Vision. Das ist gut, wenn man Filme macht.“
„Richtig.“ Jetzt war sie also in einer für sie eher unangenehmen Situation selbst aufs Thema zu sprechen gekommen. Clever. „Das sehe ich auch so. Mein Film soll seinen Beitrag dazu leisten, alte Gräben zu schließen und die Welt ein klein wenig besser zu machen. Ein Film für Freiheit, Aufklärung und Versöhnung. Mie –“ Er streckte pathetisch die Hände aus. „Wollen Sie meine weibliche Hauptrolle werden?“
Sie sah ihn mit einem belustigten, aber freundlichen Lächeln an, als habe ihr gerade ein reicher älterer Herr einen überschwänglichen, aber nicht ganz ernst zu nehmenden Heiratsantrag gemacht.
Sie schwieg einen Moment, wie grübelnd. „Vielleicht schon“, sagte sie dann. „Aber haben Sie sich das auch gut überlegt?“
„Sehr gut. Und jetzt ist es genug. Oh, Mie – dai suki desu!“, entfuhr es ihm. Zu spät bemerkte er, dass er erneut zu weit vorgeprescht war und sich dazu noch peinlich in der Sprache vergriffen hatte.
Sie lachte nur und antwortete in einem langen, wohlklingenden Wortschwall. Nicht alles verstand er, zu eingerostet waren seine Japanischkenntnisse. Ihre dagegen waren verblüffend. Dass sie sich freue, sagte sie. Dass auch er ihr keineswegs gleichgültig sei. Und dass es ihr eine Ehre wäre, ihm eines Tages die koreanische Entsprechung seiner Worte beizubringen. So oder so ähnlich ihre Antwort.
„Ach, Mie, entschuldigen Sie, ich bin heute so verwirrt!“ Und zu Recht: Erst erinnerte sie ihn auf geradezu unheimliche Weise an seine verlorene Liebe aus Kyoto, und jetzt sprach sie auch noch ein makelloses Japanisch. Diese Frau war wirklich voller Rätsel.