Читать книгу KOMMISSAR LAVALLE UND DER SEINEMÖRDER - Karla Weigand - Страница 7

6. Juni 1789

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Commissaire Armand Lavalle pflegte im Allgemeinen während seiner Dienststunden möglichst wenig Zeit am Schreibtisch zu verbringen.

»Langweilige Protokolle anzufertigen und Berichte zu verfassen, gehört nicht unbedingt zu meinen Lieblingsbeschäftigungen«, pflegte er zu sagen. Er zog es vor, »vor Ort« herumzustreifen, wo die Verbrechen in aller Regel auch stattzufinden pflegten.

Unerkannt, in seiner schlichten, um nicht zu sagen schäbigen Kleidung, lief er stundenlang durch die Gassen von Paris, vor allem in den sozialen Brennpunkten der Stadt. Von ihnen gab es leider mehr als genug; nicht nur in der restlos überbevölkerten Innenstadt, sondern vor allem in den in den letzten Jahren entstandenen Außenbezirken – einst selbstständige Dörfer.

Aber das war in allen anderen Hauptstädten um kein Haar anders, wie er von Berichten aus London, Sankt Petersburg oder Madrid wusste. Unverhältnismäßig überreicher Zuzug vom Land vergrößerte die besitzlose Klasse, die sich zudem überproportional stark vermehrte. Not, Elend und in ihrem Gefolge Kriminalität verbreiteten sich schneller als früher üblich.

Armand entwickelte sich im Laufe der Jahre zu einem Meister im Beobachten. Ertappte er einen Dieb oder Einbrecher in flagranti, nahm er ihn in aller Regel nicht sofort fest; sondern verfolgte den Täter heimlich. Für gewöhnlich führte dieser ihn zu seinem Versteck, wo er das Diebesgut lagerte, um es später gewinnbringend loszuschlagen.

Auf diese Weise fand er nicht nur die Beute, sondern der Kommissar entlarvte häufig neben dem Dieb auch dessen Mittäter und den Hehler. Handelte es sich darum, Verbrecher in Gewahrsam zu nehmen, hielt Lavalle sich für gewöhnlich gerne im Hintergrund und ließ stattdessen seine uniformierten Polizisten in Aktion treten; sah er sich doch eher als Organisator der Verhaftung, ausführen durften sie andere; das Lob dafür gönnte er den Männern.

Das verschaffte ihm immerhin den großen Vorteil, dass die Ganoven ihn auch nach zehn Jahren noch nicht wirklich kannten. Dem Namen nach war er für sie ein rotes Tuch – meist handelte es sich um Kleinkriminelle, aber hin und wieder waren auch »große Fische« darunter.

Er verhielt sich so unauffällig, dass sie ihn als Person kaum zu beschreiben vermochten. Zudem veränderte er ständig sein Aussehen, was Haar- und Barttracht anbelangte, aber auch durch die Wahl seiner Kleidung und seiner Aussprache. Er war sprachbegabt und manche schworen, er sei ein Bretone; einige behaupteten, seinem Argot nach müsse er aus dem Osten von Paris stammen, während ihn wiederum andere gar für einen Südfranzosen hielten … Nicht selten wählte er eine Verkleidung als Handwerksbursche, als Mönch, als Bettler oder Pilger; hin und wieder mimte er einen Matrosen auf Landgang oder einen Gaukler.

Was Letzteres anbelangte, hatte ihm vor Jahren ein von ihm festgenommener und anschließend wieder laufen gelassener Ganove ein paar nette Kunststückchen beigebracht, sodass er durchaus als einer vom Fahrenden Volk durchgehen konnte.

Ginette lachte oft über seine Kapriolen, die er gelegentlich im Wald, wo ihn keiner beobachten konnte, vollführte und sorgfältig übte, um sie nicht zu verlernen: Das Feuer- oder Schwertschlucken etwa, das Balancieren auf einem zwischen zwei Baumstämmen gespannten Seil, das Laufen auf den Händen oder kunstvolle Salti vor- und rückwärts in der Luft.

Ein anderer Tunichtgut hatte ihm vor Jahren etliche Kartentricks beigebracht, die es ihm erlaubten, als durchaus ernst zu nehmender Betrüger Anspruch auf den »Respekt« diverser Mitglieder der Gaunerzunft zu erheben.

