Читать книгу KOMMISSAR LAVALLE UND DER SEINEMÖRDER - Karla Weigand - Страница 10
11. Juli 1789
ОглавлениеWie von einer zentnerschweren Last befreit, erhob er sich an diesem Morgen aus seinem überbreiten und äußerst bequemen Prunkbett. Noch in der Dunkelheit war er zurückgekehrt von seinem überraschend kurzfristig angetretenen zweitägigen Urlaub, den er sich einfach hatte gönnen müssen.
Diese kleine Pause hatte er gebraucht, um nicht dem offenen Wahnsinn zu verfallen – einem Wahnsinn, der für jeden deutlich zu erkennen gewesen wäre. Dazu durfte es niemals kommen. Es wäre sein sicherer Untergang …
Normalerweise nahm er sich drei oder vier, manchmal sogar fünf Tage frei. Aber er hatte auch diese wenigen Tage genossen. Den ersten seiner Feiertage verbrachte er wie üblich damit, nach einem geeigneten Individuum Ausschau zu halten. Da er mittlerweile über Routine verfügte, besaß er ein Auge für »den Erwählten«.
Demnach vermochte er den folgenden Tag ganz seinem »Opferfest« zu widmen. Wie immer war es ein genussreiches gewesen … Um Mitternacht hatte er wie üblich sämtliche Spuren getilgt gehabt, um schließlich zutiefst befriedigt den Heimweg anzutreten.
Ein paar Tage nach seinem Besuch bei Ginette ließ Lavalle sich abends erneut in der Unterkunft der Blumenfrauen sehen. Er wollte sich nach den Fortschritten erkundigen, die Luc bei seiner Bewerbung um eine Anstellung bei Hofe gemacht hatte. Irgendwie hatte er kein gutes Gefühl, als er in das krumme Gässchen in der Nähe der Kirche Saint Nicolas einbog.
Seine Ahnung trog ihn nicht. Als er Luc danach fragte, tat der Junge erst so, als verstünde er nicht recht, wovon Armand überhaupt redete.
»Ach so! Das meinen Sie, Monsieur le Commissaire!«, erwiderte er scheinheilig. »Nein, ich habe meinen Freund, der mich mit seinem Bekannten –, der den in Versailles angestellten Vetter hat –, bekannt machen will, noch nicht sprechen können. Er liegt krank zu Bett, sagt seine Mutter!«
Lavalle glaubte Luc kein Wort. Auch Ginette war über ihren Bruder verärgert, nur die Großmutter war seltsamerweise auf seiner Seite.
»Ach, ich weiß nicht recht«, begann sie, »ob diese Idee gar so gut ist. Man hört so allerlei, was mit den jungen Kerlen in Versailles passiert. Mir kam zu Ohren, dass die Jungen dort von älteren Dienern regelrecht verdorben werden!«
»So? Davon habe ich noch nichts gehört!« Armand war etwas verblüfft. »Dass es immer mal wieder vorkommt, dass ein Dienstherr sich an Schutzbefohlenen vergreift, das weiß natürlich auch die Polizei. Bei Minderjährigen gehen wir der Sache natürlich nach, falls wir davon erfahren. Aber über Versailles sind derartige Beschwerden noch niemals laut geworden. Was wisst Ihr darüber, Madame?«
Vorsichtig machte Céléstine jetzt einen Rückzieher. Wie Armand Lavalle vermutete, waren es nur Gerüchte, die üblichen Tratschereien, die auf dem Markt ausgetauscht wurden, Vermutungen ohne Beweis und bar jeder Substanz.
