Читать книгу Korea Inc. - Karl Pilny - Страница 50
Berlin, Polizeistation Tegel
ОглавлениеEin roter Backsteinbau. Daneben ein altes Industrietor. Dahinter, einige Dutzend Meter weiter, ein angestrahltes Gebäude. Der Borsig-Turm im Zentrum der ehemaligen Eisenbahnfabrik des gleichnamigen Industriellen ist eines der bedeutendsten Industriedenkmäler Berlins. Doch Jeremy war im Moment nicht nach Sightseeing zumute.
Mie war auf Schwanenwerder einfach verschwunden. Sein Verdacht, der Geheimdienst habe sie in seinen Fängen, hatte sich nicht bewahrheitet, sofern man denen Glauben schenken durfte. Doch jetzt sollte Jeremy eine tote Frau identifizieren, von der der Geheimdienst annahm, sie könne eventuell Mie sein. Das ergab nur dann einen Sinn, wenn sie nicht vom Geheimdienst festgehalten wurde.
Nein, falsch. Es ergab auch dann keinen Sinn. Unter keinen Umständen der Welt ergab es Sinn, dass Mie tot sein konnte. Es musste ein Irrtum vorliegen. Jeremy war sich hundertprozentig sicher. Warum dann das beklommene Gefühl, das ihm die Brust zu zerreißen drohte?
Er wurde in ein von kaltem Neonlicht grell ausgeleuchtetes Zimmer geführt. Walter Korff erwartete ihn, schüttelte ihm die Hand, dankenswerterweise diesmal ohne sein süffisantes Grinsen. Das machte ihn um keinen Deut sympathischer.
Korff stellte ihn der Rechtsmedizinerin vor, einer gewissen Frau Dr. Dürkopp-Freiesleben. Sie war um die fünfzig und musterte Jeremy ausdruckslos aus bunt geschminkten Augen. Jeremy fand, dass sie ein wenig an einen exotischen Vogel erinnerte, vielleicht einen Kakadu. Ohne weitere Worte führten ihn Korff und Frau Dr. Dürkopp-Freiesleben in ein nicht minder grell und kalt erleuchtetes Nebenzimmer. Ein lang gestreckter Tisch. Ein ausgebreitetes weißes Laken. Darunter die Umrisse eines menschlichen Körpers. Jeremy schluckte den Drang hinunter, einfach aus dem Raum zu rennen und dieses surreal makabre Schauspiel ins Reich der Alpträume zu verbannen.
„Sind Sie bereit?“, fragte Korff. Jeremy konnte nur schlucken und nicken. Korff gab der papageienhaften Rechtsmedizinerin ein Zeichen. Sie zog der Leiche das weiße Laken vom Kopf.
Mie! Mie? War das Mie?!
Jeremy verschwamm alles vor den Augen und ihm schlug das Herz so heftig, dass er das Gefühl hatte, ihm würden die Lungen zusammengedrückt, bis sie platt waren wie Wiener Schnitzel. Er bekam keine Luft mehr. Gleichzeitig glaubte er, sich gleich erbrechen zu müssen. War es so, wenn man ohnmächtig wurde? Oder kam jetzt der Herzinfarkt? „Kann ich ... kann ich mich setzen?“
Die Medizinerin hatte ihm bereits einen Stuhl hingeschoben, auf den er jetzt herabsackte. Etwa eine Minute lang herrschte völlige Stille im Raum, von Jeremys Keuchen und Herzklopfen einmal abgesehen.
„Das ist also die Frau, die Sie vermissen ...?“, begann Korff.
„Ja ... das heißt: nein ... Will sagen: Ich weiß es nicht.“
„Was heißt, Sie wissen es nicht? Sie waren doch mit ihr zusammen! Sie müssen doch wissen, wie sie aussieht.“
„Ja, natürlich ... Das heißt: Ich bin mir nicht sicher. Natürlich, ja, ich war mit ihr zusammen. Zweimal. Gestern und vorgestern. Mit Mie, meine ich. Aber ich bin mir nicht sicher, ob diese Frau hier Mie ist.“
I’ve just seen a face, I can’t forget ...