Es war dies eine kluge Vorgehensweise, die es ihm ermöglichte, auch in Winkel und Ecken der allzu dicht bebauten, labyrinthartig verwinkelten Stadt vorzudringen, wohin sich andere Kommissare gar nicht erst hinein wagten.

In den einschlägigen Lokalen und Treffpunkten der Gauner saß er mitten unter ihnen und trank sein Gläschen Roten. Gelegentlich schlugen ihm die schrägen Vögel sogar vor, bei ihren Raubzügen mitzumachen. Ein paar Male hatte Armand während eines Einbruchs in die Stadtvillen von Adligen, die selbst überwiegend auf dem Lande lebten, Schmiere gestanden.

Amüsiert beobachtete er dann seine Polizeikameraden dabei, wie sie zum richtigen Zeitpunkt auftauchten und die überrumpelten Gauner allesamt in flagranti verhafteten. Von den Kollegen zum Schein gleichfalls festgenommen und ziemlich unsanft behandelt, verdächtigte ihn keiner der Strolche jemals auch nur im Geringsten …

Auch an diesem sechsten Juni drängte es ihn – immer noch als Nachwirkung der niederschmetternden Unterredung mit seinem obersten Vorgesetzten – hinaus aus dem Kommissariat und an die frische Luft. Wenngleich diese zwar keineswegs so »frisch« war, sondern geradezu geschwängert mit ekligen Gerüchen aller Art:

Moder aus den durch Mauerschwamm ruinierten Hauswänden, Rauch aus halbverfallenen Schornsteinen, verdorbenem Fett von Garküchen, schalen Wein- und Bierdünsten, die aus minderwertigen Kneipen drangen, Kohlgestank aus Rattenlöchern, die sich als »Wohnungen« bezeichneten und dem »Duft« von Exkrementen, von Bewohnern einfach aus ihren Nachtgeschirren aus den Fenstern gekippt.

›Wie im finstersten Mittelalter‹, dachte Lavalle und schüttelte sich vor Ekel. Der Gegensatz zwischen den Stadtvierteln mit Bürgerhäusern und Adelspalästen und den Quartiers, wo das arme Volk hauste, war bereits auf den Gassen abzulesen, obschon beide oft nur wenige Meter voneinander getrennt waren. Lavalle wich gerade einer Magd aus, die mit Feuereifer einen Reisigbesen schwang, um den Platz vor dem Haus ihrer Herrschaft zu reinigen, obwohl dieser bereits vor Sauberkeit glänzte.

»Und vor den Hütten in den Elendsquartieren türmt sich der Müll haushoch auf«, murmelte er vor sich hin, »da keiner sich veranlasst sieht, den Dreck wegzufegen.«

Aber auch das sollte angeblich in anderen Großstädten um kein Haar anders sein.

Paris war überfüllt mit Menschen, während die Häuser zu klein und die Straßen viel zu eng waren. Er bog in eine Gasse ein, in die noch niemals ein Sonnenstrahl bis zum Erdboden durchgedrungen war, nicht einmal im Hochsommer. Die elenden Löcher, in denen die Ärmsten hausten, waren hoffnungslos überbelegt, dumpf und feucht. An den Wänden bildete sich giftiger Schimmel und im Winter gefror das Kondenswasser zu Eis, da die Bewohner zu wenig Holz hatten zum Verfeuern.

Er war beinahe im Kreis gelaufen und näherte sich nun dem Palais Royal, einem Gebäude, das ihm höchst suspekt war. Ursprünglich von Kardinal Richelieu – dem Premierminister Ludwigs XIII. – erbaut, gelangte es im Jahre 1780 in den Besitz des Herzogs Ludwig Philipp von Orléans. Der Herzog ließ den Palast vollständig umbauen.

Stets knapp bei Kasse, wandelte er ihn größtenteils in Mietwohnungen um. Im Erdgeschoß befanden sich nun Geschäfte, Restaurants, Spielsalons, ein Theater und ein Café. Letzteres war jetzt ein beliebter Treffpunkt revolutionär gesinnter Demagogen. Die ungewöhnliche Freizügigkeit dieses Ortes – die Polizei hatte keinen Zutritt zum Besitz des Herzogs von Orléans – genügte dem Kommissar, um das Palais Royal samt seinen Besuchern mit Skepsis zu betrachten. Beinahe jede Woche ließ er hämische Karikaturen des Königs und vor allem seiner Gemahlin Marie Antoinette von den Mauern des Palais’ entfernen.