Als die Erwachsenen einen peinlichen Moment lang schwiegen, war es Luc, der erstaunlicherweise erneut davon anfing. Er wolle sich auf jeden Fall in Versailles bewerben, behauptete er lebhaft. »Gleich morgen besuche ich meinen Freund. Ich denke, er wird bis dahin wieder auf den Beinen sein.«
Der Kommissar ging im Stillen jede Wette ein, dass der Bursche niemals krank gewesen war und Luc das Ganze schlicht vergessen hatte. Nach ein paar flüchtigen Küssen, die er mit Ginette im Treppenhaus tauschen konnte, verließ der Kommissar das Haus. Dass seine Liebste traurig darüber war, dazu gezwungen zu sein, ihn so bald wieder gehen zu lassen, stimmte ihn selbst ganz trübsinnig. Aber um Ginettes guten Ruf zu wahren, hatte Armand noch nie bei ihr in der Wohnung ihrer Großmutter übernachtet. Ginette hatte ja nicht einmal ein eigenes Zimmer …
»Es tut mir so leid, mein Schatz! Ich habe noch keineswegs Feierabend; die Arbeit geht nun einmal vor. Wir haben einen Wink bekommen, der sich interessant anhört. Du weißt ja, selbst die winzigste Spur muss verfolgt werden, wenn es sich darum dreht, ein Verbrechen aufzuklären, oder es zu verhindern!«
»Handelt es sich dabei um den Seinemörder?«, wollte Ginette wissen. »Dann kann ich nur sagen: Pass auf dich auf, Liebster! Dieser Unmensch ist gefährlich!«
»Dazu darf ich dir nichts sagen, Chérie! Aber, glaub mir, ich wäre jetzt viel lieber bei dir, als hinter einem Verbrecher her. Und dass ich vorsichtig bin, das weißt du doch.«
In der Nationalversammlung pflegten sich jeden Tag zahlreiche Herren zu Wort zu melden. Die Rednergabe der einzelnen Referenten war allerdings sehr unterschiedlich. Da gab es gute, mittelmäßige, hervorragende, aber auch miserable Rhetoriker. Der anerkannt Beste von allen war ohne jeden Zweifel der Comte de Mirabeau. Ihm bestätigten sogar seine Gegner echtes Charisma.
Aus hohem Adel stammend, hatte er sich überraschend als Abgesandter des Dritten Standes in die »Generalstände«, sprich in die »Nationalversammlung«, wählen lassen. Sein voller Name lautete: Honoré Gabriel de Riqueti, Comte de Mirabeau. Der Edelmann war vierzig Jahre alt und von faszinierender Hässlichkeit.
In der Nationalversammlung erhob er mit Inbrunst seine Stimme gegen politischen Dilettantismus und permanent ausufernde Verschwendungssucht, aber genauso auch gegen Höflinge, die er sogar beim Namen nannte und als »Parasiten« schmähte. Eine schneidige Haltung, die ihm viel Lob einbrachte.
In der Hauptsache hatte er jedoch der Gleichgültigkeit des Adels gegenüber den erbärmlichen Lebensumständen des »niederen Volkes« den Kampf angesagt.
Kein Wunder, dass Männer wie Danton, Desmoulins, Marat und viele andere ihn bewunderten. Je heißer es in den Debatten herging, desto wohler fühlte sich der streitbare Comte. Der König allerdings zählte nicht unbedingt zu seinen Freunden – aus begreiflichen Gründen.
Der Kopf des Grafen schien zu groß; dazu besaß er ein mit tiefen Pockennarben übersätes Gesicht. Woher der Eindruck stammte, war schwer zu sagen, aber irgendwie wirkte sein ganzer Körper missgestaltet. Vielleicht lag es an seiner »verbogenen« Körperhaltung …
Beim Gehen wirkten seine Beine merkwürdig verknotet und seltsamerweise stand eine Schulter immer höher als die andere – ohne dass Mirabeau an einer Verkrümmung des Rückgrats litt. Aller Mängel ungeachtet verfügte der Comte – seltsamerweise – bei Männern und Frauen über eine beinahe dämonische Anziehungskraft.
Fast alle, die seine Bekanntschaft machten, behaupteten anschließend, der Comte de Mirabeau verfüge über starke magische, ja, man könne sagen, diabolische Kräfte.
In den Salons des Adels und der Reichen machte sich das Gerücht breit, Graf Honoré sei mit maßloser sexueller Gier ausgestattet und einer nahezu unerschöpflichen Potenz. Was gar die Beschreibung seines angeblich nimmermüden Geschlechtsteils anbelangte, kolportierte man die unglaublichsten Angaben was Umfang, Länge, Standfestigkeit und Ausdauer anbetraf …
Die Herren vernahmen diese Mären mit ausgesprochenem Unbehagen und quittierten sie mit Verlegenheitslächeln. Unbestritten aber war, dass Damen aller Altersklassen sich um den Aristokraten als interessanten Gast bei ihren Abendempfängen rissen und die Ehemänner ihn mit scheelen Blicken beäugten.
