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Wo das Leben pulsierte – Straßen als kommunikativer Raum
ОглавлениеZu den Ursachen der Überfüllung von Roms Straßen gehörte sicher auch die Tatsache, dass das antike Rom sozusagen eine mediterrane open air society war. Das Klima lud dazu ein, einen Großteil seiner Zeit im Freien zu verbringen – und dies erst recht, wenn man an die ausgesprochen engen Wohnungen denkt, in denen das Gros der Menschen lebte. Das waren keine heruntergekommenen Slums, aber es waren aus heutiger Wahrnehmung dunkle „Löcher“, klein, beengt, ohne Toilette und oft auch ohne Kochstelle. Und das heißt: Es hatte für die meisten Menschen wenig Attraktives, sich in ihren vier Wänden aufzuhalten. Draußen pulsierte das Leben, dort gab es Bars (im heutigen italienischen Sinne), Gaststätten und ambulante Händler, die gekochte Speisen auch für den kleinen Geldbeutel anboten, dort gab es Latrinen und Waschgelegenheiten, dort musste man sich an öffentlichen Schöpfstellen Wasser besorgen, und dort kam man auf der Straße, in Kneipen oder im Circus mit Bekannten ins Gespräch, die man in der eigenen Mini-Wohnung nicht empfangen konnte.
Die meisten Menschen waren also in ganz anderer Weise darauf angewiesen, auf die Straße zu gehen, als das unter heutigen Verhältnissen der Fall ist. Das Leben spielte sich weitgehend in der Öffentlichkeit ab; die Straßen waren Kommunikationszentren, auch wenn sie voll und übervoll sein mochten. Für das soziale Leben waren sie unabdingbar und insofern trotz aller dargestellten Probleme und Widrigkeiten eine urbane Errungenschaft – was wiederum nicht ohne Rückwirkung auf die Mobilität war: Der Verkehr wurde durch diese wichtige soziale Funktion der Straßen nicht gerade beschleunigt.
Wer in unserer Zeit an „Shopping“ auch wegen des Massenandrangs in Einkaufsmeilen und Geschäften wenig Freude hat, Zeit sparen und seine Nerven schonen will, verlegt sich gern auf das, was man gemeinhin Wochenkauf nennt. Will sagen: Man packt sich den Einkaufswagen im Supermarkt randvoll, aber eben nur einmal in der Woche, und hat dann sechs Tage lang „Ruhe“. Für Menschen im alten Rom war dies keine realistische Alternative. Denn es gab in den meisten Wohnungen weder Lagerplatz für Großeinkäufe noch Kühlungsmöglichkeiten, um Lebensmittel über mehrere Tage haltbar zu machen. Zudem hatte ein Großteil der Leute schlicht nicht das nötige Kleingeld, um sich für eine Woche zu bevorraten. Rund 80 % der Römer lebten förmlich von der Hand in den Mund; Großeinkäufe ließ ihr Budget einfach nicht zu. „Das einfache Volk pflegt seine Lebensmittel von Tag zu Tag einzukaufen“, bestätigt der Historiker Tacitus dieses nicht ganz freiwillige Konsum- und Kaufverhalten der kleinen Leute.73
Einen weiteren Schub für die Massenmobilität auf den Straßen löste die Struktur des römischen Einzelhandels aus. Es gab keine Warenhäuser oder Supermärkte, in denen man sich Taschen und Körbe mit allen möglichen Waren hätte füllen können, ohne, vom Hin- und Rückweg abgesehen, einen Fuß ins Freie setzen zu müssen. Sondern es gab, wie im Kapitel „Taberna“ dargestellt,74 eine riesige Zahl von Kleinhändlern und Handwerkern, die auf bestimmte Artikel spezialisiert waren. Deren Geschäfte aber erreichte man nur, wenn man sich zwischendurch – mochte es auch nur für wenige Schritte sein – immer wieder ins Straßengewühl stürzte. Wer dann mit mehr oder weniger gut gefüllten Einkaufstaschen in den Strom der Passanten eintauchte, machte sich ob seines gesteigerten „Volumens“ auch nicht nur Freunde unter den Mitmenschen, die es besonders eilig hatten und „Shopper“ eher als Hindernisse ansahen, die ihnen den Platz wegnahmen.
Von Pompeji weiß man, dass die zahlreichen gut frequentierten Imbisse und Lokale auf den Hauptstraßen – je eine Verkaufsstelle auf 55 bis 90 Einwohner!75 – die Mobilität beträchtlich einschränkten. Zumindest von eiligen Passanten dürften sie als verlangsamende Hindernisse wahrgenommen worden sein. Das war in der Hauptstadt Rom vermutlich nicht viel anders, zumal der Anreiz, take away-Speisen möglichst nahe an der Verkaufstheke zu verzehren, hoch gewesen sein muss: Angesichts der vielen Verkehrsstockungen waren die Aussichten, dass das Essen zu Hause noch warm ankam, ausgesprochen schlecht.