Ziemlich zügig bahnte sich Lavalle seinen Weg durch das gemischte Publikum, das scheinbar ziellos durch die Gassen strich. Die meisten der ärmlich gekleideten, unterernährten Männer und Frauen schienen arbeitslos zu sein; manchem sah man den Gauner oder die Betrügerin schon von Weitem an …

Es war traurige Wirklichkeit, dass das Lumpenproletariat sich stetig vermehrte. Nachschub strömte zuhauf aus den französischen Provinzen und verstärkte den sozialen Druck auf die ohnehin schwer gebeutelte Hauptstadt. Realität war aber auch, dass die Regierung nicht die geringste Anstrengung unternahm, um das Elend, wenn schon nicht zu beenden, so doch wenigstens zu lindern.

Voll Unmut stellte Lavalle fest, dass durch die Rue de Valois kein Durchkommen mehr war. Die Menschenmenge staute sich auf. Noch wusste er nicht, weshalb. Gleich darauf erfuhr er von anderen Passanten, was der Grund für die Verzögerung war.

»Da vorn ist eine Bäckerei, die noch Backwaren zu verkaufen hat! Jetzt stehen die Leute Schlange, um noch ein Brot zu ergattern«, informierte wichtigtuerisch eine dicke Pariserin mit speckigem Kopftuch und ebensolcher Schürze ihre Umgebung. Sie selbst hatte augenscheinlich noch einen der begehrten Laibe erkämpft. Krampfhaft hielt sie ihre Beute fest an den Busen gepresst.

»Direkt vor dem Eingang kam es zu einer Prügelei«, verkündete ein entgegenkommender, etwa vierzigjähriger hagerer Mann in langen Hosen und ebensolcher Jacke, offenbar ein arbeitsloser Handwerker. »Das Brot ist fast alle; der Meister hatte zu wenig Mehl, um für alle hungrigen Mäuler zu backen. Um die letzten Wecken ist ein heißer Kampf entbrannt. Einer der Kunden, der mehrere hat kaufen wollen, ist von einem anderen, dem der Ladenbesitzer gar kein Brot geben wollte, mit einem Messer angegriffen worden!«

Das klang gar nicht gut. Als eine weitere Stimme – wiederum eine weibliche – den Wartenden kreischend kundtat, dass der Bäckerladen voller Blut sei, weil einer den Bäckermeister niedergestochen habe aus Wut, weil die Regale bereits leer seien, da wusste Armand Lavalle, dass es nun an ihm lag, für Recht und Ordnung zu sorgen.

Zum Glück trabten auch schon uniformierte Polizisten heran, angelockt durch den ungewöhnlichen Menschenauflauf. Mit ihrer Hilfe kämpfte Lavalle sich bis zu der betreffenden Bäckerei durch. Nur unwillig ließen die Hungrigen, die wieder einmal leer ausgehen sollten, den Kommissar und seine Kollegen passieren. Hinter seinem Rücken hörte Armand Fluchen und Schimpfen, nachdem einer der Uniformierten »Im Namen des Königs! Leute, gebt den Weg frei!« gerufen hatte.

»Scheiß auf den König!«, rief einer unüberhörbar laut und die Menge applaudierte ihm. »Er soll uns und unseren Kindern endlich Brot geben! Meine Kleinen weinen von morgens bis abends vor Hunger und in Versailles frisst das fette Schwein sich voll!«

Die Meute johlte. Als eine jüngere, armselig gekleidete Frau wütend und mit höhnisch-provozierendem Seitenblick auf die Polizisten plärrte: »Der Teufel soll Ludwig holen und seine mit Schmuck behängte, österreichische Hure gleich mit dazu!«, kannte die Begeisterung keine Grenzen.