Wer ihn näher kannte, war verblüfft über die ordinäre Gossensprache, die er mit Vorliebe benutzte. Um zu provozieren, bediente er sich ganz bewusst selbst in eleganten Kreisen einer obszönen Ausdrucksweise und freute sich diebisch, sobald er andere damit schockieren konnte.
So sehr er es genoss, sich in vornehmen Salons als gefeierter Mittelpunkt zu fühlen, so liebte er es andererseits, sich privat mit Menschen niedrigster Kategorie einzulassen. Aber das war für einen Aristokraten durchaus nicht so ungewöhnlich: Hatte sich doch Ludwig XV., der Vorgänger des jetzigen Königs, keineswegs gescheut, sogar seine Mätresse, die spätere Gräfin Dubarry, aus einem öffentlichen Bordell zu holen …
Armand Lavalle lachte schallend, als ihn sein Freund Hubert Aubriac darauf aufmerksam machte.
»Das Beste ist allerdings, dass der Comte so überaus hochgebildet ist«, fuhr Hubert fort, nachdem Armand sich von seinem Lachanfall erholt hatte. »Man sagt, er verstehe es, klassische Literatur aus dem Altgriechischen und Lateinischen ins Französische zu übertragen. Außerdem erzählt man sich, er lese das Alte Testament auf Hebräisch und verfasse zudem selbst viele gelehrte Texte.«
»Interessant«, murmelte Armand, »sehr interessant! Aber was mich ein wenig stutzig macht, mein lieber Hubert, ist seine angeblich enge Freundschaft mit dem Marquis de Sade! Man behauptet, die zwei Herren verbinde eine geradezu verblüffende Wesensverwandtschaft.«
»Nun, wahr ist jedenfalls, dass beide Herren Gegner der Monarchie in ihrer jetzigen Form sind und beständig gefährlich aufrührerische Reden im Munde führen. Und was de Sade anbelangt, so hat der Marquis sogar schon etliche Jahre im Gefängnis verbracht, weil er in seiner sexuellen Unersättlichkeit bereits mehrere Morde auf dem Gewissen hatte!«
Diese Äußerung Aubriacs war dazu angetan, Armand Lavalle in höchstem Maße zu alarmieren. Fühlte er sich doch sofort an den Seinemörder erinnert …
»Erzähl mir mehr davon«, forderte er seinen Freund auf.
»Nun, ein paar Huren soll er schon in jungen Jahren mit einem selbst gebrauten Aphrodisiakum umgebracht haben, das er ihnen einflößte, um sie »schärfer« zu machen. Aber er verrechnete sich wohl bei der Dosierung der gefährlichen Substanzen und die Weiber sind elend an dem Gift krepiert.«
»Wieso kam er dann als mehrfacher Mörder mit einigen Jahren Kerker davon?«, empörte sich Lavalle.
»Mein lieber Freund! Der Marquis ist ein Edelmann und seine Opfer waren gewöhnliche Nutten! Das erklärt doch wohl hinreichend die Milde der Richter. Außerdem trat er seinerzeit nach dem Tod der Huren die Flucht nach Italien an, um der französischen Justiz zu entgehen.
Als er nach Jahren nach Frankreich zurückkehrte, wurde er prompt in Haft genommen. Aber der Zorn des Königs war mittlerweile längst verraucht.«
Hubert Aubriac konnte sich eines Lachanfalls nicht mehr erwehren. »Ludwig XV., der bekanntermaßen selbst ein ziemliches Ferkel war, brauchte den Marquis de Sade und sein exquisites Talent bezüglich der Arrangements sexueller Orgien«, kicherte er. »Da hatten sich gleichfalls zwei Seelenverwandte gefunden …«
Armand Lavalle beschloss, die Herren de Sade und Mirabeau in der nächsten Zeit ganz genau im Auge zu behalten. Als Hubert ihm noch so ganz nebenbei mitteilte, dass de Sade derzeit erneut hinter Gittern verweile, in der alten Bastille nämlich, atmete er heimlich auf.
