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Prolog, 29. Mai 1789

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Schon seit Tagen fühlte er sich unwohl. Erneut hatte die gewohnte Unrast von ihm Besitz ergriffen; eine Unrast, die es ihm beinahe unmöglich machte, seinen vielfältigen Aufgaben nachzukommen. Wie gefesselt, wie geknebelt kam er sich vor. Es erschien ihm fast unmöglich, es auch noch einen Augenblick länger in seinem gewohnten Umfeld auszuhalten. Mit aller Macht drängte es ihn hinaus, ins Freie, in die Anonymität der Stadt, unter Menschen! Und nicht etwa, weil es ihm in seiner gewohnten Umgebung an solchen gemangelt hätte.

Aus gewissen Gründen kam jedoch keiner von denen für ihn infrage. Auf dem vertrauten Terrain, auf dem er zwar souverän die Spielregeln bestimmte, war es unmöglich, jemanden zu finden, der seine Vorgaben auch nur annähernd erfüllte. Und selbst wenn – es wäre viel zu riskant gewesen.

»Geschmackloses junges Gemüse, oder verdorbenes altes Unkraut«, dachte er verächtlich. »Nichts, das auch nur halbwegs in der Lage wäre, meinen Ansprüchen auch nur ansatzweise zu genügen.«

Erschwerend gesellte sich die Tatsache hinzu, dass er sich in seinem gesellschaftlichen und beruflichen Umfeld keinen Fehler erlauben durfte. Viel zu sehr stand er im Fokus zahlreicher hochgestellter Persönlichkeiten; und was die Domestiken anbetraf, so mochten sie in seinen Augen zwar alberne Tröpfe sein – unterschätzen durfte er sie keineswegs.

Zunehmend litt er Höllenqualen. Am liebsten hätte er alles hinter sich gelassen; wäre einfach wieder für eine gewisse Zeit in seine andere Rolle geschlüpft, um sich von der nahezu unerträglichen Spannung zu befreien, die ihm mehr und mehr das Blut vergiftete und den Verstand vernebelte. Da seine Konzentration nachließ, unterliefen ihm bereits kleinere Missgeschicke – etwas, das er sich selbst am allerwenigsten verzieh.

Das Einzige, was ihn stets aufs Neue betroffen machte –, wenn auch immer erst »danach« –, war der Zwang, sich für die Erlangung seines Seelenfriedens mit Individuen abgeben zu müssen, die weit unter seinem intellektuellen und gesellschaftlichen Niveau rangierten. Trotz seiner tiefen Verachtung der Unterschicht war er stets aufs Neue gezwungen, jeweils für eine gewisse Zeit einzutauchen in jene dumpfe, bar jeglichen geistigen Anspruchs, gleichsam tierisch anmutende Lebensweise des Pariser Pöbels.

Dessen ungeachtet und vollkommen paradox: Er genoss diese Erniedrigung ungeheuer! Jedenfalls so lange, wie er befreit zu atmen vermochte. Der euphorische Zustand dauerte jeweils an bis zum nächsten Mal …

Er beschloss, sich innerhalb der kommenden Woche von allen Verpflichtungen frei zu machen, um den Überdruck abzubauen, der sich in seinem Inneren bis zur Unerträglichkeit anstaute. Sich davon zu befreien, hatte er im Laufe der Jahre perfektioniert. Er war sich sicher, jede Vorsichtsmaßnahme zu bedenken, sich keiner Nachlässigkeit schuldig zu machen – und daher niemals ertappt zu werden.

Wer nur den Hauch eines Gespürs für Veränderungen hatte, dem konnte nicht verborgen bleiben, dass es in Frankreich seit längerem heftig gärte. In Kürze würde das Pulverfass explodieren; es war nur zu hoffen, dass die sprühenden Funken sich nicht zu gewaltigen Feuergarben entwickelten, die niemand mehr zu löschen vermochte. Allzu viel hatte sich mittlerweile im Volk der Franzosen aufgestaut an Enttäuschung, Wut und Verzweiflung. Was im Einzelnen im Argen lag, wussten alle – auch diejenigen, die das Dilemma zu verantworten hatten.

Aber weder die Aristokratie noch die Geistlichkeit, die im Lande das Sagen hatten, dachten nur einen Augenblick daran, den Armen, Unterdrückten, Gedemütigten und Ausgebeuteten auch nur andeutungsweise entgegenzukommen. Im Gegenteil! Immer stärker drehte die Regierung Seiner Majestät, König Ludwigs XVI., an der Steuerschraube, immer höher wurden die Belastungen, die auf die Rücken der ohnehin schwer Gebeutelten aufgesattelt wurden. Wer einmal in der Schuldenfalle eines adligen Grundbesitzers saß, verfügte nie mehr auch nur über die allergeringste Aussicht, je wieder herauszufinden.

Das Proletariat wuchs beständig; ehemals biedere Handwerker verarmten und gesellten sich mehr und mehr zur besitzlosen Unterschicht. In ihrer Aussichtslosigkeit, irgendwann erneut auf die Beine zu kommen, ergaben sich viele der Trunksucht, wurden haltlos, sanken herab zu Bettlern und Dirnen.

Wer über mehr Energie verfügte, rutschte gewöhnlich schnell ab ins kriminelle Milieu. Es war eine Schraube, die sich unablässig nach unten drehte – so lange, bis der Boden erreicht war, der in den meisten Fällen den Hungertod oder das Ende am Galgen bedeutete.

Obwohl das schöne Frankreich in Dekadenz, maßloser Verschwendungssucht und kaum zu überbietender Menschenverachtung der herrschenden Klasse versank und nur noch Gier nach Prunk, minderwertigem Vergnügen und billiger Zerstreuung den Sinn des Daseins bestimmte: Die königliche Justiz funktionierte immer noch.

KOMMISSAR LAVALLE UND DER SEINEMÖRDER

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