Armand und seine Helfer bekamen bei ihrem Versuch, zu dem Laden vorzudringen, sogar einige Püffe ab …

›Ein bestürzendes Beispiel, wie wenig den einfachen Menschen der König noch gilt‹, dachte Armand. ›Seine Majestät sollte selbst einmal hören, wie unbeliebt er inzwischen beim Volk ist. Womöglich würde er dann endlich dafür sorgen, dass die Verschwendung am Hof drastisch eingedämmt wird.‹

Angeblich – der »Ami du Peuple«, dieses antimonarchistische Hetzblatt, sorgte für Verbreitung dieses Gerüchts – verfütterten die Königin und ihre Hofdamen feinstes Weizenbrot an ihre Schoßhündchen und Katzen; während für die Armen von Paris nicht einmal mehr das dunkle, klumpige, mit allerlei Zusatzstoffen, wie etwa Runkelrüben und Kleie, versetzte Brot in ausreichender Menge vorhanden sei. Und falls es welches zu kaufen gäbe, handele es sich meist um altbackene Kanten oder um schimmliges Zeug, das ein Adliger nicht einmal seinen Gäulen zum Fressen zumute …

Der Herausgeber des Blattes war Jean-Paul Marat, ein ehemaliger Arzt und vollkommen humorloser Mensch finstersten Charakters, ein rabiater Gegner der Monarchie und der Aristokratie überhaupt. Der bloße Gedanke an ihn versetzte Armand Lavalle jedes Mal in Alarmstimmung. Marat trug das Potenzial in sich, die Volksmassen zum gefährlichen Aufruhr anzustacheln – und er wusste das auch.

Die Armen kannten Marat und verehrten ihn. Es gab auch nicht einen einzigen Pariser, der die Geschichte anlässlich der Feiern zur Hochzeit des Königs mit der verhassten Österreicherin, Marie Antoinette, nicht in- und auswendig kannte.

Anlässlich des bombastischen Feuerwerks für die Pariser Einwohnerschaft hatte sich damals ein folgenschwerer Unfall ereignet. Armand erinnerte sich der dramatischen Schilderungen: Durch einen unglücklichen Zufall entzündeten sich alle dreihundert Feuerwerkskörper auf einmal! Der ohrenbetäubende Knall versetzte die Pferde der Reichen, die von ihren Kutschen aus dem Spektakel zusehen wollten, in Panik.

Nächststehende wurden niedergetrampelt und unter den Wagenrädern zerquetscht. Riesige Feuergarben schossen unkontrolliert umher und ließen Perücken und Kleidungsstücke der Zuschauer, sowie Schweife und Mähnen der Pferde in Flammen aufgehen.

In Paris gab es damals in der Stadtmitte etliche Baustellen mit Gruben, die man zwar oberflächlich zugedeckt, aber nicht genügend gesichert hatte. Bei der ausbrechenden Massenpanik gaben die provisorischen Abdeckungen sofort nach; Menschen, Tiere und Kutschen stürzten in die Bauschächte und es gab Dutzende von Toten und Hunderte von Schwer- und Schwerstverletzten.

In dieser Nacht des Schreckens war jeder verfügbare Arzt zur Stelle, desgleichen alle Feldscher und Bader; selbst Hebammen und Apotheker leisteten Erste Hilfe. Die Ärzte mussten ein blutiges Handwerk verrichten: Sie amputierten verbrannte und zerquetschte Gliedmaßen; in den seltensten Fällen genügten ein simpler Wundverband oder eine Schiene.

Jeder Mediziner postierte sich an einer Straßenecke und ließ sich von den Helfern die Schwerverletzten, die erst mühsam aus den Gruben geborgen werden mussten, zur Behandlung heranschleppen.

Auch der damals noch als Arzt praktizierende Jean-Paul Marat beteiligte sich an den Rettungsarbeiten. Die chirurgischen Eingriffe erledigte er rasch, kompetent und schweigsam.

Die Burschen, die ihm die Patienten herbeischafften, ließen daher vor Schreck beinahe ihr schwer verletztes Opfer fallen, als der Doktor sie unversehens anbrüllte: »Aus meinen Augen mit dem elenden Aristokratenschwein!«

Augenzeugen zufolge hatte Marat im Fackelschein, die blutverschmierte Knochensäge in der Hand, die Augen vor Zorn sprühend, so gar nichts mehr von einem barmherzigen Samariter an sich gehabt.

»Ich behandle nur Menschen!«, schrie er die verdutzten Männer an.

Einer der jungen Helfer begann zu stottern: »Aber, aber, Monsieur …«

Worauf ihm Doktor Marat barsch das Wort abschnitt: »Merk dir, Junge, für das Adelspack rühre ich keinen Finger. Das soll meinetwegen verrecken!«

Aber so schnell, wie er explodiert war, so unvermittelt hatte er sich zum Glück auch wieder beruhigt. »Tragt den Mann zur nächsten Straßenecke; der Kollege dort kann ihn behandeln. Mir aber bringt nur Menschen, wie ihr selbst welche seid!«

Und dann hatte er noch streng hinzugefügt: »Und mit Pfaffen bleibt mir auch vom Leib!«

Sooft Armand Lavalle seitdem Marats Namen hörte, musste er an diesen makabren Vorfall denken.