Das enthob ihn zumindest der Sorge, gleich zwei mögliche Seinemörder auf einmal beobachten zu müssen. Mirabeaus Observierung hingegen traute er sich ohne Weiteres alleine zu. Wozu Staub aufwirbeln, indem er andere Kommissare oder Uniformierte hinzuzog?
Das Elend der Massen verringerte sich keineswegs. Im Gegenteil! Davon erhielt der Kommissar gleich morgens, als er zum Dienst eilte, eine Lektion. Die Straße, die an der Seine entlang zur Conciergerie führte, war heillos verstopft.
›Jetzt kommt es schon in aller Öffentlichkeit wegen Brot und anderen Lebensmitteln zu tätlichen Auseinandersetzungen zwischen Tagelöhnern und Handwerkern‹, dachte Lavalle deprimiert. Es machte ihn traurig, mit anzusehen, wie für gewöhnlich friedliebende Zeitgenossen plötzlich zu brutalen und unberechenbaren Schlägern mutierten.
Wie durch ein Wunder gelang es ihm, den Aufruhr vor einem Bäckerladen zu beenden. Einige der enttäuschten Kunden, die leer ausgingen, kannten ihn als aufrechten und vor allem gerechten Ordnungshüter. Nach einer kurzen Ansprache seinerseits gingen die Leute nach Hause. Er hatte ihnen die schlichte Wahrheit gesagt:
»Leute, bedenkt doch, der Meister würde gerne mehr Brot backen und es an euch verkaufen! Dass seine Regale leer sind, heißt doch nicht, dass er euch hungern lassen will. Er büßt doch Geld ein, wenn er keine Geschäfte mit euch macht. Er hat kein Mehl! So einfach ist das! Und das ist keineswegs seine Schuld. Er wird von den Mühlen kaum noch beliefert. Etwas, das kein Bäcker zu verantworten hat, sondern ganz andere Leute!«
Er wagte sich damit zwar weit aus dem Fenster, aber was sollte er machen?
Mühlen, Bäckereien, Metzgereien und Lebensmittelläden wurden tagtäglich von der Menge geplündert und verwüstet. Die Polizei konnte gar nicht zu allen Schauplätzen gewalttätiger Übergriffe eilen. Diesen Aufruhr aber wollte er unbedingt verhindern. Und es gelang ihm.
Lange Schlangen von Hungernden vor den Geschäften gehörten inzwischen zum normalen Straßenbild. Wer etwas Essbares ergatterte, hielt es eisern fest und hätte lieber sein Leben geopfert, als etwa einen Laib Brot oder einen Kohlkopf mit einem anderen zu teilen oder ihn gar herzugeben. Es herrschte ja nicht allein Mangel an Brot. Auch Gemüse und Obst wurde für die ärmeren Schichten der Bevölkerung von Tag zu Tag unbezahlbarer.
Im Faubourg Saint-Martin, einer Pariser Vorstadt, wohnte ein Bekannter Lavalles in einem schäbigen Dachstübchen. Der Kommissar beschloss, ihn wieder einmal aufzusuchen.
Pierre Le Croix, ein junger, noch ziemlich erfolgloser Dichter, freute sich über den Besuch und kündigte unheilschwanger an, ihm etwas zeigen zu wollen, was ihn als Polizeikommissar gewiss interessieren werde.
»Na, los«, ermunterte Armand ihn, »mach’s nicht so spannend, Pierre! Was ist es denn, was du mir zu zeigen hast?«
Aber sein Bekannter ließ die Katze nicht aus dem Sack. Er tat so geheimnisvoll, dass Lavalle bereits glaubte, es müsse sich um grauenhafte Mordtaten handeln, die La Croix entdeckt habe. Hatte das Ganze womöglich etwas mit dem »Phantom der Seine« zu tun, womit der »Ami du Peuple« beinahe jeden Tag seine Leser schockierte, in dem er grausige Details veröffentlichte, wobei der Kommissar sich fragte, woher Marat sie bezog.