„Es besteht also eine Ähnlichkeit?“
„Ja. Ähnlichkeit. Große Ähnlichkeit.“ Das war es. Ähnlichkeit. Das Wort bedeutete eine gewaltige Erleichterung für Jeremy. Fast schien es ihm, als könne es Mie nachträglich das Leben retten. Nur dieses eine Wort. Nur eine Ähnlichkeit.
„Dann muss ich Sie bitten, noch einen genaueren Blick auf die Dame zu werfen.“ Jeremy nickte, erhob sich auf wackligen Beinen.
Eigentlich war der Anblick nicht schlimm. Eine schlafende Schönheit. Und eine Schönheit war es, zweifellos, auch wenn sie niemand mehr aus ihrem Schneewittchenschlaf würde erwecken können, der vergiftete Apfel für immer in der Kehle festsaß. Dabei hatte sie so hochrote Wangen, die fast lebendig wirkten!
Nun gut, Jeremy, erfüll deine Pflicht. Der genauere Blick. Schwarze Haare. Wie Mie. Die Länge stimmte. Der Farbton auch. Für eine Ostasiatin eher bleicher Teint, bogenförmiger Mund, zarte Stupsnase, nicht so breit wie bei vielen Koreanerinnen, rundes Kinn, schmale Mandelaugen. Auch das stimmte. Ein dunkelbraunes Muttermal am Hals. Hatte Mie ein Muttermal am Hals gehabt? Jeremy konnte sich nicht erinnern. Verflucht, er hatte die Frau doch stundenlang angestarrt! Nein, Jeremy hielt sich daran fest, eher kein Muttermal. Vielleicht ein ganz kleines. Zurück zur Frau vor ihm: keine Ohrringe, keine Ohrlöcher, die Fingernägel unlackiert. Wie bei Mie. Beim genaueren Hinsehen schien ihm die Frau zwar schön, aber doch nicht so schön. Die Wangen etwas eingefallen. Kleine Krähennester in den Augenwinkeln. War sie etwa älter? Vielleicht nicht. Die bleichen, leicht bläulichen Lippen weniger voll und etwas nach unten gezogen, was dem Gesicht einen leicht bösartigen Ausdruck gab. Aber das könnte alles auch nur Folge dessen sein, was mit der Frau passiert war. Tote tendieren dazu, nicht mehr so hübsch zu sein wie Lebende.
„Schauen Sie sich mal ihre Arme an“, forderte Korff und zog das Laken noch etwas weiter herunter. „Fällt Ihnen etwas auf?“
Die Arme? Nein. Frauenarme eben. Obwohl sie recht dick waren. Fast wie Männerarme. „Sie sind kräftig“, sagte Jeremy.
„Verdammt kräftig“, pflichtete Korff bei. „Das sind durchtrainierte Athletenarme. Sehr muskulös. Damit könnte man eine Handgranate vierzig Meter weit werfen. So etwas muss auffallen. Hatte Ihre Bekannte, Mie Chang, muskulöse Arme?“
Jeremy erinnerte sich daran, dass Mie bei ihren beiden Treffen weite, langärmlige Blusen getragen hatte. Er hatte von ihren Armen nicht viel mehr gesehen als ihre Handgelenke. Trotzdem schien es ihm, als hätten ihm derartige Muskeln bei einer Frau doch auffallen müssen. Allerdings hatte er ihr ja immerzu ins Gesicht gestarrt. Nicht auf die Arme. Nicht einmal auf die Brust. Nun ja, fast nicht. Dennoch: Jeremy hatte den Eindruck, dass Mie nicht so muskulös gewesen war. Wieder hatte er ihr ein kleines Stückchen ihres Lebens gerettet. Keine Sorge, Mie, ich krieg das schon noch hin, dass du das nicht bist.