»Wundere dich nicht, mon Ami, wenn du eines Tages aufwachst und in Paris ist eine Revolution ausgebrochen!« Das hatte sein Freund Hubert Aubriac schon ein Dutzend Mal zu ihm gesagt …

Als er und die uniformierten Ordnungshüter sich endlich bis zu der betreffenden Bäckerei durchgekämpft hatten, sah es für den Meister übel aus. Er hatte – als Quittung dafür, dass er sich in die Rauferei unter der Kundschaft eingemischt hatte – einen Messerstich in die Brust abbekommen und lag in einer riesigen Blutlache hinter der Tür.

Armand hatte Mühe, die Bäckersfrau, die sich laut schluchzend über ihren Ehemann geworfen hatte, von dem Schwerverletzten wegzuzerren. Womöglich war dem Mann doch noch zu helfen.

Aber diese Hoffnung erwies sich alsbald als trügerisch. Sobald sich auch die gaffende Menge dessen bewusst war, suchte sie blitzschnell das Weite. Auf die Aufforderung der Polizisten, sofort stehen zu bleiben, reagierten die Leute mit verächtlichem Auflachen und beeilten sich umso mehr, zu verschwinden.

Wer von denen wollte schon mit der Polizei zu tun haben? Selbst wenn der Kommissar sie von seinen Männern verfolgen ließe und sie dann zu dem Vorfall befragte, hätte kein einziger etwas gesehen …

Armand seufzte unwillkürlich, als er an vergangene Woche dachte, als ein anderer Meister des Backgewerbes von der wütenden Menge gelyncht worden war. Sie hatte den armen Mann, der buchstäblich keinen Krümel Mehl mehr in seinem Backtrog hatte, am nächsten Laternenpfahl aufgeknüpft. Als er schließlich mit zwei Gendarmen angerückt war, hatte sich natürlich kein einziger Zeuge mehr am Tatort aufgehalten.

Lavalles nächster Weg führte ihn zum Marché aux Fleurs, wo Ginette an einem Stand mit ihrer Großmutter Blumen und Gestecke verkaufte. Die Geschäfte gingen ausgesprochen schleppend. Die Bevölkerungsschicht, die sich Sträuße und Gebinde leisten konnte, war inzwischen merklich geschrumpft. Viele Aristokraten zogen es vor, sich auf ihre Landgüter zurückzuziehen.

»Wer heutzutage sich oder seiner Angebeteten noch einen Strauß Blumen gönnt, spart an der Anzahl der Blütenstängel; die verlangten Sträuße sind weniger und vor allem deutlich magerer geworden«, beklagte sich Grand-mère Céléstine bei Armand. »Und auf die so genannten »Assignaten«, mit denen man uns bezahlen will, pfeife ich!«

Dabei handelte es sich nämlich um Papiergeld, das nichts wert war und von der Bevölkerung auch nicht akzeptiert wurde: Denen galt nur Gold und Silber etwas. Assignaten waren Anweisungen auf die Nationalgüter Frankreichs und trugen neben ihrem aufgedruckten »Wert« noch den Kopf des Königs.

Auch Lavalle hatte sich anfangs gefragt, was es mit diesen »Nationalgütern« auf sich habe. Sein Chef, Émile Béguin, klärte ihn auf: »Darunter versteht man unter anderem die Besitztümer der Geistlichkeit und der Klöster, die man noch enteignen will.«

Alle diese Dinge und Liegenschaften forderte das Vaterland jetzt zurück als Gabe, die ihm rechtmäßig zustand, um die enormen Auslandsschulden zu tilgen, die beispielsweise der Amerikanische Bürgerkrieg verursacht hatte. Ausgedacht hatte sich die Assignaten der Schweizer Finanzminister Jacques Necker und der Comte de Mirabeau pries die Idee als geradezu grandios!