Kommissar Lavalle musste in den Keller des Hauses, das einem wohlhabenden Gemüsehändler gehörte, dessen Vorräte schier unerschöpflich schienen, hinuntersteigen.
Dem Poeten war es seltsam vorgekommen, woher der Händler all die Kohlköpfe, die Karotten, Artischocken, Rüben, Salatköpfe und Äpfel bezog, die seine Schwester und deren Mann in den Markthallen von Paris verkauften. Es zeigte sich, dass es in diesem Keller eine Geheimtür gab. Sie führte in einen langen unterirdischen Gang, den die Steinbrecher in uralter Zeit um Paris und unter der Stadt ausgehauen und -gegraben hatten, um den berühmten Pariser Sandstein zu fördern.
»Von diesen alten Gängen habe ich schon gehört. Ich weiß auch, dass man vor einem Jahr die Gebeine eines großen Pariser Friedhofs, mitten in der Stadt, ausgegraben und in den unterirdischen Höhlen versenkt hat. Seitdem nennt man sie ›Katakomben‹. Willst du mir etwa diese alten Knochenhaufen zeigen, Pierre?«
Der Kommissar klang enttäuscht.
»Keine Angst, nichts dergleichen habe ich vor!«, beruhigte ihn sein Freund. »Diese Totenkeller befinden sich nicht unter dem Haus, in dem ich wohne. Lass uns weiter gehen!«
Armand und Pierre marschierten eine ganze Weile lang und der Kommissar fragte sich allmählich, was das Ganze sollte. Es war durchaus nicht sehr gemütlich da unten, sondern ziemlich finster, kalt und feucht. Zudem war der Boden reichlich uneben. Nur etwa alle zehn Meter brannte zu ihren Füßen ein winziges Talglämpchen – dicht an der Wand platziert – und spendete spärliches Licht.
»Dieser Keller steht mit einem geräumigen Gewölbe in Verbindung, das durch lange verwinkelte Gänge zu den Steingruben bei den Buttes de Chaumont in der Nähe von Pantin führt«, erklärte Pierre plötzlich. Er schien den wachsenden Ärger seines Freundes zu spüren und bequemte sich endlich zu einer Erklärung.
»Aha! Und was ist so spannend an dieser Tatsache?«
Lavalle unterdrückte ein Gähnen.
»Dieser unterirdische Gang ermöglicht es meinem Hauswirt seit Jahren, Gemüse und Obst aus Pantin zu beziehen, ohne die hohen Zollgebühren an der Stadtgrenze von Paris zu entrichten! So hat er im Laufe der Zeit eine Menge Geld gespart, das rechtens der Stadt Paris gehört! Na, was sagst du nun?«
Triumphierend schaute der Dichter seinem Freund ins Gesicht.
Oha! Lavalle war sich gleich darüber im Klaren, dass er das melden und weiterverfolgen musste. Immerhin war dies ein satter Betrug, ein Vergehen, das er nicht auf sich beruhen lassen durfte. Er lobte Pierre Le Croix zwar für seine Wachsamkeit; insgeheim aber ärgerte er sich auch ein bisschen darüber. Würde ihn diese dumme Geschichte etwa von der Lösung des viel brisanteren Falls des brutalen »Seinemörders« ablenken? Dass da ein Zusammenhang bestehen könnte, vermochte er beim besten Willen nicht zu erkennen.
Spontan beschloss Armand Lavalle, die heikle, aber uninteressante Angelegenheit an einen Untergebenen zu delegieren.
Städtische Arbeiter, verantwortlich für die Sauberhaltung der Seine – was im Grunde nur bedeutete, die Stauwehre und Auffanggitter der Schleusen hin und wieder vom gröbsten Unrat zu befreien – hatten am Vormittag am Flussabschnitt Saint Antoine erneut eine grausige Entdeckung gemacht.
Wieder war das Opfer ein junger Mann, den man ermordet, ausgeweidet, kastriert und durch Häuten des Kopfes unkenntlich gemacht hatte. »Und wie all die anderen Male vorher auch, tappt auch dieses Mal unsere unfähige Polizei völlig im Dunkeln«, schrieb der »Ami du Peuple« gehässig.