„So muskulös? Nein, ich glaube nicht. Aber sie hat weite Blusen getragen. Ich habe ihre Arme gar nicht gesehen.“
Korff stieß schniefend die Luft aus. „Sie sind uns wirklich eine große Hilfe, Mister Gouldens. Vielleicht hätten wir Sie doch besser nach London fliegen lassen sollen. Wie genau kannten Sie die Frau überhaupt? Haben Sie Sex mit ihr gehabt? Etwaige intime Details, die uns weiterhelfen könnten? Tattoos? Arschgeweih? Intimpiercing?“
Jeremy hatte den Eindruck, dass ihn Korff bewusst provozieren oder ihm auch einfach nur wehtun wollte, um seinen Frust loszuwerden. Er drehte sich zu dem unsympathischen Deutschen um, holte tief Luft und sagte mit gefasster Stimme, jedes Wort deutlich akzentuierend: „Sehr geehrter Herr, ich kann Ihnen nicht mehr sagen, als ich bereits gesagt habe. Ich kann nur versichern, dass ich nicht mit Sicherheit bestätigen kann, dass es sich bei dieser Frau um Mie Chang handelt. Es könnte sein, aber ich glaube und hoffe, dass sie es nicht ist. Ich bitte Sie inständig, weiter nach ihr zu suchen. Wenn ich jetzt gehen dürfte? Ich fühle mich gerade sehr ... schwach.“
„Gut, Mister Gouldens. Wir bringen Sie ins Superior Mercure Airport Hotel unmittelbar am Flughafen. Da haben wir bereits ein Zimmer für Sie reserviert. Geht natürlich auf unsere Kosten. Da können Sie gleich morgen früh den erstbesten Flug nehmen und fliegen, wohin Sie wollen.“ Dann wandte sich Korff der Gerichtsmedizinerin zu. „Frau Dr. Dürkopp-Freiesleben, Sie können jetzt gehen, warten Sie draußen.“ Mit einem letzten ausdruckslosen Vogelblick verließ die Ärztin den Raum. „Und nun zu Ihnen, Mister Gouldens. Ich möchte nur betonen, dass es nicht unsere Aufgabe ist, Vermisste zu suchen – wir sind hier dabei, Verbrechen zu bekämpfen. Dabei ist uns die Leiche dieser Frau, nun ja ... in die Hände gefallen.“
Jeremy durchzuckte ein Gedanke. „Sie haben sie also ... getötet?“
„Nein“, gab Korff zurück. „Ich dürfte Ihnen das alles eigentlich nicht sagen, aber ich baue nun mal auf Ihre Kooperation und hoffe, dass im Gegenzug auch Sie uns helfen werden. Also ...“ Er hob das Laken an. „Sehen Sie hier die Fleischwunde am Schenkel? Das waren wir. Ein gezielter Schuss eines unserer GSG-9-Männer. Schmerzhaft, aber nicht tödlich. Wir haben die Frau erwischt, wie sie ein Attentat ausüben wollte, und als sie zu fliehen versuchte, musste unser Mann schießen. Aber daran ist sie nicht gestorben. Sie hat sich umgebracht.“
„Und wie?“
„Sie hat auf eine Zyankalikapsel gebissen. Wie einst Himmler, als ihr Engländer die wahre Identität eures Gefangenen herausfandet.“
Jeremy fiel ein anderes Beispiel ein, auf das er bei seinen Recherchen gestoßen war. „Oder wie ein nordkoreanischer Agent, wenn er Gefahr läuft, enttarnt zu werden.“ Jeremy erinnerte sich an die verrückte Geschichte der Agentin Kim Hyun Hee, die 1987 eine Bombe in einem südkoreanischen Verkehrsflugzeug platzierte. Damit sollten die Olympischen Spiele in Seoul 1988 torpediert, Südkorea destabilisiert und letztlich eine Wiedervereinigung nach den Bedingungen des Nordens herbeigeführt werden. Die Bombe explodierte und riss 115 Menschen mit in den Tod. Die erhofften politischen Folgen blieben allerdings aus, und Kim Hyun Hee und ihr Kompagnon gerieten beim Versuch, sich abzusetzen, auf dem Flughafen von Bahrain als verdächtige Personen ins Visier der Ermittlungen. Als sie festgenommen werden sollten, zerbissen beide in Zigaretten verborgene Zyankalikapseln. Hees Kompagnon starb, sie konnte gerettet werden, wurde nach ihrer Genesung zum Tode verurteilt, dann begnadigt, konvertierte zum Christentum und schrieb einen Insiderbericht über ihr Agentenleben.