»Die Liebe zum Vaterland«, tönte er in zahlreichen Reden vor der Nationalversammlung – nachzulesen im »Ami du Peuple« und im Kommissariat von Aubriac genüsslich vorgetragen –, »ist die höchste aller Bürgertugenden! Und wenn das Vaterland Opfer verlangt, haben sich ihm alle anderen Tugenden zu beugen, etwa die Gerechtigkeit oder die Religion!«

»Versteht sich, dass sich die meisten Geistlichen gegen die Enteignung von wertvollen Kunstgegenständen, Schenkungen und Schätzen aller Art zur Wehr setzen!« Etliche von Lavalles Kameraden grinsten schadenfroh.

Lavalle und sie rechneten allerdings noch mit massivem Ärger, den man bei der Durchsetzung dieser von den Betroffenen als »dreisten Raub« empfundenen Enteignung, erleben werde. Ausbaden müssten er und seine Kollegen das Ganze.

Aber er wischte den Gedanken daran beiseite und wandte sich seiner Liebsten zu. Ginette verzog ihren Mund mit den vollen roten Lippen zu einer Schnute. »Ich weiß überhaupt nicht, wofür ich mir die Beine in den Leib stehe – es kommt ja doch kein einziger Kunde«, beschwerte auch sie sich bei ihrem Verlobten. Kritisch musterte sie ihren Freund.

»Bist du wieder auf der Suche nach einem Übeltäter?«, fragte sie leicht verdrießlich. »So wie du herumläufst, könnte man glauben, du wärest ein Obdachloser!«

Armand wusste, dass sie mit ihm vor den anderen Blumenverkäuferinnen angeben wollte – aber in seinem üblichen Aufzug, wenn er auf Verbrecherjagd ging, machte er leider nicht allzu viel her …

»Ich komme zufällig vorbei, Ginette, und wollte dir und Grand-maman nur schnell ›Bonjour‹ sagen«, entschuldigte er sich. »Ein schneller Kuss, Chérie, und du bist mich wieder los!« Armand umarmte Ginette und machte Anstalten, sie auf den Mund zu küssen. Aber sie drehte flink ihren Kopf zur Seite und riss sich von ihm los.

»Das könnte dir so passen, Filou! Mich vor allen Leuten zu küssen! Das schickt sich nicht, mon Ami! Was sollen denn all die Damen von mir denken?« Sie zeigte mit dem Finger auf die feixenden Blumenfrauen, die neugierig zu ihrem Stand herüberlugten. »Großmama und ich sind schließlich etwas Besonderes!«

Die Alte lachte verschmitzt und nickte beifällig. Armand wusste, worauf seine Liebste anspielte. Céléstine und Régine waren von den Pariser Marktfrauen ausgewählt worden, in Versailles – wie üblich – der Königin zu ihrem letzten Geburtstag am zweiten November vergangenen Jahres einen riesigen Blumenstrauß zu überreichen. Der Festakt sollte jedoch – ebenfalls wie üblich – mitten im Sommer stattfinden, weil es da die schönsten Blumen gab.

Mochte Marie Antoinette mittlerweile bei einem großen Teil des Volkes noch so unbeliebt sein: die Königin persönlich zu sehen, ein paar Worte mit ihr zu wechseln und ihr gar ein Geschenk überreichen zu dürfen, galt dennoch immer noch als höchst exquisite Auszeichnung. Die anderen Weiber beneideten die beiden darum.

Dass Ginette ihre Worte nicht ganz ernst meinte, konnte Lavalle daran erkennen, dass das reizende Blumenmädchen im blauen Rock, mit der strammen Korsage über der weit ausgeschnittenen Bluse und der weißen Schürze und dem kecken kleinen Häubchen, ihm gleich darauf die Arme um den Hals legte und ihm zärtlich auf beide Wangen einen Kuss aufdrückte. Sofort rückte sie danach von ihm ab, versetzte ihm einen Klaps auf die vorwitzige Hand, die er heimlich um eine ihrer Brüste gelegt hatte, und verabschiedete ihn nun endgültig.

»Mach dich an die Arbeit, Faulpelz! Fang’ Diebe und andere Strolche und versuch’ ja nicht, ehrbare Weiber zu verführen!«

Ginettes Großmutter und die zunächst stehenden Marktfrauen, die das übliche Geplänkel der beiden Verliebten mit Vergnügen verfolgten, lachten herzlich, drohten ihm aber scherzhaft mit dem Finger, während die rot gewordene Ginette sich den Anschein gekränkter Unschuld gab. Lavalle machte lieber, dass er davonkam.

KOMMISSAR LAVALLE UND DER SEINEMÖRDER

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