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Menschenmassen als „reißender Wildbach“ – satirischer Slapstick und die bittere Realität

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Das Verkehrschaos, das oft genug nahe am Verkehrskollaps war, entwirrte sich in den folgenden Jahrhunderten nicht. Im Gegenteil, Roms Straßen litten unter chronischer Überfüllung; der „Kampf“ im Großstadtgetümmel war eine Konstante des Großstadtlebens, auf die die Allermeisten gern verzichtet hätten. Tauchten plötzlich Hindernisse auf, dann geriet der pausenlos wogende Verkehr rasch ins Stocken. Seneca vergleicht ihn an einer unverdächtigen Stelle, wo es ihm nur auf einen jedermann zugänglichen Vergleich ankommt, mit einem „reißenden Wildbach“ (torrens rapidus).13

Kein Wunder, dass dieser unangenehme, lästige, ja Angst auslösende Wildbach aus Menschenleibern den Schöpfer der schärfsten Großstadtsatire, die aus dem Altertum überliefert ist, zu einer ebenso bitteren wie vergnüglichen Abrechnung mit dem Verkehrsgewühl Roms inspiriert hat. Auch wenn man Übertreibungen vor allem bei der unterstellten Gleichzeitigkeit aller aufgezeigten Gefahren in Rechnung stellen muss, ist die dritte Satire Juvenals wegen ihrer Anschaulichkeit eine literarische Quelle, in der die als weniger lustvoll empfundene Realität sehr deutlich durchscheint. Die Perspektive ist die Sicht eines Kleinbürgers, der sich gegen die Gefahren und Zumutungen des Molochs Millionenmetropole sehr viel weniger zur Wehr setzen kann als die Angehörigen der privilegierten Oberschicht. „Die da oben“ sind selbst im römischen Verkehrschaos klar im Vorteil, „wir“, die kleinen Leute, dagegen, zahlen auch da die Zeche:

„Wenn die Pflicht ruft, dann wird der Reiche getragen – die Menge macht ihm Platz –, / und er wird hoch über den Köpfen in einer riesigen Sänfte voraneilen/ und wird dabei lesen oder schreiben oder drinnen sogar schlafen. / Trotzdem wird er früher ankommen. Uns dagegen steht, wenn wir es eilig haben, / vor uns eine Menschenwelle im Weg. Und das Volk, das uns folgt, drängt in langem Zug auf die Lenden. / Hier stößt mich einer mit dem Ellbogen, ein anderer versetzt mir mit einem harten Kantholz einen Stoß. / Der dritte aber rammt mir einen Balken, der vierte ein Fass an den Kopf. / Die Beine sind dick überzogen mit Straßendreck; bald darauf werde ich von allen Seiten / mit großen Sohlen getreten, und der Nagelschuh eines Soldaten bleibt mir im Zeh stecken.“14

Juvenals Schilderung liest sich wie die Vorlage zu einem Film-Drehbuch: die hohe Kunst des überaus anschaulichen Slapsticks, der all die Gefahren präsent werden lässt, die den kleinen Mann unablässig bedrohen, und der von der Totalen hinüberschwenkt auf die Großeinstellung, bei der man dann die klaffende Wunde sieht, die der Nagelschuh des Soldaten im Zeh des wehrlosen Verkehrsopfers hinterlassen hat …

Satire, ein weiteres Mal sei es gesagt, bildet die Realität nicht im Verhältnis 1 : 1 ab. Sie überzeichnet, überspitzt, fokussiert und dramatisiert, aber sie braucht Bezugspunkte in der Wirklichkeit, die ihr Setting wieder erkennbar machen. Juvenal verdichtet die Realität in seiner satirischen Dichtung, aber er spiegelt sie auch. Das lässt sich zumal angesichts des Quellenumfeldes nicht bestreiten: „Sein“ römisches Verkehrschaos ist keine Dys- oder Utopie.

Die Straßen von Rom

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