Korff warf Jeremy einen scharfen Blick zu. „Ich gebe zu, Ihr Vergleich trifft es genauer.“
„Dann war es vielleicht gar kein Vergleich? Sondern ich habe ins Schwarze getroffen?“
Korff verzog die Lippen, stülpte sie vor. „Sagen wir mal: Es ist eine Möglichkeit. Durchaus. Noch wissen wir nichts Genaues.“
„Und die Nordkoreaner stecken letztlich womöglich auch hinter dem Anschlag auf die Botschaft? Und das mit den Islamisten ist ein Fake? Immerhin war gestern der Geburtstag von Kim Jong Il.“
Korffs Blick blieb starr. „Wie gesagt, wir wissen nichts Genaues.“
Jeremy war einerseits völlig erschlagen und verwirrt. Er wollte nur noch hier raus und anfangen loszuheulen oder sich betrinken oder einen Halbmarathon rennen oder ... er wusste nicht was. Erst war da Yukikos Verschwinden und ihr rätselhafter Tod gewesen, mit dem er sich Schritt für Schritt hatte abfinden müssen, und dann kam Mie, die wie die wiederauferstandene Yukiko wirkte, und plötzlich verschwand sie ebenfalls, und jetzt war sie womöglich ebenfalls tot, auch wenn Jeremys Bauchgefühl dagegen sprach, aber das waren vielleicht nur die falschen Hoffnungen, die er sich einredete, um nicht völlig durchzudrehen. War das nun die Geschichte, die sich als Farce wiederholte? Eine grausame Farce.
Andererseits war er zugleich hellwach, und seine geschärften Sinne sagten ihm, dass dieser Korff mehr wusste, als er sagte, und womöglich würde dieses Wissen ja dazu beitragen können, Jeremys Verwirrung zumindest ein wenig zu lindern. Diese Chance durfte er sich nicht dadurch entgehen lassen, dass er sich seinen Instinkten ergab und blind aus dem Raum stürmte, wie es sein erster Impuls gewesen war. „Hören Sie“, sagte er deshalb. „Sie haben mich gebeten, zu kooperieren. Gut, ich bin dazu bereit. Wie Sie sehen. Schließlich bin ich hierhergekommen und habe dafür meinen Flug sausen lassen, was mir nicht zuletzt jede Menge Ärger mit meiner Frau einbringen wird. Aber wenn ich kooperieren soll, dann muss ich auch wissen, worin. Dann muss ich wissen, welches Spiel hier gespielt wird. Sagen Sie mir, was Sie wissen, dann kann ich auch sagen, ob ich Ihnen helfen kann.“
„Einverstanden.“ Walter Korff nickte. „Ich habe Ihnen ohnehin schon zu viel anvertraut, um Sie hier einfach aus dem Spiel lassen zu können. Aber vielleicht suchen wir uns dafür einen angenehmeren Ort. Ohne diese stumme Ohrenzeugin hier.“ Er beugte sich über den Kopf der Toten. „Hübsches Ding, wirklich. Ein Jammer, dass sie gestorben ist, um niemals in Versuchung zu kommen, uns zu sagen, was hier wirklich gespielt wird. Offenbar wusste sie viel, wenn sie diesen Preis zu zahlen bereit war.“ Mit einem bekümmerten Kopfschütteln zog er ihr das Laken wieder über den Kopf.