Armand war zwar beinahe sicher, dass es auch nach dieser grässlichen Untat immer noch nicht zu einer direkten Festnahme des Täters käme. Dennoch vermutete er, zum ersten Mal eine minimale Spur zu besitzen, der nachzugehen sich lohnen könnte. Der sogenannte Tipp, den er vor Tagen von einem seiner Informanten erhalten hatte, hatte leider wieder einmal in einer Sackgasse geendet. Aber dieser hier schien ihm vielversprechender zu sein!
Seit Langem glaubte er daran, den abartigen Mörder unter Chirurgen oder Metzgern suchen zu müssen (wobei seiner Meinung nach auch ein Aristokrat fähig war, diese Tätigkeiten zu erlernen). In einer Großstadt wie Paris bedeutete die Suche danach allerdings eine wahre Sisyphusarbeit. Immerhin war dieses Mal der Fundort der Leiche in nächster Nähe einer der bekanntesten Schlachtereien dieses Faubourgs …
Vielleicht war der Täter des jüngsten Verbrechens ja in Eile gewesen und hatte sich möglichst schnell seines Opfers entledigt?
Vieles sprach auch dafür, dass der Mörder über anatomische Kenntnisse verfügte und »handwerkliches Geschick« im Gebrauch von scharf geschliffenen Messern, Skalpellen und Knochensägen besaß. Auch das verwendete rote Garn war ziemlich verräterisch: Beim Wurstmachen etwa band man die gestopften Därme damit ab.
Wenn er sich die Unzahl an Fleischern, Schlächtern, Ärzten, Feldschern, Badern und Chirurgen vorstellte, die es zu überprüfen galt, wurde ihm allerdings fast schwindlig. Selbst jeder Bauer, Schäfer und Viehzüchter, von denen es am Stadtrand und in der Umgebung von Paris noch genügend gab, vermochte mit einem Schlachtermesser umzugehen …
Lavalle beschloss, wenigstens die in diesem Vorort an der Seine gelegenen Metzgereien und Schlachtereien unauffällig zu beobachten und sie überdies von Polizisten im Auge behalten zu lassen. Letzteres bewertete er allerdings mit Skepsis; konnte er den Männern doch keinen konkreten Auftrag erteilen, da er selbst nur eine äußerst vage Ahnung besaß.
Um sein wahres Interesse zu kaschieren, beschloss er, nur von gewissen »Verdachtsmomenten« zu sprechen, die darauf hindeuteten, diese Läden könnten »eventuell Opfer von politisch motiviertem Vandalismus« werden.
In diesen bewegten Zeiten war das ja nicht von der Hand zu weisen, wie etliche Bäckereien, deren Meister schon ermordet worden waren, bereits bezeugten. Dass man die Fleischhauer bisher in Ruhe gelassen hatte, war wohl dem Wissen geschuldet, dass Schlachtermeister und Metzgerburschen nicht gerade zu den Schwächsten gehörten und ausgezeichnet mit Messern und Beilen umzugehen verstanden …
Bei dem, was Armand bis jetzt herausgefunden zu haben glaubte, war es noch viel zu früh, um von einem konkreten Anhaltspunkt zu sprechen. Noch längst war keine einzige Person hinreichend verdächtig, um sie festnehmen zu lassen – nicht einmal zu einer Befragung auf dem Kommissariat reichte es. Aber immerhin sagte ihm sein Gefühl zum ersten Mal, dass es da irgendetwas gab.
Vorläufig unterließ er es auch, mit seinem Freund Aubriac darüber zu sprechen, von seinen Vorgesetzten ganz zu schweigen. Die Möglichkeit einer Blamage war einfach zu groß. Allerdings fühlte er sich ermuntert, diese winzige Spur weiter zu verfolgen. Sein Jagdinstinkt, den Armand bereits verloren geglaubt hatte, war aufs Neue erwacht.
Dass er sich besser als seit Langem fühlte, hing vermutlich mit seinem Erfolg in einer ganz anderen, aber ähnlich grauenhaften Geschichte zusammen; mit einem Mordfall, dessen Aufklärung einem wahren Paukenschlag geglichen hatte.