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Küsnacht

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Anders als etwa die schlossartige Residenz der Rockröhre im Ruhestand, Tina Turner, und ihres deutschen Gatten lag das Anwesen der Familie Bodmer nicht unten am Ufer des Sees, sondern es befand sich, unweit der Villa des russischen Oligarchen Wiktor Felixowitsch Wekselberg, an der Goldbacher Straße oben auf dem Hügel.

Natürlich war es nicht das einzige Haus der Familie. Unter ihren Schweizer Besitztümern war neben dem Chalet in Gstaad vor allem das alte Stammhaus in Liebefeld bei Bern zu nennen. Das Haus in Küsnacht hatte Beat Bodmer erst kurz nach der Jahrtausendwende erworben, als seiner anfänglich schwächelnden Bankenneugründung Century plötzlich die Gelder nur so zuflossen. In seiner nachempfundenen Bauhaus-Ästhetik war es nicht unbedingt schön, aber eben schön gelegen. Von außen sah es aus wie ein Bunker. Unverputzter Beton unterstrich die kantige Fassade. Wie das Maul eines Haifischs hatte sich das Haus tief in den Hang hineingefressen. Aus den riesigen Panoramafenstern hatte man einen fantastischen Blick über den See.

Chloe Bodmer hatte ihren Bunker auf dem Berg den ganzen Tag nicht verlassen. Heute Morgen, bald nach Lektüre jenes ominösen Zeitungsartikels und nachdem sie sich erst einmal ausführlich ihrer Morgentoilette gewidmet hatte, hatte sie bei der Bank angerufen und sich krankgemeldet. Sie hätte es nicht ertragen, noch einmal auf jene drei Ostasiaten mit dem Hund zu stoßen. Sie war sich fast sicher, wäre sie ihnen heute begegnet, wären zwei Hunde dabei gewesen.

Sie fühlte sich nicht wohl, ganz allein in dem großen Haus. Chloe hatte ihren Hauptwohnsitz inzwischen eigentlich in ihrem Penthouse in der Stadt, hatte ihr altes Jugendzimmer in Küsnacht aber behalten. Jetzt, wo Beat im Spital war, empfand sie es nachgerade als ihre Pflicht, das Familienheim zu hüten. Nach wie vor liebte sie das luxuriöse Anwesen oben auf dem Hügel der Reichen. Hier hatte sie in ihrer Jugend rauschende Partys gefeiert, hier war sie der Schwarm der besten Kreise Zürichs gewesen, hier hatte sie ihre Unschuld verloren.

Aber heil war auch diese Welt niemals gewesen. Heil: Das war, als die Bank ihren Sitz noch in Bern gehabt hatte. Als ihre Eltern noch zusammen gewesen waren. Als ihre Mutter nur so viele Tabletten genommen hatte, dass sie irgendwann wieder aufwachte. Und die Geschäfte zwar schlecht liefen, doch die Menschen gut schliefen. Zumindest einer: sie, die junge, unbekümmerte Gymnasiastin Chloe.

Damals war sie mit Marcus zusammen gewesen, dem Basketballtrottel. Der natürlich irgendwie ganz nett war. Der ihr den ersten Kuss gegeben hatte. Und das schon einige Monate vor dem Flaschendrehen an seinem fünfzehnten Geburtstag.

Da hatten ihr auch einige andere Küsse gegeben. Doch das zählte nicht. Wer war da eigentlich noch dabei gewesen, am Ende dieser Geburtstagsparty, als alles etwas aus dem Ruder lief? Mirjam, klar, Miguel, Marcus’ portugiesischer Basketballpartner, und dann dieser seltsame Koreaner Pak. Oh nein, nicht wieder diese blöde Geschichte. Sie zuckte zusammen. Nicht wieder diese blöde Geschichte. Bitte nicht.

Sie hatte in ihrem Herzen nie daran geglaubt. Damals nicht, als er gegenüber Marcus davon geprahlt haben sollte. Ihm ein Foto zeigte, das ihn, Pak Un, neben einem Mann zeigte, der angeblich der koreanische Staatsführer war. Marcus interessierte sich damals nicht für Dinge, die mit Basketball nichts zu tun hatten, und so hatte er mit dem Bild nichts anfangen können. Und auch jetzt, als die Zeitungen das Gerücht verbreitet hatten, hatte Chloe alledem kaum Beachtung geschenkt. Pak Un mit seinem albernen Trainingsanzug und den Nike-Air-Jordan-Turnschuhen. Der immer bei Marcus abgeschrieben hatte. Mit den Rettungsringen am Bauch, die er sich auch durch unermüdliches Basketballspiel nicht hatte abtrainieren können. Der Sohn eines Diplomaten aus der koreanischen Botschaft, mein Gott, sie waren damals im Schulhaus Steinhölzli alle etwas Besseres gewesen. Der nordkoreanischen Botschaft, aber das hatte für sie keinen Unterschied gemacht. Für sie war er immer ein Rüpel gewesen, und das hatte Pak Un bei jener Geburtstagsparty ja auch bewiesen.

Kurz danach hatte er die Schule vom einen auf den anderen Tag verlassen, und keiner hatte je erfahren, was aus ihm geworden war, jedenfalls über lange Jahre hinweg. Nicht, dass sie das sonderlich interessiert hätte. Aber jetzt ... Ein Koreaner in ihrer Klasse. Dann diese lächelnden Ostasiaten mit ihrem Hund. Essen die Koreaner nicht Hunde? Marcus jedenfalls hatten wiederum die Hunde gegessen. Zumindest Teile von ihm. Und jemand hatte ihr den Artikel ins Zeitungsrohr gesteckt. Das gehörte alles irgendwie zusammen. Und das waren keine angenehmen, keine harmlosen Zusammenhänge.

Sie trat auf den Balkon hinaus. Sie brauchte jetzt noch eine „Eve 120“. Vom Balkon konnte sie bis hinunter auf die dunkle Wasserfläche schauen. Von irgendwo dort unten drang grelles Hundegekläff herauf. Das schien ihr ein ganzes Rudel zu sein.

Ohne eine Valium würde sie heute Nacht nicht schlafen können. Mindestens eine. Aber erst einmal unter die Dusche.

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